Ruf der Pflanzen
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Ruf der Pflanzen

Historischer Roman

  1. 432 Seiten
  2. German
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Ruf der Pflanzen

Historischer Roman

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Über dieses Buch

Außer "Sugar Creek", der Zuckerrohrplantage, auf der sie aufgewachsen ist, mitten im Urwald von Guyana, kennt die Sklavin Ife nicht viel. Als 1761 der schwedische Forschungsreisende Sandquist sie für eine botanische Expedition kauft, wird sie mit der Ideenwelt der Aufklärung konfrontiert. Für die heilkundige Ife sind Pflanzen etwas Spirituelles und Heilbringendes, Teil einer Welt, in der alles miteinander verwoben ist. Doch der Wissenschaftler Sandquist gibt den Pflanzen komische Namen, systematisiert sie und presst sie in Bücher. Durch ihn lernt sie lesen und schreiben - und stellt seine Sicht auf die Dinge infrage. Diese Begegnung mit der Wissenschaft verändert Ifes Leben für immer und ist der Anfang ihres Abenteuers, das sie bis nach Europa am Vorabend der Französischen Revolution führen wird. "Der Ruf der Pflanzen" ist ein packender historischer Roman über eine starke Frau, die aller Widerstände zum Trotz nach Selbstbestimmung sucht in einer Welt im Umbruch.

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783864081804
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Dritter Teil
Algen
Belfast, 1788
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1
»Hinter diesen Vorhang, Miss, dürfen Sie niemals schauen, weder alleine noch in Begleitung.« Das waren die ersten Worte, die Lord Annington direkt an Ife richtete. Nach all den Jahren, die sie in Elisabeths Salon dabeigesessen hatte und in denen er ihr ungefähr so viel Aufmerksamkeit gewidmet hatte wie der Blumentapete an der Wand. Ife wusste, was sich hinter dem Vorhang verbarg. Elisabeth hatte es ihr eines Abends kichernd wie ein kleines Mädchen erzählt, nachdem sie einige Gläser Bier getrunken hatte. Trotzdem hätte Ife die Monstren gerne einmal mit eigenen Augen gesehen. Sie überlegte schon, wie sie der Aufsicht des Gastgebers entkommen und heimlich hinter den schweren Vorhang schlüpfen konnte. Hatten diese Engländer nie gelernt, dass das Verbotene über die Maßen die Fantasie anregte?
»Hier entlang, Miss«, sagte der Lord und fasste sie sanft am Ellbogen, als würde er ihre Versuchung spüren. Elisabeth hatte nicht einmal einen Seitenblick für den verbotenen Vorhang übrig. Die beiden Frauen folgten der einladenden Armbewegung Lord Anningtons ins Botanisierzimmer. Wie in dem Vorraum mit dem mysteriösen Vorhang hing auch hier ein beißender Geruch von Alkohol in der Luft. Eine aggressive Flüssigkeit, die sich nur schlecht mit der zarten Substanz von Blüten und Blättern verstand. Weder Mister Sandquist noch Elisabeth hatten für ihre Präparate jemals Alkohol benutzt.
In der Mitte des Raumes stand ein großzügiger Arbeitstisch mit allem Gerät, das dem Stand der modernen Wissenschaft entsprach. Schaukästen zeigten mustergültig aufgezogene Pflanzenproben und meisterhafte Tuschezeichnungen. In einer Standvitrine waren mit Flüssigkeit gefüllte Gefäße aufgereiht. Als sie sich über die Vitrine neigte, schwindelte es Ife von dem beißenden Alkoholdampf.
»Sehen Sie, Milady, darf ich Ihnen meine neuesten Erwerbungen präsentieren?«, wandte sich Lord Annington an Elisabeth. »Sie stammen vom Giant‘s Causeway, wo ich Richard auch schon die letzten Proben nehmen ließ. Interessanterweise sind dies ganz andere Arten, als wir am Mull of Kintyre sammeln konnten, obwohl die Entfernung zwischen den beiden Küstenabschnitten wahrlich nicht groß ist. Wie Sie sehen, haben wir bei den Wasserpflanzen noch eine Vielzahl von Arten zu entdecken, die in die Hunderte gehen wird. Nun bin ich mir bei der Linnéschen Klassifizierung noch nicht sicher. Vielleicht möchten Sie später einen Blick darauf werfen und mir Ihre werte Einschätzung der Angelegenheit geben, Sie sind ja durchaus bewandert auf dem Gebiet. Zunächst aber darf ich die Damen zum Tee bitten, Sie sind bestimmt erschöpft von der Fahrt.«
»Keineswegs«, gab Elisabeth kühl zurück und hielt sich weiter in Betrachtung der Vitrine die Lorgnongläser vor die Nase. »Wieso trocknen Sie sie nicht so wie die anderen Pflanzen auch?«, fragte sie in geschäftsmäßigem Ton.
