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ACHTSAMKEIT: ICH DENKE, FÜHLE UND HANDLE SELBSTEINSCHLIESSEND
Führungskräfte haben es oft mit neuartigen und auch extrem herausfordernden Situationen zu tun. Diese konfrontieren sie immer wieder mit der Notwendigkeit, auch in unübersichtlichen Lagen rasch und entschlossen zu reagieren. Dabei nutzen sie ungewollt einen Überlebensmechanismus der menschlichen Kognition, der das Neue stets zunächst mithilfe der unmittelbar – und unreflektiert – zu Gebote stehenden alten und bewährten Muster des Denkens, Fühlens und Handelns zu »begreifen« sucht. Menschen beurteilen das Neue mit seinen noch unbekannten Möglichkeiten durch die Brille des Vertrauten. So ist es zu erklären, dass die ersten Autos nach der Erfindung des Motors noch nach dem Vorbild der Kutschen konstruiert wurden, und auch die ersten Filme folgten mit fest installierter Kamera noch der Dramaturgie des Theatergeschehens. Auch die Möglichkeiten des virtuellen Lernens (im »virtual classroom«) und Kooperierens (im Homeoffice in virtuellen Teams) »suchen« noch nach den ihnen gemäßen bildungspolitischen und arbeitsorganisatorischen Formen, um die »eigentlichen« Möglichkeiten, wie das Neue in Erscheinung treten möchte, von den überlieferten Formen des Denkens, Fühlens und Handelns zu lösen und sich gegenüber veränderten Formen des Ausdrucks und der Gestaltung zu öffnen.
Nicht erst die Erfahrungen mit den sogenannten disruptiven Innovationen haben auch die Führungsdebatten zu der Frage geführt, wie Verantwortliche in ihren Fähigkeiten, das Neue neu und auch losgelöst von den eigenen Erfahrungen zu beurteilen und zu gestalten, entwickelt und gestärkt werden können. Vorausgegangen waren technologische Innovationen, die völlig anders ansetzten, bisherige Entwicklungsverläufe abkürzten und zu qualitativ ebenbürtigen, wenn nicht gar überlegenen Lösungen kamen, wie u. a. bereits Erfahrungen in der Film- und Fotoindustrie (der Fall Kodak), aber auch bei Handy-Herstellern (der Fall Nokia) verdeutlichen. Der Niedergang einst erfolgreicher Marktriesen ist häufig auf Wahrnehmungs- und Beurteilungsfehler bzw. auf kognitive Festgelegtheiten der Verantwortlichen zurückzuführen. Diese wähnten sich auch persönlich im sicheren Besitz der einen besten Lösung (»the one best mode«) und konnten sich letztlich auch nicht der emotionalen Labilisierung stellen, welche die um sie herum aufkeimenden disruptiven Entwicklungen für sie mit sich brachten.
Als die für das Überleben von Organisationen zentrale Frage rückte mehr und mehr die Persönlichkeitsentwicklung der verantwortlichen Akteure in den Vordergrund. Auch die Rekrutierungsmechanismen der Unternehmen, die bei der Auswahl und Entwicklung von Führungskräften wirksam werden, gerieten in letzten Jahren verstärkt in den Fokus der Debatten. »Haben wir tatsächlich die richtigen Führungskräfte?«, lautete die Ausgangsfrage.
»Honorieren wir bei deren Auswahl bloß angepasstes Verhalten oder legen wir auch auf abweichendes Verhalten Wert?«, so die weiterführende Frage. Im Kern schließlich landete man bei der zentralen Führungsfrage:
Wie können wir erreichen, dass sich unsere Führungskräfte die Welt nicht bloß so vorstellen können, wie sie dies gelernt haben und aushalten können, sondern auch so, dass sie selbst es sind, die die bisher bewährten Lösungen kontinuierlich »angreifen« bzw. »frisch denken«? (vgl. Scharmer 2009b).
Viele Anregungen fand man bei der Erörterung solcher Fragen in den Ansätzen zur Förderung der Kreativität und der emotionalen Kompetenzen sowie in einer genaueren Analyse der künstlerischen Gestaltung – bis hin zu der herausfordernden These, dass die sich mit eskalierender Geschwindigkeit verändernden Gesellschaften in immer stärkerem Maße Fach- und Führungskräfte benötigten, die als Künstlerinnen und Künstler neue Wirklichkeiten zu visualisieren und zu gestalten vermögen (Brater et al. 2011). Die dabei zum Tragen kommenden Kompetenzen unterscheiden sich grundlegend von der Fachexpertise, auf die bislang bei der Rekrutierung und Entwicklung des Nachwuchses fast ausschließlich Wert gelegt wurde.
Sicherlich: Führungskräfte benötigen eine sachbezogene Expertise und auch Kenntnisse über den Umgang mit sozialen Systemen. Als entscheidender Aspekt einer gelingenden Führung erwies sich jedoch eine Flexibilität im Umgang mit sich selbst und der Welt, wie sie der amerikanische Sozialphilosoph Richard Sennett als »flexible man« (Sennett 1998) beschrieb.
