Es war nicht sonderlich gut um uns und die Welt bestellt in diesem Frühling. Eine Pandemie hatte uns festgesetzt, von allzu vielem lange isoliert. Jeder von uns war im »Exil bei sich zu Hause«, wie es in »Die Pest« von Albert Camus heißt. Wir sahen Graues, erlebten oder vernahmen viel Grauenerregendes. Die Atmosphäre um uns war verdüstert, mochte die Frühlingssonne draußen auch noch so grell scheinen. Und diese Zeit des Eingesperrtseins mag bei vielen eine eigentümliche, im Sportzeitalter geradezu altmodisch anmutende Sehnsucht geweckt haben: sich wenigstens als Spaziergänger der unsichtbaren viralen Bedrohung für eine gewisse Zeit zu entziehen und dabei dem gestauten Bewegungsdrang unangestrengt nachgeben zu dürfen; allem Beengenden entfliehen, um den eigenen Natureindrücken und Gedanken besser nachhängen zu können. Es spielte nicht einmal eine große Rolle, ob ein einsamer Bummel an die frische Luft oder ein Gang vom Schreibtisch zum Fenster. Es konnte durchaus ein Lustwandeln sein, das zerstreute, erheiterte und stärkte zugleich. Und wer zuvor noch hinter Büchern gelegen hatte, dem konnte beim Gehen die Lektüre noch einmal äußerst lehrreich aufscheinen. Ein Spaziergang lässt die Mühseligkeit des Alltags vergessen, und ebenso unerwartet fallen einem betörende Erinnerungen und neue Gedanken zu. Kein Mensch kann wohl einen Spaziergang machen, wie der Schriftsteller Jean Paul schreibt, »ohne davon eine Wirkung auf seine Ewigkeit nach Hause zu bringen«.
All das haben Literatur, Philosophie und Wissenschaft schon seit jeher erprobt, wenn sie ihre sprunghaften Intuitionen, das Ausmalen von Ideen oder das Hin und Her der Denkarbeit kultivierten. Ja, man könnte meinen, un sere Gedanken selber spazierten munter herum, bis sie schließlich ihren Weg wieder zu uns nach Hause finden, quasi als »Suppe zum Abendbrot«, wie Sokrates einmal gesagt haben soll. Das ergibt mitunter ganz merkwürdig essayistische Spaziergänge in der Belletristik. Das können elegante Promenaden sein, auf denen sich ziellos und mit Umwegen auf schöne Aussichten hin »spazifizottlen« lässt (Robert Walser). Je nach Charakter oder Beruf sieht jeder für sich dabei eine andere Welt und bisweilen sogar, laut dem österreichischen Romancier Robert Musil, ganz »unsichtbare Dinge«. Ins Unsichtbare hineinspazieren? In etwas, das es gar nicht gibt? Etwa ins Grau?
Wenn ich junge Studierende oder alte Bekannte frage, was sie mit Grau assoziieren, so ist eine ihrer häufigsten Antworten: ein Garnichts. Es fällt ihnen dazu einfach nicht mehr ein. Ja, vielfach sind sie nicht einmal ganz sicher, ob es sich überhaupt um eine Farbe handelt. Das Graue liegt eben ganz im Unbestimmten, im geradezu Flüchtigen. Wie eine quasi stets sich selber aufzehrende Bewegung tendiert alles an ihm ins Farblose, Mehrdeutige und Unansehnliche, sodass es den allermeisten als Nicht-Farbe schlechthin erscheint. Das Fahle genießt entsprechend keinen allzu guten Ruf. Nimmersatt und freudlos verschlingt es alles in sein Grau-in-Grau und gibt ihm eine unsaubere Erstarrung. Derart gesättigt spricht sein seelenloser Ausdruck von einer ungeheuren Gleichgültigkeit, jenseits jeglicher Persönlichkeit. Es ist ein jämmerlich undefinierbares Mittelding, das sein mehrdeutiges Gepräge im Vorratsraum der Bilder und Zeichen einer es umgebenden, grellbunten Welt zu finden meint. »Grau ist klanglos und unbeweglich«, schreibt 1911 der Maler und Farbthe oretiker Wassily Kandinsky und bedauert demgemäß das »Trostlose« und »Erstickende« dieser Farbnegation.