»Wir müssen doch stark davon ausgehen, dass Wasserpflanzen außerhalb ihrer angestammten Umgebung zerfallen würden, schließlich fehlt ihnen die Stützkraft der Landpflanzen.«
»Was noch zu beweisen wäre. Meine Herbarproben der nordirischen Seealgen befinden sich in einem hervorragenden Zustand«, gab Elisabeth trocken zurück.
Ife staunte immer wieder in welch bissigem Ton die beiden älteren Herrschaften miteinander streiten konnten. Es war beinahe ein Ritual, dass sie spitzfindig die Worte des anderen sezierten, noch bevor sie sich zum Tee gesetzt hatten.
»Haben Sie den Aufsatz, von dem Sie mir neulich schrieben, schon bei der Linné-Gesellschaft in London eingereicht? Es würde mich sehr interessieren, wie die Herren ihn aufgenommen haben«, wechselte Elisabeth das Thema. Ife wusste nicht, von welchem Aufsatz die Rede war.
»Ich bin dabei, noch einige Korrekturen an den Schlussfolgerungen vorzunehmen, bevor ich ihn einreiche. Aber lassen Sie uns doch beim Tee darüber reden.«
Mit diesen Worten nahm er Elisabeth am Ellbogen und führte sie wieder zurück am Samtvorhang vorbei. Ife hätte nur den Arm ausstrecken müssen, um den Stoff zur Seite zu schieben, jetzt, da der Lord endlich einmal vor ihr ging. Sie tastete nach dem dunkelroten Samt, doch schon wandte der Lord den Kopf, um die Damen wieder vor sich aus dem Raum treten zu lassen.
Diese verdammte Höflichkeit der Engländer konnte Ife zum Wahnsinn treiben. Sie hatte längst gelernt, dass sie nicht mit Freundlichkeit zu verwechseln war. Im Gegenteil, sie ließ Lächeln gefrieren und Menschen zu Rohrstöcken erstarren. Sie war wie das Auge einer höheren Macht, die alles sah und bei jedem kleinen Fehltritt mit Peitschenhieben drohte. Der Peitsche der öffentlichen Verachtung. Die Höflichkeit war ein unsichtbarer Kreis um die Menschen, eine Festung, die sich nicht durchdringen ließ. Der Mangel an Höflichkeit, mit dem sich Elisabeth und Lord Annington manchmal begegneten, war dagegen ein Zeichen ihrer langjährigen Vertrautheit, fast eine Art von Zärtlichkeit.
»Die überwiegende Zahl der im Wasser lebenden Pflanzen dieser Welt werden wir wohl den Kryptogamen zuordnen können«, meinte Lord Annington, während er einen Löffel feinen weißen Zuckers in seinen Tee gab. »Was dem gesunden Menschenverstand ja auch einleuchtet: schließlich ist kein Wind und kein Insekt in der Lage, unter der Wasseroberfläche den Blütenstaub von den Staubblättern zum Stempel zu tragen.«
»Damit haben Sie aber nur Algae beschrieben. Doch wir haben auch die Wasserpflanzen, die zwar im Wasser wurzeln, aber gleichzeitig ihre Geschlechtsorgane über die Wasseroberfläche herausstrecken.«
Bei dem Wort Geschlechtsorgane verdrehte Lord Annington die Augen. Das tat er jedes Mal, wenn Elisabeth dieses Wort in den Mund nahm, das sich seiner Meinung nach für eine Lady nicht schickte, das nicht einmal in Gegenwart einer Lady ausgesprochen werden sollte. Ife konnte sich noch erinnern, wie die beiden sich an einem Tag darüber gestritten hatten, warum die Linné-Gesellschaft keine Frauen als Mitglieder akzeptierte. »Wie sollen wir denn Wissenschaft betreiben, wenn wir die Dinge nicht bei ihrem Namen nennen können, weil wir auf die zarten weiblichen Gemüter im Raum Rücksicht nehmen müssen?«, hatte Lord Annington gefragt.
