Einleitung
PraxisIm vorstehenden Kapitel wurden die Lohnstrukturerhebung (LSE) und die Funktionsweise der Tabellenlohnabzüge im Rahmen der Invaliditätsbemessung dargestellt. In diesem Teil wird für den Tabellenlohnabzug – wie schon für den «in Betracht kommenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt» – die höchstrichterliche Rechtsprechung detailliert und systematisiert dargestellt.
Überprüfung der TheseZudem soll anhand der im Internet öffentlich zugänglichen bundesgerichtlichen Praxis (grösstenteils ab dem Jahr 2001) die im Kapitel D dargestellte Funktionsweise, gemäss welcher mittels des Korrekturinstruments des Tabellenlohnabzuges lohnmindernde, persönliche und berufliche Merkmale berücksichtigt werden (Rz. 310–313), überprüft werden.
Geschichte des Tabellenlohnabzugs
Schwerarbeiter-
AbzugUrsprünglich war der Tabellenlohnabzug für Personen vorgesehen, die nicht mehr in der Lage waren, die früher ausgeübte körperliche Schwerarbeit wieder aufzunehmen. Das Eidgenössische Versicherungsgericht anerkannte in langjähriger Praxis, dass Versicherte, die in ihrer letzten Tätigkeit körperliche Schwerarbeit verrichtet hatten und nach Eintritt des Gesundheitsschadens auch für leichtere Arbeiten nur beschränkt einsatzfähig waren, in der Regel das durchschnittliche Lohnniveau gesunder Hilfsarbeiter nicht erreichen konnten, weshalb es den Tabellenlohn pauschal um 25 % herabsetzte.
Ausweitung auf «behinderungsbedingten Abzug»Im Laufe der Zeit stellte das Gericht fest, dass sich die gegenüber Durchschnittswerten zu erwartende Reduktion des Lohnansatzes bei gesundheitlich beeinträchtigten Versicherten, die – im Rahmen leichter Hilfsarbeitertätigkeiten – nicht mehr voll leistungsfähig waren, unabhängig von der früher ausgeübten Tätigkeit grundsätzlich gleich präsentierte. Damit entwickelte sich der ursprünglich nur bei Schwerarbeitern zugelassene Abzug zu einem allgemeinen behinderungsbedingten Abzug, welcher sowohl bei Versicherten, die vollzeitlich eine ihrem Leiden angepasste Arbeit ausüben, als auch bei bloss teilzeitlich einsetzbaren Versicherten erfolgte.
Kein allg. Abzug von 25 % mehrGleichzeitig betonte das EVG, dass der Abzug von 25 % nicht (mehr) generell und in jedem Fall zur Anwendung komme. Vielmehr sei anhand der gesamten Umstände des konkreten Einzelfalles zu prüfen, ob und in welchem Ausmass das hypothetische Einkommen der invaliden Person gekürzt werden müsse. Dabei sei auch ein Abzug von weniger als 25 % denkbar. So habe das EVG in einem nicht veröffentlichten Urteil eine Reduktion von höchstens 10 % als angemessen erachtet. Im damals zu beurteilenden Fall war mit der gutachterlichen Einschätzung der Arbeitsfähigkeit auf 50 % der trotz der gesundheitlichen Beeinträchtigungen noch möglichen, verminderten Leistung vollumfänglich Rechnung getragen worden. Eine weitere Reduktion um den umstrittenen zusätzlichen Abzug von 25 % war daher nicht vorzunehmen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen war (damals) damit allerdings nicht einverstanden. Es liess explizit festhalten, dass die Frage des Abzuges bei der Bemessung des hypothetischen Invalideneinkommens nicht bereits im Zusammenhang mit der ärztlicherseits vorgenommenen Einschätzung der Arbeitsfähigkeit entschieden werde. Sie könne erst bei der Berechnung der Erwerbsfähigkeit, somit bei der Frage der erwerblichen Umsetzbarkeit der verbleibenden Arbeitsfähigkeit, beantwortet werden.
Grobe Rechtsprechungsrichtlinien zum «Tabellenlohnabzug»
BGE 126 V 75 als Ausgangspunkt
20-jähriger LeitentscheidIm Jahr 2000 hat das Bundesgericht einen Grundsatzentscheid in Sachen Tabellenlohnabzug gefällt, seine Praxis konsolidiert und bestimmte Eckwerte festgelegt, die bis heute Geltung haben. Im zu beurteilenden Fall hatte die Vorinstanz vom Tabellenlohn vorab einen leidensbedingten Abzug von 25 % vorgenommen. Damit wollte sie dem Umstand Rechnung tragen, dass der Versicherte wegen seiner physischen Einschränkungen (vermehrt sitzend zu verrichtende Arbeit, keine wiederholte Tätigkeit über Kopfniveau) das durchschnittliche Lohnniveau nicht erreiche. Zusätzlich gewährte sie unter dem Titel der Teilzeitarbeit einen weiteren Abzug von 5 %, weil Teilzeitbeschäftigte überproportional weniger verdienen würden als Vollzeitangestellte. Weitere 10 % liess sie schliesslich zum Abzug zu, da Jahresaufenthalter wie der Versicherte unterdurchschnittlich entlöhnt würden.
