Anmerkungen
1 Hannah Arendt spricht vom »menschlichen Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen«: Hannah Arendt, »Wahrheit und Politik«, in: dies., Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays, München 2013, S. 44–92, hier S. 83, s. a. S. 55: »Was hier auf dem Spiele steht, ist die faktische Wirklichkeit selbst«.
2 Arendt, »Wahrheit und Politik«, S. 92.
3 Ebd.
4 Ebd., S. 65.
5 Philipp Sarasin, »&Fakten. Was wir in der Postmoderne über sie wissen können«, in: Geschichte der Gegenwart, 09.10.2016, {geschichtedergegenwart.ch/fakten-was-wir-in-der-postmoderne-ueber-sie-wissen-koennen/}, letzter Zugriff 30.06. 2020. Der Artikel sei hier ausführlich zitiert, weil er, ebenso wie der folgende von Silke van Dyk, für das Faktenverständnis des vorliegenden Essays grundlegend ist: »Fakten gelten in der heute dominanten Wissenschaftstheorie […] als gemacht und von den Bedingungen ihrer Herstellung als wissenschaftliche Tatsachen geprägt. Das heisst […] allerdings nicht, sie seien deshalb beliebig, blosse Erfindungen, Meinungen oder gar von Lügen nicht zu unterscheiden. […] Die Absicherung für die […] Verlässlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis liegt heute […] in einem durch gegenseitige Kontrolle, Überprüfung und Kritik strukturierten Forschungsprozess der scientific community. […] Fakten [sind] nach wie vor ›robust‹: Sie sind durch viele Evidenzen bestätigt und erscheinen als die beste Auskunft, die wir gegenwärtig zu geben im Stande sind. Sich in […] kontingenter Weise auf Fakten zu beziehen und um diese Kontingenz zu wissen, hat daher eine ethische Dimension: Es ist eine Frage der Redlichkeit, unseren Bezug auf Fakten immer mit einer Fussnote zu versehen, um offenzulegen, dank welcher Annahmen, Quellen und Modelle ein bestimmtes Faktum ›möglich‹, ja ›wahr‹ ist. […] Sie schützt uns einerseits davor, ›Positivist‹ zu sein, […] ein Dogmatiker, ein Ideologe in Gestalt eines ›Realisten‹. […] [Und] andrerseits auch gegen den Zynismus, der gegenwärtig am (breiten) rechten Rand des politischen Spektrums zu beobachten ist« und der »die postmoderne Epistemologie dazu missbraucht, die Unterscheidung zwischen Lüge und Wahrheit einzuebnen« (ebd. [Hvh. im Original]). Arendts 1967 formulierte Einsicht, dass im politischen Feld heute die Tatsachenwahrheit durch ihre Verwandlung in bloße Meinung gefährdet sei (»Wahrheit und Politik«, S. 55), ist darum gegenwärtig von besonderer Relevanz. Jüngst hat beispielsweise Silke van Dyk an Arendts Überlegungen angeschlossen, um das »System Trump & Co.« zu beschreiben: »Das neue Wahrheitsspiel des Systems Trump & Co., das systematisch den Unterschied zwischen Tatsachen und Meinungen verwischt, ist hochgefährlich und zerstört die Grundlagen politischen Denkens. Das heißt im Umkehrschluss selbstverständlich nicht, dass Fakten und Tatsachen nicht umstritten oder herrschaftsförmig sein können […]. Doch diese Kritik soll […] zu den Fakten und Tatsachen hin- und nicht von ihnen wegführen […]. Im System Trump & Co. passiert genau das Gegenteil, denn an die Stelle der kritischen Prüfung tritt ein Wahrheitsspiel, das allein mit der Währung Aufmerksamkeit arbeitet […], die hoch anfällig ist für Ressentiments« (Silke van Dyk, »Krise der Faktizität? Über Wahrheit und Lüge in der Politik und die Aufgabe der Kritik«, in: PROKLA Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 188 (2017), S. 347–367, hier S. 365).