»Ich habe die Dinge immer beim Namen genannt und habe dabei keinen Schaden genommen«, hatte Elisabeth entgegnet.
»Bei all meiner Wertschätzung, es gibt Herren, die durchaus das Gegenteil behaupten würden. Ich würde Ihnen nicht zustimmen, aber allgemein ist es ja doch erwiesen, dass das weibliche Geschlecht von einer zarteren Konstitution ist.«
»Den Beweis sind mir die Herrschaften noch schuldig, und die Linné-Gesellschaft wird ihn mit Sicherheit nicht erbringen.«
Seit jenem Streit benutzte Elisabeth dieses Wort mit trotziger Beharrlichkeit.
»Margaret«, riss Elisabeth sie aus den Gedanken, »beschreib uns doch bitte die Pflanze, deren Blätter größer als Teller sind und auf dem Wasser schwimmen.« Zu Lord Annington gewandt erklärte sie: »Die Pflanze, die wahrscheinlich der Gattung Nuphar angehört, kommt in ihrer Heimat vor, aber wurde angeblich noch nicht klassifiziert.«
Heimat. Sugar Creek. Der Ort, an dem Ife zur Welt gekommen war. Nach all den Jahren war er in unendliche Ferne gerückt, als hätte die Plantage nur in Ifes Träumen jemals existiert. Sie sah die schlammig braunen Pfützen auf den matschigen Wegen in der Regenzeit vor sich. Wenn sie lange genug standen, wuchsen Pflanzen mit einer Vielzahl kleiner grüner Blätter darin, und unter jedem Blatt saß eine kleine braune Kröte. Dieses unscheinbare Kraut war es nicht, von dem Elisabeth sprach. Sie meinte die Pflanze, die sie an einem Tag gesehen hatte, als sie zusammen mit den anderen aus dem Cimarrón vor den Sklavenjägern geflohen war. Die auf dem Wasser schwimmende Pflanze, deren Blüten sich in einer Nacht weiß und in der nächsten rot öffneten. Sie hatte diese Pflanze kein zweites Mal gesehen, und manchmal glaubte sie, sie hätte sie sich auch nur erträumt. Gegenüber Sandquist hatte Ife die Pflanze nicht erwähnt, denn er hätte mit Sicherheit keine Ruhe gegeben, bevor sie nicht ein Exemplar davon aufgetrieben hätten.
Lustlos gab sie nun die Beschreibung dieser Pflanze wieder, setzte aber am Ende hinzu: »Es ist so lange her, verzeihen Sie daher, wenn meine Beschreibung vielleicht nicht ganz der Wahrheit entspricht.«
»Ob die Pflanze der Gattung Nuphar angehört, werden wir auf diese Weise kaum herausfinden«, schloss Lord Annington. »Tatsache ist aber wohl, dass auch sie im Süßwasser vorkommt. Nennen Sie mir doch eine nicht kryptogame Wasserpflanze, die im Salzwasser gedeiht«, sagte er nun wieder an Elisabeth gewandt.
»Mir ist ein wenig unwohl«, sagte Ife, »verzeihen Sie, wenn ich einen Moment an die Luft gehe.«
»Werden Sie denn hinausfinden?«, fragte Lord Annington, mit einer Höflichkeit, die kaum verbarg, wie wenig er sich für Ifes Wohlbefinden interessierte.
Ife nickte. Sollte er bloß nicht auf die Idee kommen, sie begleiten zu wollen, sie war schließlich keine Lady. Ganz anders als Elisabeth, die er nicht einfach alleine sitzen lassen konnte.
Ife ging mit hörbaren Schritten den Flur entlang, nur um lautlos wieder zurückzukehren zu dem schweren Vorhang und seinen Geheimnissen, dem Kabinett der menschlichen und tierischen Monstren, das nicht für das Auge eines weiblichen Wesens bestimmt war. Wieso kannte Elisabeth die Sammlung? Hatte Lord Annington sie eines Tages am Arm genommen und den Vorhang zur Seite gezogen? Oder hatte sie sich so wie Ife heimlich hinein geschlichen?
