Von kommenden Dingen
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Von kommenden Dingen

  1. 200 Seiten
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Von kommenden Dingen

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Rathenau war einer der interessantesten Köpfe der politischen und kulturellen Szene im Deutschland der 1910er und 20er Jahre. Er war nicht nur Lenker eines Firmenimperiums, nicht nur bloßer Politiker, sondern glühender Vertreter liberalen Gedankentums und der Republik, der ersten auf deutschem Boden. Als sozial- und kulturphilosophischer Schriftsteller war er ebenfalls einer der meistgelesenen Autoren seiner Zeit. Sein großes Thema als Autor waren die Gefahren der Mechanisierung und des materialistischen Denkens der Menschen in den modernen Gesellschaften. Bemüht, liberal-individuelle und sozialistische Elemente miteinander zu verbinden, entwarf er immer wieder die Utopie einer Gesellschaft jenseits von Kapitalismus und Sozialismus, um die Arbeiter aus ihrer unzeitgemäßen "Erbknechtschaft" zu holen. Mit solchen Ansätzen setzte er sich weit ab von dem verbreiteten Lagerdenken seiner Zeit. Damals war man Sozialdemokrat, Kommunist oder vielleicht Monarchist - alles festgefahrene Kategorien, die Rathenau aufzusprengen versuchte. Mit diesem Versuch blieb er - wenn auch heiß diskutiert in der Öffentlichkeit - jedoch weitgehend unverstanden. Die Zeit des politischen Ausgleichs der Gruppeninteressen, die Zeit eines gesellschaftlichen Konsenses jenseits alter Grabenkämpfe war noch nicht gekommen. Rathenau galt den rechten, nationalistischen und monarchistischen Gruppierungen in der Weimarer Republik als Gefahr, seine visionären Gedanken überforderten die politische Debatte.Das vorliegende Buch, "Von kommenden Dingen", erschien 1917 - kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs, der die gesamte Ordnung der westlichen Welt auf den Kopf stellen sollte. Rathenau, ein genauer Beobachter seiner Zeit, nahm die Gemengelage zum Anlass, sein gesellschaftliches Konzept pointierter und ausführlicher als in den Schriften zuvor als wegweisende Alternative für die Zukunft darzustellen. Es ist ein visionäres Buch, gleichzeitig ein erhellendes Zeitdokument über das Ende des Kaiserreichs und den Beginn der ersten demokratischen Ordnung in Deutschland.

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Information

Jahr
2010
ISBN
9783940621368

Der Weg

Der Weg
[79]

I. DER WEG DER WIRTSCHAFT

Die geschichtliche Betrachtungsweise hat ein Jahrhundert lang unserm Denken gedient; jetzt artet sie aus und wird schädlich, zumal wenn sie auf Einrichtungen angewandt wird.
Schöpfungen der Natur wandeln sich, indem sie ihren Sinn und Zweck behalten oder nur sehr langsam ändern; Einrichtungen bleiben im Namen und wesentlichen Attributen sich selbst gleich und vertauschen ihren Inhalt, ja selbst ihren Daseinsgrund; in der veralteten Schale schlägt ein neues Geschöpf seine Wohnung auf. Diese Erscheinung möge der Kürze halber die Substitution des Grundes genannt werden.
Sie rührt daher, daß die Zahl der Einrichtungsformen begrenzt ist, daß die Trägheit und Ökonomik des Geistes sich gern vorhandener Formeln bedient und daß die Stetigkeit des zeitlichen Fortschreitens den Augenblick schwer erkennen läßt, in welchem die Wahl eines neuen Begriffs und Namens, das Abstreifen abgestorbener Organismen und das Einsetzen neuer Betrachtungsweisen am Platze wäre.