6 Arendt, »Wahrheit und Politik«, S. 63.
7 Ebd., S. 58.
8 Ebd., S. 83.
9 Der Begriff »Rechtspopulismus« ist nicht unumstritten, weil er auch als Euphemismus für rechtsradikale oder rechtsextreme Bewegungen und Akteure verwendet werden kann. Ich orientiere mich an einem an Jan-Werner Müller (Was ist Populismus? Ein Essay, Berlin 2016) geschulten Verständnis von Populismus, nach dem Populismus nicht eine bestimmte politische Orientierung, sondern, wie Hendricks/Vestergaard schreiben, eine politische Strategie oder Regierungstechnik bezeichnet, in deren Zentrum »polarisiert[e] und exkludierend[e] Erzählungen über Freunde und Feinde (innere wie äußere)« stehen (Vincent F. Hendricks, Mads Vestergaard, Postfaktisch. Die neue Wirklichkeit in Zeiten von Bullshit, Fake News und Verschwörungstheorien, München 2018, S. 136). Dabei hat gegenwärtig jedoch »der Rechtspopulismus den kräftigsten Wind in den Segeln« (S. 136). »Im populistischen Begriffsapparat [werden] politische Gegner nicht als Repräsentanten anderer legitimer Standpunkte oder Meinungen angesehen […] – was Grundvoraussetzung für eine pluralistische, liberale Demokratie ist.« (S. 137) Daher rührt der latent oder offen antidemokratische Zug gegenwärtiger rechtspopulistischer Bewegungen, dem, so Hendricks/Vestergaard, ein Medienumfeld entgegenkommt, in dem die »Jagd nach Aufmerksamkeit auf einem Markt der Informationen zu Desinformation, politischen Blasen, Populismus und letztendlich zu einer postfaktischen Demokratie führt« (S. 9).
10 Die Gesellschaft für deutsche Sprache definiert: »Das Kunstwort postfaktisch […] verweist darauf, dass es in politischen und gesellschaftlichen Diskussionen heute zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten geht. Immer größere Bevölkerungsschichten sind in ihrem Widerwillen gegen ›die da oben‹ bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen bereitwillig zu akzeptieren. Nicht der Anspruch auf Wahrheit, sondern das Aussprechen der ›gefühlten Wahrheit‹ führt im ›postfaktischen Zeitalter‹ zum Erfolg« (»GfdS wählt ›postfaktisch‹ zum Wort des Jahres 2016« [Pressemitteilung vom 9.12.2016], {https://gfds.de/wort-des-jahres-2016/}, letzter Zugriff 17.06.2020 [Hvh. im Original]). Zu meiner kritischen Diskussion des Begriffs »postfaktisch« und der Frage, ob es sich beim »Postfaktischen« tatsächlich um ein neues Phänomen handelt: vgl. Nicola Gess, »Half-Truths. On an Instrument of Post-Truth Politics«, in: Ben Carver u. a. (Hg.), Plots: Literary Form and Cultures of Conspiracy, London [im Erscheinen]; sowie auch: Nicola Gess, »Versuch über die Halbwahrheit«, in: M. Martinez u. a. (Hg.), Postfaktisches Erzählen, Berlin [im Erscheinen].
11 Vgl. Glenn Thrush, »Trump’s Voter Fraud Example? A Troubled Tale With Bernhard Langer«, in: The New York Times, 25.01.2017, {www.nytimes.com/2017/01/25/us/politics/trump-bern-hard-langer-voting-fraud.html}, letzter Zugriff 17.06.2020.
12 Vgl. Desmond Bieler, Cindy Boren, »German Golfer Bernhard Langer Disputes President Trump’s Story About Unfounded Voter Fraud«, in: The Washington Post, 26.01.2017, {www.washingtonpost.com/news/early-lead/wp/2017/01/25/trumps-unfounded-voter-fraud-theory-was-fueled-by-german-golfer-bernhard-langer/?noredirect=on&utm_term=.2641b773296c}, letzter Zugriff 17.06.2020; Ohne Autor, »Angebliches Gespräch über Wahlbetrug. Bernhard Langer bestreitet Trumps Darstellung«, in: Spiegel Online, 27.01.2017, {www.spiegel.de/politik/ausland/donald-trump-bernhard-langer-bestreitet-gespraech-ueber-wahlbetrug-a-1131928.html}, letzter Zugriff 17.06.2020.
13 Die entsprechende Kommission (Presidential Advisory Commission on Election Integrity) wurde im Mai 2017 eingesetzt und im Januar 2018 wieder aufgelöst.
14 Deutsche Übersetzung: Nicola Gess. Im Original: »Joe Biden Said On Video That Democrats Built the Biggest ›Voter Fraud‹ Operation in History. We’re seeing it on full display right now!« (@mtgreene, Twitter, 04.11.2020, {twitter.com/mtgreenee/status/1323991438447808512}, letzter Zugriff 19.11.2020). Der Tweet wurde von Twitter mit der Warnung versehen: »Einige oder alle der Inhalte, die in diesem Tweet geteilt werden, sind umstritten und möglicherweise irreführend in Bezug auf eine Wahl oder einen anderen staatsbürgerlichen Prozess«, und das ursprünglich verlinkte...