|7|Verlust der Geschichte
â oder wie unterhaltsam ist die Vergangenheit?
Am Dienstag, den 7. 7. 2009 machte die Geschichte Pause. In den öffentlichen und den meisten privaten Fernsehsendern gab es keine Abendnachrichten: keine Unruhen im Iran oder in China, keine Finanzkrise, kein Auftritt Obamas â nichts. Stattdessen: drei Stunden Ăbertragung der Trauerfeierlichkeiten, d.h. einer Unterhaltungsshow, zum Tod des âKing of Popâ, Michael Jackson. Ein Teilnehmer Ă€uĂerte spĂ€ter im Interview: âEs war groĂartig, es war einmalig, das ist Geschichteâ!
Das mag ein extremes Beispiel sein, aber dass Unterhaltung Geschichte wird und Geschichte ausdrĂŒcklich unterhaltsam sein soll â das erleben wir immer öfter. In wenigen Jahren ist ein breiter und differenzierter Markt fĂŒr Geschichte entstanden, auf dem gelernte Historiker mit unterschiedlichen |8|Studienwegen und AusbildungsintensitĂ€ten sehr gute Chancen haben. Eine neuerdings boomende private Kulturwirtschaft braucht Kulturunternehmer, vom Organisator oder Mitwirkenden an âLiving-History-Eventsâ ĂŒber das Angebot von Recherche- oder ErzĂ€hldienstleistungen fĂŒr Unternehmen bis zum Reiseleiter oder âDestinationsmanagerâ im Kulturtourismus. Chancen haben vor allem breit ausgebildete Historiker, solche, die auch von Antike und Mittelalter eine Ahnung haben und solche Historiker, die es verstehen, eine aktuelle Nachfrage zu bedienen oder gar neue BedĂŒrfnisse zu wecken.1 Pars pro toto sei aus einer Werbeanzeige in der FAZ zitiert: âBraunschweig lĂ€dt ein zum âKaiserjahrâ. Die Löwenstadt feiert das 800-jĂ€hrige KrönungsjubilĂ€um Kaiser Ottos IV. [âŠ] FĂŒr einen vergnĂŒglichen Rundgang durch die Stadt steht Besuchern [âŠ] ein Zeitgenosse Ottos zur Seite: Per Audioguide begleitet Gunzelin von WolfenbĂŒttel, der Truchsess des Kaisers, Individualtouristen als virtuelle, jedoch historisch verbĂŒrgte Figur [âŠ] In den Monaten Juli und Oktober [âŠ] steht die Kaiserstadt ganz im Zeichen |9|der alten Kunst des Minnesangs. Unter dem Motto âHerr keiser, sit ir willekomenâ rufen SĂ€nger nach mittelalterlichem Vorbild [âŠ] zum Wettstreit nach Braunschweig [âŠ] Mit spannenden SchaukĂ€mpfen, historischen KostĂŒmen und mehr als dreihundert Akteuren lĂ€dt das âGroĂe Braunschweiger Ritterturnierâ Jung und Alt an einen geschichtstrĂ€chtigen Ort ein. Am Kloster Ridaggshausen am Stadtrand der Kaiserstadt können Sie SchwertkĂ€mpfe zu FuĂ und mit Pferden erleben [âŠ]â usw.2 Hier tut sich ein neues Berufsfeld fĂŒr Historiker auf. In der deutschen Ăffentlichkeit scheint sich ein noch vor wenigen Jahren unvorstellbares allgemeines Interesse an der Vergangenheit durchgesetzt zu haben. Handelt es sich um ein artikuliertes Geschichtsbewusstsein oder um ein etwas naives BedĂŒrfnis, sich selbst in ein positives VerhĂ€ltnis zum eigenen Herkommen zu setzen â und das auch nicht nur, soweit die eigene Lebensgeschichte direkt betroffen ist, sondern mit langem Atem und jahrhunderteweit in die Vergangenheit zurĂŒckreichend? Oder ist hier ein ganz anderes BedĂŒrfnis am Werk, |10|in diversen MischungsverhĂ€ltnissen mit den zuvor genannten Faktoren? Noch vor 30 Jahren grĂ€mten sich die Historiker ĂŒber das, was sie âVerlust der Geschichteâ nannten und wozu GroĂe des Fachs von Hermann Heimpel3 ĂŒber Alfred Heuss4 bis zu Reinhart Koselleck5 und Thomas Nipperdey6 bedeutende AufsĂ€tze schrieben. Heute dagegen wird ein âOverkill an Erinnerungâ kritisiert und der vielfach diagnostizierte Geschichtsboom kritisch beĂ€ugt. Demnach kann also von einem âVerlust der Geschichteâ nicht mehr die Rede sein â oder etwa doch?