Anziehend und anregend bleibt die geschichtliche Betrachtung in jedem Falle, sie kann manche Benennung, manche Zutat erklären, Spielarten dar- [80] tun, funktionelle Bewegungen und Wandelbarkeiten ins Licht setzen; doch führt sie zum gefährlichen Irrtum, wenn sie sich unterfängt, den gegenwärtigen, lebenden und wirkenden Organismus auszudeuten oder fortzubilden. Es mag interessant sein daß das Pontifikat in irgendeiner Weise vom Brückenbau ausgeht; aber es wäre bedenklich, grundsätzliche Schlüsse vom Ingenieurwesen auf kirchliche Einrichtungen zu ziehen; es ist lehrreich, eine Entwicklungsreihe von den attischen Dionysien bis zur französischen Unterhaltungskomödie zu leiten, doch wäre es keinem Vergnügungsindustriellen zu raten, bei der Beurteilung seiner Zugstücke archäologischen Erwägungen nachzugehen. Man verspottet die Meinung der französischen Aufklärung vom Staat als einem Gegenseitigkeitsvertrage und hält ihr prähistorische Ableitungen entgegen; und doch liegt im Wesen eines auf Kräftegleichgewicht beruhenden Organismus mehr von vertragsähnlicher Wechselbeziehung als von totemistischen oder patriarchalischen Funktionen; vor allem gehen die Umwandlungsbewegungen in sehr ähnlichen Formen vor sich wie Umgestaltungen vertraglicher Verhältnisse. Nirgends ist so fühlbar die Substitution des Grundes am Werke gewesen wie beim Wesen des Staates; daher die Unfruchtbarkeit der Bemühung, eine geschichtlich umfassende Definition dieses Organismus zu finden, der bei scheinbarer Stetigkeit sich in jedem Menschenalter unter bleibendem Namen neu erzeugt und nur unter der metaphysischen Form, als Willensseite des kollektiven Geistes, kontinuierlich angeschaut werden kann; eine Anschauung, die zeitlos und ohne fortgestaltende Anwendung bleibt.
[81] Aus falscher Anwendung geschichtlicher Betrachtung folgt falsche Einschätzung des „geschichtlich Gewordenen" als eines absoluten Wertes: der Tradition als einer positiven Kraft. Der Wert des geschichtlich Gewordenen liegt darin, daß es ein geschichtlich Vergängliches und Vergehendes ist; es entstand als revolutionäre Neuerung, es vergeht als überholte Veraltung, und es hält sich, solange es einigermaßen brauchbar und erträglich ist. Der Wert der Tradition liegt in der Verlangsamung der Bewegung, die hierdurch an Stetigkeit gewinnt; der weniger emphatische Name des Trägheitsmomentes verdeutlicht diese Kraft, die durchaus eine negative ist, und die bei hoher praktischer Bedeutung niemals den Wert einer erkenntnismäßigen Widerlegung haben darf. Sie besaß diesen Wert vormals gegenüber religiöser und philosophischer Überzeugung, sie beansprucht ihn noch heute gegenüber sozialer und politischer Erkenntnis. Muß dieser theoretische Wert verneint werden, so dürfen wir neben dem praktischen Wert der Verzögerung den ästhetischen Wert anerkennen, der sich in Formeln, Trachten, Zeremonien und Feiern ausdrückt, Stolz, Farbe und Haltung dem Alltag spendend, der mit gerechtem Selbstbewußtsein sich gern an eine ehrenvolle Herkunft erinnert. Doch muß die ästhetische Seite der Tradition bleiben, was sie lebenskräftigen Nationen ist: Schaustück, nicht Wesen. Es ist festlich anmutend, wenn der König von Preußen zuzeiten als Kurfürst von Brandenburg auftritt; es wäre nicht ersprießlich, wenn hieraus ein politisches Vorrecht der heutigen Provinz Brandenburg gegenüber Schlesien oder dem Rheinlande gefolgert würde.
[82] Diese Vorbemerkung war im Dienst der Arbeitsmethode und zur Erläuterung der Substitution des Grundes vorauszuschicken.
