Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft
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Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft

Vier Gestalten des (Un-)Glaubens

  1. 282 Seiten
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Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft

Vier Gestalten des (Un-)Glaubens

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Religiosität und Spiritualität zeigen sich in der Schweiz - so die These dieser Studie - in vier grossen Milieus: "Institutionelle" sind traditionell und freikirchlich christlich, "Alternative" setzen auf Esoterik und spirituelle Heilung, "Säkulare" sind indifferent oder religionsfeindlich. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung aber gehört den "Distanzierten" an. Ihnen ist Religion nur in bestimmten Situationen wichtig, ihre religiösen und spirituellen Überzeugungen sind oft diffus. Anhand repräsentativer Umfragen und Tiefeninterviews zeigen die Autoren, wie sich diese Milieus innerhalb der letzten fünf Jahrzehnte aufgrund von Wertwandel und sozialen Trends tiefgreifend verändert haben.

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Information

1 Einleitung

Jörg Stolz, Judith Könemann
The way to God is by our selves
Phineas Fletcher
Wie immer man die heutige Gesellschaft charakterisiert – keine soziologische Beschreibung wird darum herumkommen, dem einzelnen Menschen, dem Individuum, einen hervorragenden Platz einzuräumen. Nie zuvor hat der einzelne Mensch eine solche Vielzahl von Entscheidungen in ganz eigener Sache treffen können, sei es in schulischer, politischer, ökonomischer, den Lebensstil betreffender, sexueller – oder auch religiöser Hinsicht. Nie zuvor hatte er so viel selbst zu verantworten, so viel allein zu bewältigen und zu verarbeiten, wenn seine Lebenspläne nicht gelangen. Nie zuvor schliesslich musste der Einzelne den Sinn seines Erlebens und Tuns so sehr aus sich selbst und aus den Konsequenzen seiner Entscheidungen schöpfen. In diesem Sinne leben wir heute in einer Ich-Gesellschaft.

1.1 Zentrale Fragestellung

Auf den kürzesten Nenner gebracht, analysiert unsere Studie, welchen Einfluss die so gekennzeichnete Ich-Gesellschaft auf Religiosität, Spiritualität und Säkularität ausübt. Genauer formuliert, geht es uns darum zu erforschen:
  • welche zentralen religiös-sozialen Typen in der Gesellschaft auszumachen sind. Als Typen bezeichnen wir dabei grosse Gruppen von Menschen, die sich durch gemeinsame Wahrnehmungen, Werte und sozialstrukturelle Merkmale wie auch soziale Grenzen auszeichnen;5
  • welche religiösen und spirituellen Glaubensüberzeugungen, Praktiken, Werte und Wahrnehmungen diese religiös-sozialen Typen aufweisen; |11|
  • wie sich die Religiosität, Spiritualität und Säkularität der Typen in den letzten Jahrzehnten verändert haben und wie dieser Wandel zu erklären ist.
Jedes Kapitel unseres Buches liefert einen spezifischen Teil der Antworten auf diese Fragen.

1.2 Bisherige Antworten

Natürlich liegt schon jetzt eine umfangreiche Literatur vor, die versucht, die religiös-sozialen Veränderungen der letzten Jahrzehnte in westeuropäischen Ländern zu beschreiben und zu erklären. Die gegenwärtig bekanntesten Theorien sind die Säkularisierungstheorie, die Individualisierungstheorie und die Markttheorie.6 Gemäss der Säkularisierungstheorie haben Elemente der Modernisierung dazu geführt, dass Religion sowohl im öffentlichen als auch im privaten Leben immer unbedeutender wird.7 Gemäss der Individualisierungstheorie ist es nicht etwa zu einer Abnahme der Religiosität gekommen, sondern dazu, dass die Religiosität immer individueller und vielgestaltiger wird.8 Die Markttheorie schliesslich benutzt ökonomische Einsichten, um religiöse Veränderungen zu erklären. Ihr gemäss leben wir zunehmend in einem religiösen Markt mit religiösen Anbietern (Kirchen) und religiösen Kunden (Gläubige). Da der religiöse Markt in europäischen Ländern stark reguliert sei (d. h. kein freier Markt herrsche), würden sich die Menschen immer mehr von Religiosität entfernen. Erst wenn der Markt liberalisiert würde und neue Anbieter auf den Markt kämen, könne es wieder zu einem religiösen Aufschwung kommen.9 Alle drei Theorien überzeugen jedoch – wie wir in diesem Buch zeigen werden – nur zum Teil. Vor allem gelingt es ihnen nicht, die Gesamtheit der Phänomene befriedigend zu erklären, die Tatsache also, dass wir sowohl religiösen Niedergang als auch Aufschwung sehen, mehr religiöse Individualisierung, aber auch mehr Fundamentalismus, mehr religiöse Freiheit, aber auch mehr religiöse Indifferenz. Genau an dieser Stelle setzt unser eigener Beitrag an. Wir versuchen, eine befriedigendere Antwort auf die oben gestellte Leitfrage zu geben, und zwar mit einer Typologie, einer Theorie und einer These. |12|