Es war dunkel, Licht drang nur durch den Vorhangspalt hinein. Es roch noch beißender nach Alkohol als im Botanisierzimmer. Ife konnte kaum erkennen, was sich in den runden Glasgefäßen verbarg, die um sie herum in den Regalen standen, aufgereiht wie in einem Krämerladen. Ife musste ihr Gesicht dicht an die Gläser bringen, um den Inhalt erahnen zu können. In diesem hier lag eng gewunden eine Schlange, die vom Alkohol verformt erschien, mit dicken Ausbuchtungen, wo sich die stumpfe Haut ausgeleiert hatte. Doch bei genauerem Hinsehen hatte das Ding keinen Kopf, und Ife wusste nicht, was für ein Tier das sein sollte.
Sie betrachtete das nächste Glas, und obwohl sie es gewusst hatte, ließ es sie zusammenschrecken. Es war ein Säugling mit einem sich nach oben verbreiterndem Kopf, in dessen Stirn sich nur eine einzige Augenhöhle befand. Daneben, wie ein ungleicher Bruder, ein Säugling mit zwei Augenhöhlen, dessen Kopf aber direkt über den Augen abflachte, die Stirn war ganz vergessen worden. Stumm saßen die beiden in ihren Glasbehältern und hielten Ife ihre drei leeren Augenhöhlen entgegen. Jetzt verstand sie, warum sie nichts hinter diesem Vorhang zu suchen hatte, denn diese Höhlen waren so leer, dass ihre letzten verbliebenen Winti, die sich vom Leben in der christlichen Welt noch nicht hatten abschrecken lassen, aus reinem Mitleid direkt dort hineinspringen mussten.
Was waren das für Wesen, leere Gespensterhüllen ohne Geist, die man nicht zu ihren Dyodyo zurückgebracht hatte? Was hatten die in Alkohol sitzenden Gespenster mit dem zu tun, was Lord Annington und Elisabeth Wissenschaft nannten?
Ife verspürte Wut gegen den gelehrten Freund von Elisabeth. All diese in Alkohol eingelegten Dinge, mit denen er sich umgab, und auch die feinen Tuschezeichnungen waren nur hier, weil er sie sich kaufen konnte. Selbst die Geister der toten Kinder konnte er kaufen, um sie auszustellen und damit seine Ruhmsucht zu befriedigen. Ife wollte die Sammlung dieses Geisterräubers verlassen. Doch sie zwang ihre Augen zu sehen. Wenn sie schon hier war, dann sollte sie das ganze Ausmaß von Lord Anningtons Sammelleidenschaft kennenlernen. Sie musste wissen, wozu er im Namen der sogenannten Wissenschaft imstande war. Die eingelegten Säuglinge waren allerdings die schlimmsten Exponate. Nun, da waren noch die Fleischklumpen in verschiedenen Formen und Farben, von denen Ife jedoch nicht sagen konnte, was sie sein sollten. Beim Metzger hätte er mit Sicherheit ansehnlicheres Fleisch bekommen. Sie ahnte, dass auch die Herkunft der Fleischklumpen fragwürdig war. In der hinteren Ecke stand schließlich ein menschliches Skelett. Man hatte ihm einen Stock durch den hohlen Körper geführt und die Knochen daran festgebunden, sodass es frei mit den Beinen baumeln konnte. Die glatten, fleischlosen Knochen berührten Ife nicht so sehr wie die Säuglinge im Glas.
Nach ihrem Ausflug hinter den Vorhang wollte sie wirklich einmal hinausgehen und frische feuchte Luft atmen, aber ihre Schritte führten sie zurück in den Salon. Sie wagte es kaum, Lord Annington ins Gesicht zu sehen, aus Angst, er würde sofort die Verachtung in ihrem Blick erkennen. Elisabeth sah Ife prüfend an, als wüsste sie genau, dass ihre Schwäche nur vorgetäuscht war. Lord Annington nahm keine Notiz von ihr. Der Raum war gefüllt mit ihren Worten, die sich in Ifes Kopf nicht zu einem Sinn zusammenfügen wollten. Dort brannte nur der Blick der drei leeren Augenhöhlen wie ein schmerzhaftes Feuer.