Drei KernaussagenDas Bundesgericht machte in diesem Grundsatzentscheid drei Kernaussagen, die bis heute Gültigkeit haben: Es hielt fest, dass erstens Tabellenlohnabzüge nicht schematisch, sondern immer nach den Umständen des Einzelfalles vorzunehmen sind. Zweitens stellte es klar, dass nicht für jedes Merkmal der entsprechende Abzug zu quantifizieren und alle allfälligen Abzüge zusammenzuzählen sind, und drittens statuierte es, dass der Tabellenlohnabzug insgesamt höchstens 25 % betragen darf.
Beschränkung auf maximal 25 %Der Beschränkung des Abzuges auf höchstens 25 % lag gemäss dem EVG die Überlegung zugrunde, dass die Tabellenlöhne unter Anwendung breit abgestützter statistischer Angaben und nach wissenschaftlichen Kriterien erstellt würden. Sie seien sehr differenziert ausgestaltet und achteten zur Erlangung möglichst aussagekräftiger Löhne auf feine Unterscheidungen wie etwa das Abstellen auf den Medianwert und nicht auf den Durchschnittswert. Prozentuale Abzüge – meist in zweistelliger Höhe und auf Dezimalen gerundet – von solch differenzierten Werten erwiesen sich als äusserst problematisch, da dadurch die wissenschaftlich erhärteten Werte durch grob geschätzte Abzüge ungenau würden. Je höher der vorgenommene Abzug sei, desto unsicherer werde der statistische Wert. Ein Abzug von 25 % liege daher an der obersten Grenze des noch Zulässigen. Da sich die Praxis, im Einzelfall überhaupt Abzüge vom Tabellenlohn vorzunehmen, somit als nicht ganz unproblematisch erweise, rechtfertige es sich also, diesen auf maximal 25 % zu limitieren. Höhere Abzüge würden den Umständen, welche den Abzügen zugrunde lägen, eine im Verhältnis zu grosse Bedeutung gegenüber der invaliditätsbedingten Einschränkung der Arbeitsfähigkeit geben. Zudem beeinträchtigten sie den Wert und damit die Brauchbarkeit statistisch erhobener Tabellenlöhne.
BGE 146 V 16: Verhältnis von Parallelisierung und Tabellenlohnabzug
Verhältnis Abzug LSE und ParallelisierungDie Parallelisierung des Valideneinkommens einer versicherten Person (Rz. 298) und der Tabellenlohnabzug verfolgen einen ähnlichen Zweck. Sie stellen Korrekturinstrumente innerhalb des Einkommensvergleichs dar, um dem Einzelfall gegenüber einer standardisierten Betrachtung Rechnung zu tragen. Im relativ jungen Entscheid BGE 146 V 16 hat das Bundesgericht nun das Verhältnis zwischen Einkommensparallelisierung und Tabellenlohnabzug näher beleuchtet und dabei festgehalten:
«Ein Leidensabzug […] entfällt mit anderen Worten nicht schon deshalb, weil eine Parallelisierung geprüft, jedoch mangels Erheblichkeit der Einkommensdifferenz nicht durchgeführt wurde. Sind […] bei der Parallelisierung immer die personenbezogenen Faktoren zu untersuchen, die bereits im Gesundheitsfall vorlagen, so stehen beim leidensbedingten Abzug die gesundheitsbezogenen Faktoren im Vordergrund, die in der Regel erst im Krankheitsfall massgebend werden und die Höhe des hypothetisch noch erzielbaren Lohnes beeinflussen. Beide Aspekte erfordern eine getrennte Prüfung je bei der Frage, ob eine Parallelisierung oder ein Leidensabzug vorzunehmen ist.»
Getrennte PrüfungDie Ausführungen illustrieren die Funktionsweise der beiden unterschiedlichen Instrumente: Die Parallelisierung beschlägt die Seite des Valideneinkommens und soll ein unverschuldetes, unterdurchschnittliches Einkommen korrigieren. Der Tabellenlohnabzug kommt dagegen beim Invalideneinkommen zum Zug und dient als Korrektur eines im Einzelfall zu hohen hypothetischen Tabellenlohns. Beide Aspekte bedürfen somit (selbstverständlich) einer separaten Prüfung innerhalb des Einkommensvergleiches. Die Parallelisierung vermag den Tabellenlohnabzug nicht zu ersetzen – und umgekehrt.
Eingeschränkt...