1. Wer sind eigentlich die Kurden?
Die Kurden sind das größte Volk im Nahen Osten, das keinen eigenen Staat besitzt. Da sich ihr heutiges Siedlungsgebiet auf die östliche Türkei, den Iran, den nördlichen Irak und Syrien erstreckt, existieren keine genauen Zahlen über ihre Gesamtpopulation. Es gibt jedoch Schätzungen. Einige gehen von insgesamt mehr als 22 Millionen aus. Davon leben zwölf bis 15 Millionen in der Türkei1, sechs bis sieben Millionen im Iran, vier bis fünf Millionen im Irak und circa eine Million in Syrien. Die Kurden in der Türkei stellen ungefähr 20 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes dar.
Für den Poeten und Mitbegründer der kurdischen Nationalliteratur im 19. Jahrhundert Hadschi Kadiri Koyi lag das kurdische Territorium, genannt Kurdistan, zwischen dem Mittelmeer, dem Schwarzen Meer, dem Urmiasee im Iran und dem Berg Hamrin im Irak. Faktisch erstrecken sich die kurdischen Siedlungsgebiete heute jedoch über eine weitaus kleinere Region. In der Türkei bilden die Städte Erzurum und Gaziantep die Nord- und Westgrenze, ab der man von größtenteils kurdisch bewohnten Gebieten sprechen kann. Ein Volk wäre jedoch noch keine eigenständige Ethnie, hätte es nicht eine eigene Sprache, in unserem Falle das Kurdische, das durch seine etlichen Dialekte selbst unter den Stämmen einer Region in verschiedensten Variationen zu Tage tritt. Der am meisten verbreitete Dialekt ist das Kurmandschi, das etwa 65 Prozent aller Kurden sprechen. Linguisten ordnen es den indogermanischen Sprachen zu, wobei auch eine Verwandtschaft mit dem Persischen bestehen soll. Das Zazaki, das noch näher am Persischen ist, gilt zwar nicht mehr als Dialekt des Kurdischen, wird aber von zwei bis drei Millionen Kurden in der Türkei gesprochen.
Aber was hält diese Menschen zusammen und definiert sie als „Volk“? Für Ethnologen wie Jean-Loup Amselle und Guy Nicolas teilen Menschen, die einer Ethnie angehören, vor allem ein Kollektivbewusstsein. Nicolas beschreibt dies wie folgt: „Ihr Miteinander ist verwurzelt in einer gemeinsamen Vergangenheit, die mehr oder weniger mythisch ist.“2. Im kurdischen Kollektivbewusstsein ist ihre Geschichte als Bergnomaden und das Verlangen nach Souveränität ihres Vaterlandes, Kurdistan, verankert. Die gemeinsame Vergangenheit als „zerrissenes“ Volk ist für deren Kollektivbewusstsein weitgehend konstituierend.
Bis in das 20. Jahrhundert lebten Kurden in Stammesgesellschaften. Jeder Stamm hatte ein Oberhaupt, das das moralische und kulturelle Leben regelte. Das Stammesoberhaupt traf die wichtigen politischen Entscheidungen und auf seinen Befehl hin führte ein Stamm Feldzüge. Oft waren die Stämme untereinander verfeindet und führten Blutfehden. Sie verbanden sich aber auch in Kämpfen gegen Großmächte. Der wohl größte Zusammenschluss der kurdischen Stämme war der unter Scheich Ubaydallah, der die meisten kurdischen Stämme in Persien zusammenschloss und dort für Furore sorgte. Aber die Vorstellung von einem abstrakten, übergeordneten kurdischen Volk entwickelte sich erst nachdem die türkische Republik gegründet worden war. So war man sich anfangs auch nicht sicher, ob die Zaza aus der Region um das heutige Tunceli auch zur kurdischen Ethnie gehören oder nicht, da diese genau genommen keinen der kurdischen Dialekte sprechen und die meisten von ihnen dem alevitischen Glauben anhängen.
In Bezug auf Religion ist der Großteil der Kurden muslimisch. 75 Prozent von ihnen praktizieren den Sunnitischen Islam, während die restlichen 25 Prozent Schiiten, Aleviten, Christen oder Juden sind. Man findet in Kurdistan außerdem verschiedene religiöse Sekten vor allem des Islam. Diese versorgen „wichtige Teile des kurdischen Volkes“ mit „verschiedenen religiösen und sozialen Vorstellungen“3. Im Kapitel zur Kultur der Kurden wird hierauf näher eingegangen.