Wenn es aber ein richtiger, eigenständiger Farbton sein soll, dann höchstens einer von zweiter Ordnung. In seiner matten, trüben und rauen Art vermag das Grau allerdings den Farben erster Ordnung zu ihrem Glanz zu verhelfen. Zumal dann, wenn diese in ihrer Reinheit, laut dem romantischen Maler und Farbsystematiker des frühen 19. Jahrhunderts, Philipp Otto Runge, für uns gar nicht wirklich wahrnehmbar seien. Diese bedürften vielmehr einer »Verunreinigung« oder »Verschmutzung« durch Grau, um überhaupt Teil der für den Menschen sichtbaren Welt zu werden. Insofern nivelliert es zunächst alles auf eine allgemeine Gesichts- und Namenlosigkeit. Nur bleibt mit dieser Ungenauigkeit dennoch eine tiefe Sehnsucht nach einer gewichtigen Ur- und Grundfarbe verbunden, welche als Tönung wie die Grundelemente der Erde wirken sollte. Alle natürlich vorhandenen Basisfarben finden sich bekanntlich im Boden durchmischt, mal das Licht glänzend reflektierend und es mal in ihrem abgründigen Dunkel absorbierend, regelrecht verschluckend.
Das klingt nach einer geradezu alttestamentlichen Idealvorstellung: Am Anfang lag alles im irdischen Grau. Und als Staub der Ackerscholle wurde das erste erkenntnisfähige Menschenpaar noch aus dem lichtbunten Paradies wieder auf die verflucht grausame Erde in die Monotonie zäher Arbeit zurückverwiesen. Oder etwas wissenschaftlicher, biologistischer ausgedrückt: Die heutigen Anthropologen gehen von rund zweihundert wahrnehmbaren Abstufungen auf der Grauskala aus, welche der Mensch in seiner Wahrnehmung unterscheiden kann. Das kommt einer Leistung sehr guter digitaler Grafiksysteme von heute nahe. In einem aus vielen Bestandteilen zusammengesetzten, komplexen Bild kann man gar noch wesentlich mehr Farbklänge unterscheiden. Denn die beiden lichtempfindlichen Zelltypen in der Netzhaut, die sogenannten Stäbchen und Zapfen – Letztere als Rezeptoren mit jeweils unterschiedlichem Farbempfinden –, sind sowohl im hellen Tageslicht wie in der Dämmerung bei ausgeglichener Reizung fähig, Grautöne innerhalb des sichtbaren Teils aller elektromagnetischen Lichtschwingungen zu differenzieren, selbst noch bei Farbfehlsichtigkeit. Bei den Primaten liegt die Grauwahrnehmung übrigens gemäß Tests deutlich unter all dem, was der Homo sapiens zu unterscheiden weiß.
Allein die Kultur- und Sprachwissenschaften lassen große Zweifel an dieser allzu simpel klingenden These eines ganz und gar grauen Anfangs der Menschheit aufkommen. Die beiden Amerikaner, der Anthropologe Brent Berlin und der Linguist Paul Key, haben in den 1960er-Jahren »elementare Farbbezeichnungen« in neunundachtzig Sprachen untersucht und dabei eine Entwicklung des menschlichen Farbvokabulars von sieben Stadien festgestellt. Und ausgerechnet Grau scheint bei ihnen erst ganz am Schluss der sprachlichen Entwicklung auf, im letzten evolutionistischen Stadium, also im siebten. Dann werden Farben in verschiedenen Sprachgemeinschaften begrifflich ganz unterschiedlich differenziert. So besitzt das Deutsche für Weiß nur ein einziges Adjektiv, während etwa die Inuit auf Grönland und in Kanada sprachlich mehrere unterschiedliche Ausformungen seiner Bedeutung kennen. Die litauische Sprache, die in vielem noch dem Indogermanischen sehr nahe steht, besitzt vier Worte für Grau, um damit die Färbung von Schafwolle, Gänsefedern, die Haut von Pferden und Rindvieh sowie die menschliche Haarfarbe voneinander abzugrenzen. Speziell die europäische Pferdezucht weiß verschiedene Grautypen zu unterscheiden, vom Grauschimmel über die Falbe bis zum alten Graumann. In zahlreichen Sprachen der Antike, im Sanskrit oder im Griechischen, kann allerdings das Wort Grau auch noch für andere Farben stehen, wie etwa für das Blau, das wiederum häufig nur für ganz bestimmte Gegenstände verwendbar war.