»Was war los mit dir?«, fragte Elisabeth auf der Rückfahrt.
»Du weißt es doch. Darf man eigentlich alles, wenn man es Wissenschaft nennt?«
»Ich mag nicht alles gutheißen, womit sich Lord Annington befasst, aber sein Interesse für medizinische Kuriositäten halte ich durchaus für berechtigt. Aber weil das nicht alle Menschen verstehen können, ist eben jener Vorhang dort. Man könnte also sagen, dass er dich gewarnt hat.«
Ife war enttäuscht, dass Elisabeth ihre Empörung nicht teilte. Wie hatte sie das auch erwarten können? Die beiden waren Freunde, Vertraute in ihrer Wissenschaft. Natürlich würde Elisabeth Lord Annington gegenüber anderen immer verteidigen.
Die Kutsche durchquerte die Stadt, und in einer halben Stunde waren sie in Ballymagarry. Vor wenigen Jahren hatte die Fahrt vom Stadtrand bis in das Dorf noch eine dreiviertel Stunde gedauert. Nun wuchs Belfast unaufhaltsam und drohte bald die umliegenden Dörfer zu verschlingen. Das dunkelrote Backsteinhaus von Sir Walter und Lady Elisabeth Hadley war durch einen weitläufigen Garten von den Häusern der neu Zugezogenen getrennt. Das Haus der Hadleys war bescheiden, verglichen mit dem Landsitz von Lord Annington. Nur der Garten, der gemeinsame Stolz von Elisabeth, Ife und Henry, der Kutscher und Gärtner in einer Person war, verlieh dem Hadleyschen Anwesen seine Größe, die Ausstrahlung einer selbstbewussten Majestät, die keinen Prunk nötig hatte, um von sich zu überzeugen.
Obwohl der Garten von Mount Magarry auch das Werk ihres halben Lebens war, fühlte sich Ife manchmal noch immer fremd an diesem Ort. Sie gehörte nicht zwischen Tapeten mit Blumenmustern. Sie sehnte sich nach einem Verschlag aus Brettern, in dem sie sich selbst und ihren Platz in der Welt kannte. Noch lieber wäre Ife der sternenklare Nachthimmel, den sie hier viel zu selten zu sehen bekam. Im Winter kleidete sich der Himmel in schweres Grau, und im Sommer kam die Nacht zu spät für eine alte Frau, die sich eine Stunde nach dem Abendessen ins Bett legte. »Wenn du eine alte Frau sehen willst, sieh dir Elisabeth an«, redete sich Ife zu, wenn ihr solche Gedanken kamen. Aber das Zureden half nicht.
Seit Kesi, ihre Tochter, fort war, fühlte Ife sich wieder fremder. Auch wenn Kesi ihren Vorfahren immer genauso skeptisch gegenübergestanden hatte wie auch Elisabeth und Sir Hadley. Seit Kesi fort war, versuchte Ife die alten Winti zu sich zu rufen, die sie irgendwo auf dem Atlantik verloren hatte. Doch die Winti kamen nicht, sooft sie sich auch in süßem Wasser badete. Sie mit einem Tanz zu rufen, kam ihr albern vor. Sie brachte es einfach nicht fertig, ihren Körper so in Bewegung zu versetzen, dass die Winti alles weitere übernehmen würden. Ihr Körper konnte noch laufen und sich über ihre Beete, über ein Mikroskop oder ein Buch beugen. Das Tanzen hatte er verlernt, genauso wie Kesis zu massiv geratener Körper es niemals gelernt hatte.
Kesi, die Sir Hadley nur »die Schande« genannt hatte, wenn er überhaupt jemals von ihr sprach. Nun gab es keine Notwendigkeit mehr, von ihr zu sprechen. Elisabeth fragte öfter nach ihr als je zuvor, so schien es Ife. Wenn der Postbote einen Umschlag für Ife brachte, dann fragte sie sofort, ob er von Kesi war. Ihre Augen waren zu schlecht, um selbst den Absender zu erkennen. »Natürlich ist er von Kesi«, antwortete Ife, » wer sollte mir den...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Erster Teil: Zuckerrohr
  4. Zweiter Teil: Kakteen
  5. Dritter Teil: Algen
  6. Impressum