Die alte Schichtung des Feudalismus rechtfertigte sich praktisch durch die Bereitschaft der Waffen, durch menschliche Überlegenheit durch Organisation und Okkupationsbesitz der Landeseroberer; sie rechtfertigte sich teleologisch durch Verwaltung und Verteidigungsschutz, beruhend auf erblichen Eigenschaften. Diese Erblichkeit lag in der Erziehung zum Waffenhandwerk und zur kriegerischen Gesinnung, in der Züchtung geeigneter Körperlichkeit und Geistigkeit, in der Heranziehung religiöser Weihe, im Ausschluß der Blutmischung und in der zwangsweisen Herabdrückung und Verfriedlichung der Unterworfenen.
Die siedlerische Ausfüllung der Länder, die zunehmende Intensität der Wirtschaft hinderte die Oberschicht, sich fortschreitend mit der Unterschicht auszudehnen. Jüngere Söhne konnten nicht genügend ausgestattet werden und verfielen der Kirche oder der Auswanderung, Besitztümer zerbröckelten und verschmolzen, kirchliche und Territorialherrschaften wuchsen empor, städtisches Bürgertum drängte sich ein, und die beharrende Oberschicht blieb nicht länger imstande, die quellende Unterschicht zu decken. Im höchsten Augenblick, als auch der Waffendienst auf die Unterschicht erstreckt werden mußte, brach das letzte Recht der feudalen Organisation zusammen.
Schon hatte die neue erbliche Schichtung den Volkskörper durchspalten, die Schichtung des Besitzes.
[83] Von landesherrlichem und kirchlichem Besitz, von Kolonien, Monopolen, Bergrechten und Wuchergeschäften hergeleitet, waren Kapitalmengen herangewachsen; die Mechanisierung der Gewerbe, der Technik, des Verkehrs, des Denkens und Forschens hatte das Leben ergriffen, die Weltbewegung orientierte sich in der Richtung des Kapitalgefälles. Die Erblichkeit der Kapitalmacht war überkommen aus der Erblichkeit des Standes, des Bodens und der beweglichen Güter; ihre Berechtigung wurde nicht angezweifelt und somit nicht begründet.
Eine gewisse innere Rechtfertigung hätte sich zur Not anfänglich geboten: das Kapital trat überwiegend auf in der Form des Unternehmens. Das Unternehmen aber überlebt Geschlechter und verlangt daher eine ununterbrochene Reihe vorbereiteter Leiter und Herren, wie die Erbfolge sie bot und wie sie aus der Landwirtschaft geläufig war. Insbesondere war die allgemeine Schulung und Erziehung unzulänglich; das Haus des Besitzers konnte an geistiger und erfahrungsmäßiger Erziehung mehr leisten als die Allgemeinheit; und somit verblieb ein gemehrter Schutz für die Zusammenhaltung der Mittel, die nur in ihrer Ansammlung wirken konnten.
Drei Umstände hätten die erbliche kapitalistische Schichtung erschüttern müssen: Die Volksschule, wenn sie den Erziehungsvorsprung vernichtete, die Einrichtung der Kapitalassoziation, indem sie das Unternehmen unpersönlich stellte und von der Notwendigkeit erblicher Leitung befreite, die politisch-militärische Emanzipation, indem sie Verwaltungserfahrungen verbreitete und den Sehkreis erweiterte.
[84] Daß diese Umstände nicht zur Wirkung kamen, liegt am rasch gewaltsamen Aufstieg der Kapitalmacht, die durch Anknüpfung an die noch vorhandenen Territorial- und Feudalmächte, durch Verzweigung der Beziehungen und Interessen durch Erziehung und Lebensweise, durch publizistischen Einfluß und politische Unentbehrlichkeit zur Klasse zusammenschmolz und geschlossen ihr Recht verteidigte, das sie nicht durch Vernunft, sondern durch Gegeninteressen angetastet glaubte.