Zweifellos hat die Stadt Braunschweig fĂŒr die Planung und Ausgestaltung ihrer FestivitĂ€ten eine der zahlreichen neugegrĂŒndeten, kommerziell arbeitenden Agenturen beauftragt, der gelernte Historiker angehören. Es sind vielfach Freiberufler, die so die Geschichte verkaufen. Der Doppelsinn dieser Formulierung ist nicht unbedingt polemisch gemeint, er soll nur auf die Marktförmigkeit dieser Art des Umgangs mit Geschichte hinweisen. Verkaufen lĂ€sst sich ein Produkt |11|umso besser, je attraktiver es fĂŒr die Kunden ist. Und Kunde ist auf diesem neuen Geschichtsmarkt potentiell jeder, der sich ein historisches KostĂŒmfest oder eine historische Doku-Soap anschaut. Attraktiv fĂŒr ein breites Publikum wiederum â so viel kann man ohne groĂe Bedenken behaupten â wird Geschichte in dem MaĂe, wie sie unterhaltsam ist. Diese Dimension â der Unterhaltsamkeit von Geschichte â soll im Folgenden etwas genauer untersucht werden.
Fangen wir mit dem altmodischen Medium Buch an, so registrieren wir seit den 1980er Jahren eine Vielzahl von seriösen, durchaus wissenschaftlichen BĂŒchern, meist Synthesen, mit erstaunlichen Auflagenziffern.7 Hinzu kommen Bestseller wie Daniel Goldhagens âHitlers willige Vollstreckerâ8 oder âDer Brandâ des erklĂ€rten Geschichtsrevisionisten 9 Jörg Friedrichs, mit der Schilderung des alliierten Bombenkrieges gegen Deutschland im Zweiten Weltkrieg10 â Darstellungen die auf dem Markt auch von einer gewissen âemotionalen Schleusenöffnungâ profitierten.
|12|Solche vielgekauften BĂŒcher bilden indessen nur ein Segment im Gesamtangebot an Geschichtsvermittlung. Dem traditionellen Kulturangebot am nĂ€chsten kommen noch die inzwischen zahllosen Museen, von den alten Tempeln der Hochkultur ĂŒber Industriemuseen und Freilichtmuseen aus BauernhĂ€usern bis hin zu stĂ€dtischen oder privatwirtschaftlich betriebenen Einrichtungen etwa zwischen einem Mammut-Museum im oberbayrischen Siegsdorf und dem DDR-Museum im Zentrum Berlins. Museumsbesuch an sich ist gut und schön, aber der allein tut es immer weniger. Viele deutsche Museen schlieĂen sich jetzt einem vor allem andernorts schon lange florierenden Trend zur Eventisierung ihrer Themen in Gestalt von âLiving-Historyâ-AuffĂŒhrungen an. KostĂŒmierte Interpreten stellen an restaurierten oder rekonstruierten âOriginalâ-SchauplĂ€tzen das Leben in bestimmten Epochen dar.11 Dem Trend zur Eventisierung kann derzeit kaum ein TĂ€tigkeitsfeld entgehen, selbst das extrem trockene der Wissenschaft nicht, wie wir spĂ€testens seit EinfĂŒhrung der âLangen Nacht |13|der Wissenschaftâ in Berlin 2001 wissen. Hinzu kommt das entweder kommerziell oder von engagierten Laien getragene âRe-Enactmentâ. Besonders beliebt ist das Nachspielen von Schlachten oder von Ereignissen wie dem Durchmarsch der französischen Truppen durch das Brandenburger Tor im JubilĂ€ums-Jahr 2006, anlĂ€sslich der Schlacht von Jena/Auerstedt, des Zusammenbruchs PreuĂens, aber auch des eigentlichen Beginns der PreuĂischen Reformzeit. Mitglieder von Re-Enactment-Vereinen verbringen manchmal ihre gesamte Freizeit mit der, wie sie meinen, lebensechten Inszenierung vergangener Lebenswirklichkeiten.12 Das Beispiel Braunschweig ist gar nichts Besonderes. Die Stadt Trier etwa bietet regelmĂ€Ăig Re-Enactments mit ansprechenden Titeln wie: âVerrat in den Kaiserthermenâ oder âDas Geheimnis der Porta Nigraâ.13