Entsprechend verblüfft es nicht, dass bis ins 14. Jahrhundert immer wieder ungenaue Bezeichnungen für Grau in den mitteleuropäischen Sprachen auftauchen. Grauheit ist dann einfach alles, was nicht farbig ist, aber auch nicht schwarz und weiß. Denn manchmal ist die unbunte Farbe eine Spielart von Schwarz, wie in der Antike der Philosoph Aristoteles annimmt, wenn nicht gar eine reine Eindunklung von Weiß. Auf jeden Fall steht es zwischen den extremen Polen von Schwarz und Weiß und kann zusätzlich je nach Mischung eine Tönung von jeder der beiden Farben annehmen, wie die antiken Philosophen Platon und Theophrast ausführen. So wird es erst der italienische Humanist und Kunsttheoretiker Leon Battista Alberti sein, der Grau um 1435 zu einer eigenständigen Grundfarbe erklärt, die ihre graduelle Veränderbarkeit mittels Hinzufügung schwarzer oder weißer Pigmente erfährt.
Spätestens von da an ist das Interesse der Kunst für die Erforschung der Stufenleiter von Grautönen zwischen Schwarz und Weiß geweckt. Nicht nur diese beiden unbunten Farben bringen nämlich in ihrer Mischung das Grau zustande, sondern auch bunte im Mischverhältnis mit oder ohne Weiß und Schwarz selber, wobei je nach ihrem Anteil das dabei entstehende Grau heller oder dunkler erscheint. Primär- oder Grundfarben wie Rot, Blau und Gelb sollen mit den aus ihnen gewonnenen sekundären respektive komplementären vermischt, wie Grün, Orange und Violett, gar qualitativ mehr als das »niederträchtige Grau« aus reinem Schwarz und Weiß (Goethe) ergeben. Aber auch hier gilt, je dunkler die Farben, desto dunkler das Grau. Das bestätigt schon die von alters her gehegte Vorstellung, dass sich mittels Licht- oder Komplementärfarben harmonische Grautöne gewinnen ließen. Derart sorgen die mit abstrakten Grundfarbwörtern gleichwertig gebildeten Komposita Gelb-, Blau-, Grün-, Violett- oder Orangegrau seit dem 15. Jahrhundert im Schriftdeutschen für ein passendes Farbnebeneinander. Je mehr allerdings in der Naturwissenschaft die bis anhin vorherrschende Lehrbuch-Autorität des Aristoteles schwand, indem selbstständiges Beobachten und Forschen an seine Stelle traten, desto mehr wurde der Graugehalt bei Farben stärker beachtet. Deswegen kommt das bunte Farbadjektiv zunehmend häufiger bei Wortzusammensetzungen mit Grau an zweiter Stelle zu stehen. Allein als Ausnahme, weil von Plinius dem Älteren in seiner Enzyklopädie bereits auf Lateinisch im Sinne von fahler Tönung verwendet, taucht der Ausdruck Graurot im Deutschen relativ früh auf. Das Überdenken der Tonwertigkeit und Helligkeit solcher Farbverbindungen führte auch dazu, sich mit dem Aufscheinen von Grau in einer Farbsystematik zu beschäftigen.