Durch die neue Schichtung wurden die Reste der alten nicht zerstört, sondern verstärkt, und zwar so: Die Schicht des Besitzes konnte, da sie nicht von außen kam, sondern von unten aufstieg, keine eigenen Lebensformen schaffen; sie mußte sie von ihren Vorgängern entlehnen, ward Schuldnerin und somit unterlegen. Zum zweiten blieben die Dynastien der Feudalschicht zugetan, die ihnen länger vertraut war, Regierungs- und Kriegserfahrung besaß, bodenständig und unveränderlich blieb, bereitwillig die Bedingungen ihres materiellen Daseins der Krone anheimstellte und somit im Sinne der unmittelbaren monarchischen Ansprüche zuverlässiger erschien. Zum dritten schlossen die beiderseitigen herrschenden Schichten Zugehörigkeit nicht aus; reicher Adel besaß doppelten Vorteil und machte ihn mit Vorbedacht mehr zugunsten der Kaste als der Klasse geltend.
So schillert die europäische Gesellschaft in der seltsamen Doppelbrechung zweier Achsen; die noch immer wesentliche feudale Schichtung durchsetzt sich mit der auffälligeren kapitalistischen, beide bleiben erblich und stimmen darin überein, daß sie [85] einen leidenden Gegenzustand schaffen, der auf der kapitalistischen Seite zum unentrinnbaren Massenschicksal geworden ist.
Haben wir dieses Schicksal in seiner starren Vorbestimmung als unvereinbar mit der Forderung seelischen Lebens erkannt, so wird nun deutlich, daß eine künftige Ordnung, mag sie immerhin in sich abgestuft, geschichtet, differenziert sein, die Eigenschaft der erblichen Beständigkeit nicht mehr haben kann.
Wie auch immer ihr richtendes Grundgesetz gestaltet sein mag, auf Zwang und Gewalt wird es nicht beruhen können; es wird den Ausgleich des Gesamtwillens und des Einzelwillens in sich tragen, jedoch auf sittlicher Grundlage, es wird der Selbstbestimmung, der Verantwortung und der seelischen Entfaltung Raum lassen.
So erscheint uns die Forderung der Wiedergeburt nicht mehr allein unter dem Anblick der Befreiung eines Standes, sondern schlechthin in der Fassung der Versittlichung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ordnung unter dem Gesetz persönlicher Verantwortung.
Den Weg der Entwicklung finden wir, indem wir von der Verneinung des Unrechts uns leiten lassen: Die Entfremdung der Stände, beruhend auf Überspannung wirtschaftlicher Gegensätze, die Macht des zufälligen oder unsittlichen Erfolges, der Alleinbesitz der Bildung schaffen die unterdrückenden Mächte, die Erblichkeit verewigt sie. Unser Weg ist der rechte, wenn er zur Vernichtung der feindlichen Kräfte und dennoch zur Erhaltung menschlicher Ordnung, kultureller Gestaltung und seelischer Freiheit führt.
[86] Die naivste Form des Heilungsdranges ist die Forderung der unmittelbaren Stillung. Der Baum verlangt unmittelbar Licht, Raum, Luft, Wasser, Erde; er nimmt, was er braucht, der Nachbar verkümmert, das Erdreich versauert, der Wald kämpft gegen Moor und Heide, solange es geht, dann stirbt er, und mit ihm der glücklichste Baum.
Forstmann und Erzieher, Arzt und Staatsmann haben längst den Weg der unmittelbaren Stillung verlassen. Der Arzt wird erkaltende Glieder nicht durch warme Umhüllung, der Staatsmann wird trunksüchtigen Durst nicht durch vermehrte Brauereien zu heilen suchen; ein jeder überblickt das Lebensgebiet des zu schützenden Organismus, beginnt nicht beim Symptom, sondern beim Krankheitskern, ermißt die Gesamtheit der Lebenskräfte und verteilt sie nach bedachtem Plan auf alle Organe, fördernd und hemmend, stärkend und schwächend.
Der Sozialismus, die Lehre, die ihre Wissenschaftlichkeit über alles stellt und sie dennoch beständig verleugnen muß, um populär zu bleiben, ist über den Weg der unmittelbaren Stillung nie hinausgekommen.
