Zur Erinnerung: Das Schisma zwischen Sunniten und Schiiten
Im Jahr 632 kam es nach dem Tod des Propheten Mohammed unter seinen Gefährten zum Streit über seine Nachfolge, die er zu Lebzeiten nicht geregelt hatte. Mohammeds Vetter Umar erkannte den Schwiegervater des Verstorbenen, Abu Bakr, öffentlich als chalifa („Nachfolger“) an. Seinem Beispiel folgten bald auch alle Gläubigen. Die Befürworter von Ali, Mohammeds Schwiegersohn und Vetter, werteten dies jedoch als Putsch, mit dem der engste Verwandte des Propheten von der Macht ausgeschlossen werden sollte. Der erste islamische Kalif Abu Bakr herrschte zwei Jahre, bis 634, in denen er mehr als einen Aufstand niederschlagen musste. Kurz vor seinem Tod bestimmte er seinen Verbündeten Umar zum Nachfolger. Der neue Kalif trieb die Eroberung neuer Gebiete eifrig voran und baute den islamischen Staat aus. Doch nach seiner Ermordung im Jahr 644 war die Gemeinschaft gespalten. Die einen favorisierten Uthman, einen Sprössling der Adelsfamilie der Umayyaden, der offiziell als Kalif anerkannt wurde, die anderen Ali, den Liebling Mohammeds. Wem stand die Macht zu: der Familie des Propheten oder demjenigen, der die allgemeine Zustimmung fand? Aus den zwei feindlichen Lagern, die sich heftig bekämpften, entstanden die zwei Hauptströmungen des Islam, die Sunniten (von sunna, Tradition) und die Schiiten (von shi‘a, Partei), die Anhänger Alis.
Die Ermordung von Uthman im Jahr 656 und die daraufhin ausbrechenden Unruhen gaben Ali endlich die Gelegenheit, das Kalifat an sich zu reißen. Doch Mohammeds Schwiegersohn zog nicht nur den Hass von Aischa auf sich, einer der Ehefrauen des Propheten, deren Anhänger er im Jahr 656 in Bassora (heute Basra) besiegte, sondern auch den des Klans der Umayyaden, dem der ermordete Kalif angehörte. Zu Letzteren gehörte auch der Statthalter von Syrien und Heerführer Muawiya, der Ali zu beseitigen suchte. Im Jahr 657 trafen Muawiyas und Alis Heere in der Schlacht von Siffin aufeinander; in deren Verlauf erklärte sich Ali bereit, einen Schiedsspruch auf der Basis des Korans über die Herrschaft im Kalifat zu akzeptieren. Dieser ging zu seinen Ungunsten aus. Aber Ali war ein guter Verlierer, er gestand seine Niederlage ein und zog sich zurück, doch er wurde von einem enttäuschten Gefährten ermordet (661). Als Muawiyas Sohn Yazid Kalif wurde (680), verweigerte ihm Alis Sohn Husain die Gefolgschaft. Kurz darauf wurden die Truppen von Husain in der Schlacht von Kerbela geschlagen, Husain selbst fiel; dieser Sieg bekräftigte die islamische Vorherrschaft der Umayyaden. Der Bruch mit den Schiiten war damit endgültig. Diese konnten den Tod Alis und seines Sohns Husain nicht verwinden – noch heute werden ihre Gräber im Irak verehrt – und jahrhundertelang schworen sie, Rache zu nehmen.
Diese rein politischen Auseinandersetzungen wurden durch theologische Divergenzen überlagert. Die Schiiten erkennen die in ununterbrochener Erbfolge auf Husain folgenden 12 Imame an, von denen der letzte 879 auf geheimnisvolle Weise verschwand und seitdem in „Verborgenheit“ leben soll. Für sie kann nur ein von Ali abstammender Imam die geheimen Bedeutungen des Korans erklären und die Wahrheit offenbaren. So sind politische und religiöse Fragen bei den Schiiten sehr eng miteinander verwoben („Der Imam und der Prophet sind Brüder“, sagt die Überlieferung). Ein Klerus mit einem Ayatollah („Zeichen Gottes“) an der Spitze ist mit der Auslegung des Korans und der Führung der Gemeinschaft betraut – bis zu dem Tag, an dem der Verborgene Imam, genannt Mahdi (der „Rechtgeleitete“) zurückkommt. Diese Lehre wird von den Sunniten nicht nur abgelehnt, sondern als töricht und häretisch abgetan; die schiitische Religion ist für sie ein Irrglaube, die Führung des Islam stehe dem zu, der die Macht ergreift, ohne Rücksicht auf die Linie von Ali.
Innerhalb der schiitischen Strömung kam es schon früh zu einem Richtungsstreit. Eine Gruppierung gründete den kämpferischen, esoterischen Zweig der Siebenerschia bzw. Ismailiten, die nur sieben Imame anerkennen. Daraus entwickelte sich im 9. Jahrhundert die Sekte der Alawiten (der die Assad-Familie angehört), für die Ali die Manifestation des höchsten, namenlosen Gottes ist. Bei den Sunniten schlugen sich die differierenden theologischen Ansätze in der Herausbildung von vier Rechtsschulen nieder, die sich in ihrem Bezug zum Koran als Gesetzesquelle unterscheiden und sich lange Zeit unversöhnlich gegenüberstanden. Aus dem Hanbalismus, der im 9. Jahrhundert gegründeten kleinsten Rechtsschule des sunnitischen Islam, schöpfen bis heute alle Islamismen: die Wahhabiten in Saudi-Arabien, al-Qaida und die Salafisten. Die hanafitische Rechtsschule, die an die Vernunft und Urteilskraft des Einzelnen appelliert, gilt ihnen als zu humanistisch.
Die Flagge des Islamischen Staates
Diese Flagge taucht in allen Videos von ISIS und IS auf. Der obere Schriftzug gibt den wesentlichen Lehrsatz des Islam – tauhid, die Einheit Gottes – wieder: „La ilaha illallah“ – Es gibt keinen Gott außer Allah. Darunter steht die Ergänzung „Allah und sein Prophet Mohammed“.
Die Flagge des IS
1. Erster Teil des islamischen Glaubensbekenntnisses: „Es gibt keinen anderen Gott außer Gott“.
2. Inschrift eines Siegelrings des Propheten Mohammed: „Gottes Prophet ist Mohammed“.
3. Schwarzer Hintergrund: Der Prophet Mohammed soll eine schwarze Flagge ohne Inschrift verwendet haben, ebenso das Abbasiden-Kalifat (750–1258), dessen Hauptstadt Bagdad war.
Schwarz ist die Farbe der abbasidischen Kalifen und symbolisiert die Trauer für die Märtyrer und die Männer aus der Familie des Propheten, die in der Folge des Schisma (fitna) getötet wurden. Der Kreis versinnbildlicht nicht nur das Siegel Mohammeds, sondern auch seinen verlorengegangen (und von Da‘ish wiedergefundenen?) Ring. Weiß ist die Farbe des Gewandes, den die Gläubigen auf ihrer Pilgerfahrt nach und in Mekka tragen, und den Hadithen zufolge auch der Muslime. Weiß symbolisiert überdies die Frömmigkeit. Die Schriftzeichen ähneln denen der ältesten erhaltenen Koran-Fassungen aus dem frühen 8. Jahrhundert, was Authentizität und Traditionsbewusstsein vermitteln soll.
In den Muqaddima erklärt der Historiker Ibn Khaldun (1332–1406) den Gebrauch solcher Fahnen i...