1.3 Eine neue Typologie

Ein erster Teil unserer Antwort auf die Frage, wie die Menschen in der Ich-Gesellschaft Religiosität, Spiritualität und Säkularität erleben, besteht in einer neuen Typologie. Auf einer abstrakten Ebene unterscheiden wir vier Typen: die Institutionellen, die Alternativen, die Distanzierten und die Säkularen. Jeder der Typen lässt sich anschliessend in Untertypen unterteilen. Der Sinn der Typologie besteht zunächst einmal darin, die komplexe Welt zu vereinfachen. Wer aufmerksam zuhört, wie heute Menschen in der Schweiz und anderen westeuropäischen Ländern von ihrer Religiosität, Spiritualität oder Religionslosigkeit berichten, wird zunächst mit einer riesigen Vielfalt konfrontiert. Dazu nur einige wenige Beispiele: Die 50-jährige Witwe Mima hat sich unter dem Eindruck verschiedener Todesfälle in der Familie von der katholischen Kirche distanziert. Aus ihr selbst nicht ganz verständlichen Gründen war sie auf das Schicksal, Gott und die Kirche wütend. Ganz anders Barnabé, ein 58-jähriger Landwirt. Er hat sich als junger Mann zum christlichen Glauben bekehrt, ist mit seiner Frau einer Freikirche beigetreten und bekleidet heute in dieser Gemeinde das Amt des Ältesten. Keinerlei Stabilität dieser Art findet man in der noch vergleichsweise kurzen Lebensgeschichte der 24-jährigen Studentin Julie. Sie wurde katholisch erzogen, durchlief eine atheistische Phase, fühlte sich dann von Esoterik und Buddhismus angezogen und interessiert sich seit dem plötzlichen Tod ihres Vaters wieder für das Christentum, nun allerdings das orthodoxe. Der 39-jährige Ingenieur Siegfried erzählt nochmals eine ganz andere Geschichte. Als er sich mit seiner Frau fragte, ob sie ihre zwei Kinder taufen lassen wollten, fiel die Antwort negativ aus. So zog das Paar die Konsequenz – und trat aus der Kirche aus. Betrachtet man die hier genannten Religiositätsformen im biografischen Kontext, so fällt zunächst das je Einzigartige jeder Person auf. Vermehrt man jedoch die Beispiele, so zeigt sich, dass im Hintergrund der einzelnen Lebensgeschichten immer wiederkehrende soziale Formen auszumachen sind, die sich als Typen und Milieus beschreiben lassen. In diesem Buch versuchen wir zu zeigen, dass Mima, Barnabé, Julie und Siegfried verschiedenen gut unterscheidbaren religiös-sozialen Typen und Milieus angehören, mit deren Hilfe wir besser verstehen, welchen religiösen Wandel die Schweiz in den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat. Wichtig ist hierbei die Idee, dass wir die zentralen Eigenschaften, wie sie die eingangs gekennzeichnete Ich-Gesellschaft hervorbringt, in allen Typen wiederfinden. In allen Typen etwa erzählen uns die Menschen, wie sie sich in Bezug auf ihre Glaubensansichten und Praxis ganz auf sich selbst verlassen. Die Inhalte, Praxisformen und Glaubensansichten der einzelnen Typen unterscheiden sich dann jedoch drastisch. |13|

1.4 Eine neue Theorie

Es geht uns allerdings nicht nur um die Beschreibung der Typen, sondern auch um deren Erklärung. Hierfür stellen wir in Kapitel 2 eine neue Theorie religiös-säkularer Konkurrenz vor. Gemäss dieser Theorie finden wir in allen Gesellschaften religiöse und säkulare (kollektive) Akteure, die um drei Dinge streiten: Macht in der Gesellschaft, Macht innerhalb von Gruppen/Organisationen/Milieus und individuelle Nachfrage. Um in dieser Konkurrenz bestehen zu können, verwenden die kollektiven Akteure verschiedene Strategien: Sie versuchen z. B. ihre Mitglieder zu mobilisieren, politische Aktionen zu starten, Skandale zu provozieren, Koalitionen einzugehen, attraktive Güter anzubieten usw. Hierbei werden sie von vier externen Faktoren beeinflusst: von wissenschaftlich-technischen Innovationen (z. B. Erfindung des Fernsehens), sozialen Innovationen (z. B. Erfindung der Demokratie), Grossereignissen (z. B. Kriege) und soziodemografische Faktoren (z. B. unterschiedliche Geburtenraten). Die Konkurrenzkämpfe führen im Effekt zu diversen höchst interessanten Ergebnissen, deren Erklärung das Ziel der Theorie ist. Neben Erfolg und Misserfolg der verschiedenen Konkurrenten kommt es zu Pattsituationen und Absprachen sowie Situationen der Differenzierung und Entdifferenzierung, Individualisierung und Kollektivierung, Säkularisierung und Resakralisierung. Befriedigende Erklärungen liefert die Theorie allerdings nur, wenn sie an den jeweiligen historischen Verlauf angepasst wird, weshalb wir im Kapitel 2 die Geschichte des säkular-religiösen Konkurrenzgeschehens in der Schweiz seit ca. 1800 nachzeichnen. Aus der so durch die historischen Randbedingungen konkretisierten Theorie können wir eine Reihe von Hypothesen ableiten, die im Verlauf der Arbeit geprüft werden.