Ihr ergibt sich die volkstümliche Schlußkette: Was ist das Ziel? — Erhöhter Arbeitslohn. — Was schmälert den Lohn? — Die Kapitalrente. — Wie erhöht man den Lohn? — Indem man die Rente unterdrückt. — Wie unterdrückt man sie?
Nun wäre es folgerichtig, zu antworten: Indem man das Kapital aufteilt. Es ist jedoch wissenschaftlicher zu sagen: Indem man das Kapital verstaatlicht.
Die eine Antwort ist so falsch wie die andre. [87] Beide verkennen das Gesetz des Kapitals in seiner gegenwärtig entscheidenden Hauptfunktion: nämlich als desjenigen Organismus, der den Weltstrom der Arbeit nach den Stellen des dringendsten Bedarfs lenkt.
Erinnern wir uns hier des Satzes von der Substitution des Grundes: Es ist nicht entscheidend, aus welchen Ursachen und Bedürfnissen ein Organismus geschaffen wurde; entscheidend ist, welchen Notwendigkeiten er in Wirklichkeit und Gegenwart dient.
Angenommen die soziale Revolution sei vollzogen. In Chicago sitzt der diesjährige Weltpräsident, der über allen Einzelrepubliken thront und mit seinen Organen alle internationalen Angelegenheiten ordnet. Er verfügt in letzter Instanz über das Kapital der Erde.
Heute liegen seinem Unternehmungsdepartement neben 700000 törichten Anträgen drei ernste vor: Eine Bahn durch Tibet, ein Petroleumwerk in Feuerland, eine Bewässerung in Ostafrika. Politisch und technisch sind alle drei Pläne einwandfrei, wirtschaftlich anscheinend gleich wünschenswert; im Hinblick auf die verfügbaren Mittel kann indessen nur einer ausgeführt werden. Aber welcher?
Nun liegen nach alter Sitte aus kapitalistischer Zeit drei geprüfte Rentabilitätsrechnungen vor: Tibet würde sich mit 5 Prozent, Feuerland mit 7 Prozent, Ostafrika mit 14 Prozent verzinsen. Es hat sich so viel von den Gewohnheiten der alten kapitalistischen Epoche erhalten, daß das Departement unter Zustimmung des Präsidenten sich für die Ausführung der ostafrikanischen Bewässerung entschließt.
[88] Nunmehr könnte man freilich die Rentabilitätsrechnungen einstampfen, Arbeitsmittel im Werte einer Milliarde nach Ostafrika beordern und von jeder weiteren Verrechnung absehen. Das Errechnen von Erträgen bliebe ein altes Schulexempel, lediglich zur Ermittlung des Bedürfnisgrades, ohne materielle Folgen. Leider erheben sechs Staaten Einspruch.
Sie erklären: Die Bevorzugung kommt den Einwohnern von Ostafrika zugute, die durch vermehrte Einwanderung, Verbesserung der Lebensverhältnisse, des Klimas und was sonst noch, allein profitieren; Portugal wartet längst auf dieses, Japan auf jenes, nun wird der Weltsäckel, zu dessen Füllung alle beigetragen haben, zugunsten des einen ausgeschüttet. Die Entscheidung: „künftig hat jeder Landstrich für sich selbst zu sorgen" kann der Präsident nicht geben, denn fünfzig Jahre lang sind aus Mangel an Universalmitteln wichtige Arbeiten unterblieben. So bleibt ihm nichts weiter übrig als zu erklären: Der Plan wird ausgeführt; doch die ostafrikanische Gesamtwirtschaft hat einen jährlichen Mehrertrag von soundso viel an den Weltsäckel abzuführen. Die Rente ist auferstanden.
In einer deutschen Industriestadt soll eine alte Staatsfabrik abgerissen werden; sie ist veraltet und unbrauchbar. Ein geschickter Werkmeister erbietet sich, sie mit geringen Kosten für einen neuen Zweck herzurichten; einen Beweis der Rentabilität kann er nicht bringen, will aber gern das Risiko tragen. Die Provinzialpräfektur lehnt das Experiment ab. Die Ortsbehörde will nicht verzichten; überdies hat der Antragsteller hundert silberne Uhren seiner Freunde und fünf Pianinos als Sicher- [89] heit angeboten. Man erfährt, daß ungezählte Orts- behörden Ähnliches getan haben, man überträgt dem Unternehmer die Arbeit; die Fabrik ist verpachtet; abermals ist die Rente hergestellt.