Die Publikumsresonanz bei alledem ist gewaltig. Das DDR-Museum verzeichnete im Jahr 2008 mehr als 308.000 Besucher.14 Etwa die HĂ€lfte aller BundesbĂŒrger geht gelegentlich, ein Drittel regelmĂ€Ăig |14|ins Museum. Die MaĂstĂ€be haben sich verschoben: Wurden Mitte der 1970er Jahre nur rund 25 Millionen Besucher in deutschen Museen gezĂ€hlt, waren es 2002 bereits 103 Millionen.15 Die âWehrmachtsausstellungâ mit dem Titel âVernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944â â hochkontrovers und mit einer sehr wenig unterhaltsamen These, zog von 1995 bis 1999 ĂŒber 800.000 Besucher an.16 VerblĂŒffend sind auch die Angebote und Zuschauerzahlen des Fernsehens. Jörg -Pilawas âGeschichtsquizâ in der ARD sahen 2006 mehr als 6 Millionen Zuschauer. Als sehr erfolgreich haben sich auch Living-History-Programme erwiesen, wo im Sinne von Reality-TV die Kamera das alltĂ€gliche Zusammenleben von Menschen unter auĂergewöhnlichen Bedingungen beobachtet. So prĂ€sentierte der SĂŒdwestfunk vor einigen Jahren die Serie âSchwarzwaldhaus 1902â als vierteilige Dokumentation der âZeitreiseâ der Familie Boro.17 In solchen Produktionen ĂŒbernehmen meist âZeitschleusenâ wie Kutsche, Bahn oder Segelboot die Aufgabe der Zeitmaschine, die man aus George Wells |15|Science-Fiction-Klassiker âDie Zeitmaschineâ kennt â mit dem Unterschied, dass der Protagonist, der bei Wells in eine dĂŒstere Zukunft reist, seine heutige Zeitreise in eine oft als romantisch empfundene Vergangenheit antritt.18
Auch wirklich dĂŒstere Vergangenheiten werden in der massenmedialen GeschichtsprĂ€sentation nicht ausgelassen. Ich spreche jetzt nicht von der Knoopschen Hitler/NS- und Vertreibungsfilmfabrik im ZDF. Hinweisen möchte ich stattdessen auf zwei âheimliche Miterzieherâ in Sachen Geschichte, die uns akademischen Historikern vermutlich am fernsten stehen: das Computerspiel und der Comic. Bei den Computerspielen meine ich solche, die suggerieren, dass der Spieler selbst gestaltend und entscheidend in eine historische Epoche eintaucht. Insgesamt wurden in Deutschland 2007 rund 50 Millionen Computerspiele verkauft.19 Die Werbung verspricht dann, dass der Spieler âdie gröĂten Schlachten Napoleonsâ nachspielen oder âgrandiose historische Massenschlachtenâ erleben kann.20 Ihr beliebtestes Thema |16|ist sowohl in Deutschland wie international der Zweite Weltkrieg. In chronologischen Fragen sind die Hersteller und ihre Werber nicht kleinlich: âErleben Sie ĂŒber 500.000 Jahre Menschheitsgeschichte dieser einzigartigen Strategie-Sammlungâ; oder es wird versprochen, den Spieler zum âFeldherrn ĂŒber die gewaltigsten Armeen der Zeitgeschichteâ zu machen â das Ganze spielt freilich im antiken Rom.21