Neuere Beiträge sprachen vom »re-flexible man« und markierten damit eine Bewusstheit, bei der der Akteur
»(…) um die selbsterfüllende Kraft seiner Gewohnheiten und der eigenen Traditions- und Routineverhaftung (weiß). Er ist sich auch der Tatsache bewusst, dass diese ihn immer wieder dazu verführen, an seinen Gewissheiten festzuhalten und sich die Zukunft auf der Basis der eigenen Erfahrungen zu konstruieren, wodurch er dazu beiträgt, dass auch die Zukunft mehr oder weniger so bleibt, wie die Vergangenheit bereits gewesen ist« (Arnold 2017a, S. 16).
Diese Selbsteinsicht stellt die Basis jeder achtsamen Bewegung dar. Eine reflexible Führungskraft ist in der Lage, sich die Zukunft auch in anderer Weise vorzustellen, als ihr dies ihre eigenen Erfahrungen und ihr angehäuftes Wissen zuflüstern. Es fällt ihr auf, wenn ihr eine Situation vertraut vorkommt und sie die Tendenz in sich verspürt, in ähnlicher Weise auf diese zu reagieren wie die unzähligen Male zuvor, bei denen sie ihre Routine eingespurt hat. Ihre Fähigkeit zur Achtsamkeit führt sie immer wieder in eine Reflexionsschleife und das Bemühen, die vermeintlich ach so vertraute Welt in neuer Weise, d. h. mit neuen – dem bisherigen Blick verborgenen – Potenzialen, in Erscheinung treten zu lassen. Ein reflexibler Führer
»(…) weiß, dass er seine Welt bloß verändern kann, wenn es ihm gelingt, sich selbst zu verändern. Indem er lernt, die Gegebenheiten weniger rasch zu beurteilen, öffnet er sich auch dem Fremden, Unbekannten und vielleicht bereits Verworfenen gegenüber. Er vergleicht wertschätzend, wo er früher durch Beurteilungen Eindeutigkeiten hergestellt hat. Dadurch schafft er zumindest die Voraussetzungen dafür, dass sich ihm die Wirklichkeit in anderer Weise – als andere Wirklichkeit – zu zeigen vermag. Damit erreicht der ›reflexible man‹ eine Flexibilität eigener Art. Diese verdankt sich seiner Eigendrehung, keiner bloßen Anpassung an vermeintlich oder tatsächlich Gegebenes. Und diese Eigendrehung ist Ausdruck der Lernfähigkeit, die er als Potenzial in sich trägt« (ebd.).
Die einer solchen Achtsamkeit zugrundeliegende behutsame Beobachtung, vorsichtige Auslotung und zurückhaltende Beschreibung von Gegebenheiten, ohne diese im selben Moment zu beurteilen, kommen in der folgenden Geschichte zum Ausdruck:
DER ALTE MANN UND SEIN PFERD
In einem chinesischen Dorf lebte ein alter Mann, der ein wunderschönes weißes Pferd besaß. Darum beneideten ihn selbst Fürsten. Der Greis lebte in ärmlichen Verhältnissen, doch sein Pferd verkaufte er nicht, weil er es als seinen Freund betrachtete.
Als das Pferd eines Morgens verschwunden war, erzählte man sich im ganzen Dorf:
»Schon immer haben wir gewusst, dass dieses Pferd eines Tages gestohlen würde. Welch ein Unglück für diesen alten Mann!«
»So weit dürft ihr nicht gehen«, erwiderte der alte Mann. »Richtig ist, dass das Pferd nicht mehr in seinem Stall ist, alles andere ist Urteil. Niemand weiß, ob dies ein Unglück ist oder ein Segen.«
Nach zwei Wochen kehrte der Schimmel, der nur in die Wildnis ausgebrochen war, mit einer Schar wilder Pferde zurück.
»Du hast recht gehabt, alter Mann«, sprach das ganze Dorf, »es war ein Segen, kein Unglück!«
Darauf erwiderte der Greis: »Ihr geht wieder zu weit. Tatsache ist nur, dass das Pferd zurückgekehrt ist.«
Der alte Mann hatte einen Sohn, der nun mit diesen Pferden zu arbeiten begann. Doch bereits nach einigen Tagen stürzte er von einem Pferd und brach sich beide Beine.
Im Dorf sprach man nun: »Alter Mann, du hattest recht, es war ein Unglück, denn dein einziger Sohn, der dich im Alter versorgen könnte, kann nun seine Beine nicht mehr gebrauchen.«
Darauf antwortete der Mann: »Ihr geht wieder zu weit. Sagt doch einfach, dass sich mein Sohn die Beine gebrochen hat. Wer kann denn wissen, ob dies ein Unheil ist oder ein Segen?«
Bald darauf brach ein Krieg im Lande aus. Alle jungen Männer wurden in die Armee eingezogen. Einzig der Sohn des alten Mannes blieb daheim, weil er ein Krüppel war.
Die Bewohner des Dorfes meinten: »Der Unfall war ein Segen, du hattest recht.«
Darauf entgegnete der alte Mann: »Warum seid ihr vom Urteilen so besessen? Richtig ist nur, dass eure Söhne ins Heer eingezogen wurden, mein Sohn jedoch nicht. Ob dies ein Segen oder ein Unglück ist, wer weiß.«4
Achtsamkeit beschreibt eine nüchterne Form der Beobachtung (Motto: »Alles, was ist, ist: Das Pferd ist nich...