Niemals wird, abgesehen von Fällen ideeller Begründung, die geeignete Verwendung des Kapitals anders gesichert sein als durch die Ermittlung der auskömmlichsten Rente; niemals wird das Risiko der Beurteilung und die einseitige Kapitalsentziehung anders zu decken sein als dadurch, daß diese Rente wirklich erhoben wird und nicht bloß auf dem Papier steht.
Würde heute alles Kapital der Welt verstaatlicht, so wäre es morgen an ungezählte Pächter und übermorgen an ungezählte Eigentümer aufgeteilt. Die Notwendigkeit der Rente ist gegeben durch die Notwendigkeit der Selektion der Anlage. Sie ist der Ausdruck des schreiendsten und meistbietenden Anlagebedürfnisses.
Ihre Unentbehrlichkeit ergibt sich jedoch noch aus einer unabhängigeren und umfassenderen Betrachtung.
Überblickt man das ganze Gebiet eines nationalen Industriewesens, etwa des deutschen, hinsichtlich seiner Kapitalbewegung, so ergibt sich die überraschende Tatsache: Trotz hoher Blüte und Rentabilität zahlt dieser gewaltige Komplex in seiner Gesamtheit nichts heraus, sondern zieht Mittel ein; die Kapitalerhöhung und Schuldenvermehrung übersteigt die Rentenzahlung. Die Industrie arbeitet nur am Wachstum ihres eigenen Körpers; sie gibt nichts her; selbst die andern Wirtschaftsgebiete müssen ihre Ersparnisse beisteuern, um sie zu erhalten.
[90] Auf den ersten Blick überraschend, und doch ganz einleuchtend: Denn was geschieht mit den Ersparnissen der Welt? Soweit sie nicht Kultureinrichtungen schaffen, dienen sie den Produktionseinrichtungen; eiserne Bestände und goldne Schätze sammeln in mäßigem Umfang die Staaten; der Rest geht auf in wirtschaftlicher Anlage, und mit ihm wachsen die Bestände der papiernen Abbilder, der gedruckten Umlaufsformulare. Diese Vermehrung der werbenden Anlagen aber muß andauern, solange die Bevölkerungen sich vermehren und solange der einzelne an käuflichen Erzeugnissen weniger besitzt als er sich wünscht.
Entsprechend wächst die Weltinvestition. Sie wächst um genau soviel jährlich, als nach Deckung des Verbrauchs, des Kultur- und Verteidigungsaufwandes an Arbeitseinkommen und Renteneinkommen erspart wird. Die Ersparnis am Arbeitseinkommen ist verhältnismäßig gering; es ist zweifelhaft, ob sie im Verhältnis zum Arbeitseinkommen wächst, solange der durchschnittliche Verbrauchswille ungesättigt ist. Die jährliche Weltinvestition besteht somit im wesentlichen aus Kapitalrente nach Abzug des verzehrenden Verbrauches der Kapitalsbesitzer. Dieser Verzehr hängt ab von einer Reihe von Faktoren, die mit der Höhe der Gesamtrente durchaus nichts zu tun haben: von der Verteilung der Rentenabschnitte, von den durchschnittlichen Ansprüchen der Lebensführung, von sittlichen Werten. Wäre alles Weltkapital im Besitze eines einzelnen und verschwände somit der Verzehr zu minimem Verhältnis, so könnte ohne Lebensgefahr der Wirtschaft, und somit tatsächlich, die Rente und mit ihr der Durchschnittszinssatz [91] der Welt niemals geringer sein, als dem Aufwand entspricht, dessen die Weltwirtschaft für Ergänzung und Erweiterung ihrer Anlagen bedarf.