Und so sind mittels sehr unterschiedlich konzipierter Farbkreise, Kugelmodelle und Farbmusterkataloge eine stattliche Anzahl von Theorien entstanden, in denen Grau zentral für die Farbmischung wird, quasi als »generative Matrix aller Farben«, wie es der deutsche Kunsthistoriker Gregor Wedekind nennt, auch wenn sich dabei keine Komplementärfarbe für Grau gefunden hat. Aber je sorgfältiger und sensibler wir uns mit Grau beschäftigen, es konzentriert wahrnehmen, desto mehr erfährt man auch über seine Qualität, etwa wie kühl oder warm, dunkel oder hell es ist und zu welcher Farbrichtung es neigt. Es wird damit zu einer farblichen Güte, die sich aus dem gesamten Farbspektrum ableiten lässt, was wiederum viel über unsere Farbwahrnehmung aussagt. Ja selbst Graustufen, wie sie in der Fotografie oder auf den Computerbildschirmen verwendet werden, erlauben ein neues Sehen in feinsten Kontrasten. Und zu dieser Sensibilisierung auf das Grau gehört auch immer das Nachdenken darüber, das Experimentieren damit.
»Man halte ein schwarzes Bild vor eine graue Fläche und sehe unverwandt, indem es weggenommen wird, auf denselben Fleck«, berichtet etwa Goethe in seiner »Farbenlehre « von einem solchen Seh-Experiment. »Der Raum, den es einnahm, erscheint um vieles heller. Man halte auf eben diese Art ein weißes Bild hin, und der Raum wird nachher dunkler als die übrige Fläche erscheinen. Man verwende das Auge auf der Tafel hin und wieder, so werden in beiden Fällen die Bilder sich gleichfalls hin und her bewegen. Ein graues Bild auf schwarzem Grunde erscheint viel heller als dasselbe Bild auf weißem. Stellt man beide Fälle nebeneinander, so kann man sich kaum überzeugen, dass beide Bilder aus einem Topf gefärbt seien. Wir glauben hier abermals die große Regsamkeit der Netzhaut zu bemerken und den stillen Widerspruch, den jedes Lebendige zu äußern gedrungen ist, wenn ihm irgendein bestimmter Zustand dargeboten wird. So setzt das Einat men schon das Ausatmen voraus und umgekehrt; so jede Systole ihre Diastole. Es ist die ewige Formel des Lebens, die sich auch hier äußert.« Und wie viel lebhaftes Kolorit ist dem Klassiker Goethe da beim Ausprobieren nicht noch vor den Augen wunderbar grau geworden.
Obwohl sich damit auch gleich ein ganz neuer Problembereich für alle Nutzer ergibt, für sogenannte Graumaler, die in ihren monoton gestrichenen, ärmlichen Ateliers, erfüllt von »leiser Verheißung und tiefem Ernst« (Rainer Maria Rilke), ihre gewünschten Farbtöne mischen. So schreibt etwa der Künstler Paul Cézanne seinem befreundeten Berufskollegen Camille Pissarro im düsteren Oktoberwetter 1866: »Sie haben vollkommen recht, wenn Sie über das Grau sprechen, es allein herrscht in der Natur, aber es ist eine furchtbar schwere Sache, das richtig hinzukriegen.« Dieses »Elend« mit der Auffindung des korrekten, natürlichen Grautons gilt auch für die Wiedergabe ganz alltäglicher Dinge, von der exklusiven Alltagskeramik bis zu modischen Accessoires. Der französische Schriftsteller Marcel Proust lässt in seiner »Suche nach der verlorenen Zeit« den Kunstmaler Elstir für den Schleier von Madame de Luxembourg nach einem sehr zarten Grau recherchieren, das er schließlich nur mit arger Mühe auftreiben kann. Es bedarf in der Graumalerei eben ganz bestimmter Glücksumstände bei der Farbkreation. Schon in der Antike, etwa bei Wandmalereien in Pompeji, wurde nach einer passenden grauen Untermalung gesucht, um eine glänzende Wirkung für rötliche Farbpigmente zu erzielen. Grundsätzlich erscheinen ja auch graue Bildsujets auf schwarzem Hintergrund heller und größer als auf weißem. Es lassen sich je nach Zartheit des Kolorits auch die Konturen des Dargestellten anschaulicher verdeutlichen, indem man je nachdem aus dem Grauen heraus und in das Graue wieder hinein malt.
Als Folge davon versehen entsprechend schon seit der frühen Neuzeit Künstler i...