2. Geschichte der Kurden bis zur Gründung der Republik Türkei 1923
2.1. Das Volk zwischen Großmächten
Um genau zu sein ist die Geschichte der Kurden bis zum Aufkommen des kurdischen Nationalismus in der türkischen Republik also eher eine Geschichte von zahlreichen Stämmen. Es wäre vielleicht präziser von „Geschichten“ im Plural zu sprechen, als nur von einer einzigen, da das Bewusstsein von einem geschlossenen kurdischen Volk sich erst sehr spät bildete. Auf der anderen Seite verbündeten sich diese Stämme oft gegen die Großmächte miteinander, da sie das gleiche Stammessystem – jeweils mit einem Oberhaupt an der Spitze des Stammes – hatten und die Sprache teilten. Außerdem wollten die Oberhäupter ihre Stammesgebiete gegen die Großmächte für sich sichern. Immer ging es um ihre Rolle als Bewahrer einer Pufferzone am Rande einer Großmacht. Dabei versuchten die Stämme so gut wie möglich ihre Unabhängigkeit in ihren Gebieten zu wahren. David McDowall, britischer Experte für den Mittleren Osten, beschreibt es wie folgt:
„The pattern of nominal submission to central government, be it Persian, Arab or subsequently Turkic, alongside the assertion of as much local independence as possible, became an enduring theme in Kurdish political life.“4
Um die kurdischen Gebiete wurde insbesondere nach dem Mongolensturm im 13. Jahrhundert gerungen. Türkische und arabische Gemeinschaften hatten sich in dem Machtvakuum, das auf die mongolische Herrschaft folgte, erhoben und versuchten, nun die Region unter ihre Herrschaft zu bringen. Gleichermaßen heftig stritten Osmanen und Safawiden um das kurdische Territorium an der Grenze zwischen ihren Reichen, sodass die Kurden stets in deren militärischen Auseinandersetzungen miteinbezogen wurden, ob sie es wollten oder nicht. Die kurdischen Stämme nutzten diese Situation, um sich ein Ansehen bei den jeweiligen Großmächten zu sichern, und wurden nicht selten mit einer zusätzlichen Landzuteilung belohnt5.
Ab dem 16. Jahrhundert blieben nur noch zwei Großmächte, das Osmanische und das Safawidische Reich, in der Region übrig. In dieser Zeit entwickelten sich eher gespannte Beziehungen zwischen Kurden und Safawiden, da einige kurdische Stämme, die unter safawidische Herrschaft gebracht wurden, nicht zufrieden waren. Sie waren nicht einverstanden mit der Führungspolitik der Großmacht, die ihnen wenig regionale Eigenbestimmung zugestand. Mit den Osmanen gab es dagegen einige Übereinkommen. Kurdischen Stammeshäuptern wurden sogar regionale Führungspositionen gegeben. So konnte das Osmanische Reich bei seinen Kriegen gegen die Safawiden und danach auf die Unterstützung der kurdischen Stämme zählen. Zur Zeit der Osmanisch-Safawidischen Kriege (1532 bis 1555) wurden in den neu gewonnenen Gebieten wichtige Führungspositionen an Kurden vergeben, erneut ging es dabei darum, diese Stämme für sich zu gewinnen und politisch einzubinden.
Mit dem endgültigen Niedergang des safawidischen Reiches im 17. Jahrhundert eroberten die Osmanen dann einen Großteil ihres Landes. Damit fiel nun auch das gesamte kurdische Territorium unter osmanische Macht.
2.2. Das 19. Jahrhundert – Das Sultanreich am Abgrund
Im 19. Jahrhundert sah das Osmanische Reich seinem Untergang entgegen. Politisch sowie ökonomisch konnte die „Weltmacht aus dem Orient“ mit den westlichen Großmächten nicht mehr mithalten. Gleichzeitig kam es auch zur inneren Erosion: Unzählige Aufstände von kurdischen Fürstentümern im Südosten der heutigen Türkei schwächten das alte Reich.
„By the beginning of the nineteenth century, the weakness of the Ottoman Empire had become apparent to all. The European powers lost no opportunity to profit by it, and the subject races, sensing their masters´ declining fortunes, were beginning to stir. The Turks themselveswerepainfullyawareoftheirpredicament.“6
Um dennoch ihre politische Souveränität zu wahren und ihre Stellung im Mittleren Osten zu stärken, schwächten die Osmanen den quasi-autonomen Zustand der kurdischen...