Die Rente ist somit dem Grunde und dem Umfang nach bestimmt durch den Bedarf der Weltinvestition; sie ist die Zwangsrücklage der Welt zum Zwecke der Aufrechterhaltung ihrer Wirtschaft; sie ist eine Produktionssteuer, die erhoben wird an jedem Punkte der Gütererzeugung, und zwar an erster Stelle; sie ist unvermeidlich, auch wenn alle Produktionsmittel in einer Hand liegen, gleichviel ob eines einzelnen, eines Staates oder einer Staatengemeinschaft; sie läßt sich lediglich vermindern um den Verzehr der Kapitalbesitzer.
Somit hat die Verstaatlichung der Produktionsmittel keinen wirtschaftlichen Sinn; umgekehrt bringt die Vereinigung des Kapitals in wenigen Händen an sich keine andere wirtschaftliche Gefahr, als die der Willkür in Verbrauch und Investitionsform; da aber die letztere unter dem Bilde der Konkurrenz der Renten sich einwandfrei bewährt hat, so hätte die rein wirtschaftliche Sorge gerechter Aufteilung sich auf den Verbrauch zu beschränken. Die Rente an sich ist unabweislich zur Deckung der jährlichen Weltinvestition; entscheidend ist auch nicht die Frage, wer sie bezieht – sofern sie nur schließlich ihrem Investitionszweck zugeführt wird — sondern die Frage, ob und wieweit der Beziehende das Recht hat, ihren Ertrag zu Lasten der Gemeinschaft für unersprießlichen Aufwand zu verwenden oder für Genuß zu vergeuden. Wirtschaftspolitik wird Verbrauchspolitik.
Die gerechte Sorge hat sich indessen weiter zu erstrecken; zunächst auf die Machtfrage. Wäre [92] alles Kapital in den Händen eines vernünftigen Menschen, so wäre sein relativer Selbstverbrauch sehr gering; alle ersparte Rente flösse in verständiger Auswahl den Unternehmungen zu, um ihre Leistung zu steigern, und insofern wäre dieser Mensch ein nützlicher Verwalter der Weltwirtschaft. In einem andern Sinne wäre er es nicht. Denn von seiner Gunst hinge alles Menschlich-Wirtschaftliche, alles Politische, zuletzt sogar alles Kulturelle ab. Auf seinen Wink würde dieser erhöht, jener erniedrigt, diese Landschaft bevorzugt, jene verwüstet; an seine Abmachungen könnte er jede Gegenleistung binden, die Freiheit der Welt wäre zerstört: denn Besitz in seiner heutigen Form ist Macht.
Eine weitere Frage schließt sich an: die des ungerechten Anspruchs. Gelänge es auch, durch Beschränkung des übermäßigen Verbrauchs die Rente zu verkleinern, so wäre noch immer keine Gewähr gegeben, daß der Anteil der untern Stände am Weltbesitz sich erhöhte. Monopole, Risikogewinne, Schwindel können sich einschieben, Rentner und Erben können sich von der Gemeinschaft leistungslos ernähren lassen; ein Drohnenstaat entsteht im Staate.
Scheidet das sozialistische Mittel der Kapitalsverstaatlichung aus, weil es undurchführbar und wirkungslos ist, so erhebt sich mithin die unlösbar scheinende Antinomie: Vermögensansammlung verringert den relativen Verbrauch und somit die Rente, gefährdet jedoch das Machtgleichgewicht; Vermögensaufteilung vermindert die Machtansammlung, steigert aber den Verbrauch und verringert die Leistungsfähigkeit der Rente. Zu beiden [93]
Alternativen tritt die Gefahr des ungerechten Anspruchs.
Das Bild eines ähnlichen Zwiespalts bietet uns die Natur der Erde in ihrem großen Werke der Bewässerung. Ein ausschließliches System gewaltiger Ströme würde die Wassermassen verlustlos zusammenhalten, jedoch, unbändig in der Handhabung, die Flächen verdorren lassen; ein enges Netz von Qu...

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Das Ziel
  3. Der Weg