1.5 Die These des Regimewechsels religiös-säkularer Konkurrenz

Ein dritter Teil unserer Antwort besteht aus der These eines Regimewechsels religiös-säkularer Konkurrenz in den 1960er Jahren. In diesem Zeitraum, so unsere These, ist es zu einer kulturellen Revolution gekommen, die wir als einen Wechsel vom «Regime der Industriegesellschaft» zum «Regime der Ich-Gesellschaft» bezeichnen wollen.10 Vor dem Hintergrund eines beispiellosen Wirtschaftsaufschwungs von 1945 bis 1973 (das «Wirtschaftswunder») kam es in den 1960er |14| Jahren zu einer kulturellen Revolution, bei der Autoritäten aller Art angegriffen und das Individuum in seiner Eigenständigkeit zentral gesetzt wurde. Die sich seit der Aufklärung immer stärker durchsetzenden Ideen der Subjektivität, Freiheit und Selbstbestimmung wurden zum bestimmenden Lebensgefühl der Menschen. Damit avancierte das Individuum zur Letztinstanz von Entscheidungen aller Art, seien es politische, familiäre, ökonomische, konsumorientierte, sexuelle – oder eben auch religiöse. Sowohl im alten wie auch im neuen Regime finden wir religiös-säkulare Konkurrenz auf allen drei Ebenen: um Macht in der Gesellschaft, um Macht innerhalb von Gruppen/Organisationen/Milieus, um individuelle Nachfrage. Aber der zentrale Punkt, um den es sich in der Konkurrenz dreht, hat sich völlig verändert. Im alten Regime der Industriegesellschaft war Religion und Konfession ein für die Gesellschaft zentrales kollektives Identitätsmerkmal, und das Christentum wurde als verbindendes Grundmerkmal der Gesellschaft betrachtet. Im neuen Regime der Ich-Gesellschaft gilt dies nicht mehr. Religion und Konfession werden als private und optionale Identitätsmerkmale gesehen, und das Christentum wird mehr und mehr als nur eine Religion unter anderen behandelt. Im kollektivistischen Regime der Industriegesellschaft ging man von der selbstverständlichen Vorherrschaft des Christentums aus – die wichtigsten religiös-säkularen Konkurrenzen bezogen sich auf die Frage, wie viel Platz Reformierte oder Katholiken einnehmen konnten oder wie stark alternative Wertsysteme das Christentum bedrängten. Im individualistischen Regime der Ich-Gesellschaft ist die wichtigste religiös-säkulare Konkurrenz diejenige um individuelle Nachfrage. Religiöse Praxis wird nicht mehr sozial erwartet; sie gehört nicht mehr zur öffentlichen Person; vielmehr wird sie in den Bereich der Freizeit abgedrängt, wo sie sich gegen eine starke Konkurrenz mit anderen Formen von «Freizeitbeschäftigung» und «Selbstentfaltung» behaupten muss.11
Das neue Regime der Ich-Gesellschaft hat nun in den letzten Jahrzehnten zu verschiedenen Effekten auf individueller wie auch kollektiver Ebene geführt. Auf individueller Ebene zeigen sich vor allem Tendenzen des «säkularen Driftens» und der fortschreitenden religiös-säkularen Individualisierung und Konsumorientierung. In sehr vielen Bereichen der Konkurrenz wählen Individuen die säkularen und nicht die religiösen Optionen. Andere Zeitverwendungen (Ausschlafen, Sport usw.) verdrängen den Kirchgang am Sonntagmorgen; säkulare Berufsgruppen (z. B. Psychologen, Coaches) nehmen die Stelle des kirchlichen Seelsorgers ein. Säkulare Erklärungen (z. B. Big Bang, Evolution) werden immer öfter als plausibler angesehen als religiöse Erklärungen (z. B. Schöpfung). Insbeso...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelei
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Vorwort
  6. 1 Einleitung
  7. 3 Vier Gestalten des (Un-)Glaubens
  8. 4 Identität und Sozialstruktur
  9. 5 Glauben, Wissen, Erfahren, Handeln
  10. 6 Werte und Wertewandel
  11. 7 Kirchen, Freikirchen und alternativ-spirituelle Anbieter
  12. 8 Die Wahrnehmung und Bewertung von Religion(en)
  13. 9 Der Wandel von Religiosität, Spiritualität und Säkularität
  14. 10 Schluss: Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft
  15. 11 Literatur
  16. 12 Anhang