Geht es bei den Computerspielen vor allem um Schlachtgeschehen und Spitzenleistungen der Waffentechnik, so nimmt sich der historische Comic seit Art Spiegelmans âMausâ von 1983 gerne Adolf Hitler, das Konzentrationslager, den Holocaust ĂŒberhaupt vor. 1989 erschien der Comic âHitlerâ von Friedemann BedĂŒrftig und Dieter Kahlenbach und erhob den Anspruch, mit der Biographie Hitlers auch die Geschichte des Faschismus in Deutschland insgesamt zu erzĂ€hlen.22 Die 2002 auf den Markt gebrachte Graphic-Novel â wie solche StĂŒcke jetzt genannt werden mit dem Titel âAuschwitzâ (von Pascal Croci) will ausdrĂŒcklich |17|als realistischer Comic ĂŒber die Shoa gelten. Croci zufolge geht es in seinem Comic darum, âAlltagsbegebenheiten [zu zeigen], fĂŒr die sich Geschichtswissenschaftler nicht so interessierenâ.23 Zu alledem gibt es aufschlussreiche Literatur und Selbstzeugnisse der Macher. Eine Holocaust-Comiczeichnerin zum Beispiel bekennt, es wĂ€re schon nĂŒtzlich, wenn bei ihrer Arbeit jemand dabei wĂ€re, der âvon der Sache eine Ahnung hatâ.24 Allerdings handelt der historische Comic nicht nur vom Holocaust. In Gestalt der Asterix-Hefte beschĂ€ftigt er sich schon seit Jahrzehnten mit den alten Galliern; oder er nimmt sich zum Beispiel Albrecht DĂŒrer vor. Die Zeichnerin, der vorgehalten wurde, sie diskutiere nicht, ob DĂŒrer schwul war, erklĂ€rte, ihr Comic wolle nicht jedes Detail vermitteln, sondern vielmehr ein GefĂŒhl fĂŒr AtmosphĂ€re und den Alltag zur Zeit DĂŒrers.25
Wir brauchen bei dieser Art von Geschichtsvermittlung dringend Spielverderber â und wer soll das sein, wenn es nicht die professionellen Historiker sind. Andererseits stellen sich doch weiterfĂŒhrende |18|Fragen: Stehen die professionellen Historiker wirklich so ganz auĂerhalb dieser Praktiken der Geschichtsvermittlung? Ist diese Art, mit Geschichte umzugehen, wirklich ganz neu? Was bedeutet sie fĂŒr den Geschichtsunterricht in den Schulen? Der Comic zum Beispiel ist lĂ€ngst ein von international besetzten Kommissionen erörtertes Unterrichtsmittel zum Holocaust geworden. Praktisch ist das Argument nicht zu schlagen, diese Medien erlaubten es lesefernen Schichten und Gruppen, etwas ĂŒber Geschichte zu erfahren. Mehr oder weniger untergrĂŒndig spĂŒrt man dabei auch in den Verlautbarungen der âHistotainerâ immer wieder ihre AttitĂŒde, Dinge zu zeigen und Vermittlungsformen nutzen zu wollen, die die akademischen Historiker in ihrem sprichwörtlichen Elfenbeinturm bornierterweise ĂŒbersehen hĂ€tten oder geringschĂ€tzten. Andererseits: Welcher gelernte Historiker hat nie Umberto Ecos âIm Namen der Roseâ oder sonstige historisierende Romane wie Ken Folletts âSĂ€ulen der Erdeâ, den âMedicusâ von Noah Gordon â oder gar Dan Browns âIlluminatiâ oder âSakrilegâ |19|gelesen.26 Es gibt Historiker, die in vollkommener Abstinenz von solchen Medien leben wahrscheinlich nicht â und sie sind auch nicht erstrebenswert; es wĂ€re dann ein erheblicher Mangel an PhantasiebedĂŒrfnis zu beklagen. Jedenfalls: Die Massenmedien prĂ€gen wesentlich die zeitgenössische Geschichtsvermittlung, gut lesbare BĂŒcher und das Fernsehen ebenso wie schlechte od...