Kunst sollte sein wie ein bequemer Sessel
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Kunst sollte sein wie ein bequemer Sessel

Plaudereien mit Pierre Courthion

  1. 288 Seiten
  2. German
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Kunst sollte sein wie ein bequemer Sessel

Plaudereien mit Pierre Courthion

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Über dieses Buch

Im Frühling 1941 treffen sich Henri Matisse und der Schweizer Literaturkritiker Pierre Courthion zu mehreren Gesprächen – »Plaudereien«, wie Matisse sie genannt haben will. Er erholt sich gerade von einer schweren Operation, Frankreich ist schon von den Nazis besetzt, und so ist es Matisse ein Anliegen, nicht nur auf sein eigenes Leben zurückzublicken, mit großer Offenheit von seiner Kindheit, den Lehrjahren im Atelier von Gustave Moreau und seinen unzähligen Reisen zu erzählen; es geht ihm auch darum, das kulturelle Erbe Frankreichs zu verteidigen. Er gibt umfassend Einblick in das Leben der Avantgarde der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Matisse spricht über seine Weggefährten – Maler, Schriftsteller, Musiker, Politiker –, über seine Erfahrungen mit Sammlern und über Ruhm, und natürlich immer wieder über die Malerei, wie er sie sieht. Aus dem fertigen Manuskript wird aber nicht, wie geplant, ein Buch, es verschwindet in Pierre Courthions Schublade – erst vor Kurzem, nach fast 70 Jahren, wurde es in seinem Nachlass entdeckt. Eine außergewöhnliche Entdeckung, ein beeindruckendes Dokument über einen der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts.

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783311701064
Auflage
1
Thema
Art

Achtes Gespräch

Henri Matisse ist immer noch bettlägerig, aber es geht ihm viel besser. Er spielt mit seiner Mütze: nimmt sie ab, setzt sie wieder auf, fährt mit den Fingern den Rand entlang, befingert sie, nimmt sie ab, setzt sie auf, nimmt sie ab, lässt sie auf den Fingern schaukeln und starrt sie beim Reden geistesabwesend an. Er setzt sie wieder auf, schiebt sie nach hinten, zieht sie nach vorn, nimmt sie wieder ab und lässt sie am Ende seines ausgestreckten Armes baumeln. Dann korrigiert er mit einem Bleistift die Seiten mit unseren vorangegangenen Gesprächen. Das Licht blitzt auf seinen Brillengläsern.
Wir sprechen über Religion. Matisse sagt: »Der Durchschnittsglaube ist der bürgerliche Glaube.« Er räumt aber ein, dass die Ostermesse, die er zusammen mit seiner Sekretärin, einer Russin, besucht hat, ihn dennoch berührt hat. Matisse kommt mir unversehens zugänglicher für das Leben anderer vor. Zum ersten Mal hat er körperliche Schmerzen gehabt, der Schock der Operation, das Gefühl, es überstanden zu haben, der, wenn auch distanzierte, Kontakt mit anderen Kranken – all das hat seine Gefühle vertieft. Wir schreiben den 19. April 1941. Das ist unser letztes Gespräch in Lyon. Ich muss nach Genf, bevor ich Matisse dann in Nizza treffen werde, wo ich ihn mit der Palette in der Hand in seiner Wohnung im Régina zu sehen hoffe.
Sie haben noch nicht von Ihren Reisen, von Ihrer Weltreise erzählt.
Ich bin kein Reisender. Ich bin vielmehr jemand, der an einem Ort bleibt, jeden Tag pünktlich seine Arbeit beginnt, sie zu Mittag unterbricht, sie wieder aufnimmt, sobald die Kräfte es erlauben (ich mache immer ein Mittagsschläfchen), und so bis am Abend weitermacht.
»Ich bin kein Reisender. Ich bin vielmehr jemand, der an einem Ort bleibt.«
Ich verstehe das recht gut. Reisen ist eine Art Flucht vor sich selbst. Haben Sie nie wirklich Fernweh gehabt?
Nein. Ich bin ein Stubenhocker. Wenn ich meinen Träumereien nachhänge, wird mein Geist oft in Aufregung versetzt durch Lektüren oder exotische Gegenstände. Ich bin häufig in der Phantasie gereist, und da das Hauptziel meiner Arbeit ja die Klarheit des Lichts ist, habe ich mich gefragt: »Wie mag das Licht auf der anderen Seite der Hemisphäre sein?« Schon vor zwanzig Jahren in Nizza habe ich mir versprochen, das eines Tages in Augenschein zu nehmen. Deshalb die lange Reise nach Ozeanien.
1933 in der Rue César-Franck haben Sie mir begeistert davon erzählt.
Ich habe mein Ziel erreicht: Das Licht dort ist wirklich einmalig. Das Besondere am Licht des Pazifiks ist, dass es den Geist trunken macht, ähnlich, wie wenn man den Blick ins Innere eines Goldbechers versenkt.
Der Himmel ist blau, das Meer ist blau, die Bäume sind grün, wobei das Grün am Pazifik anders ist als das Grün bei uns. Es ist dunkler, sehr üppig, vergleichbar mit dem Grün des Akanthus. Es gibt sehr viele Hibiskussträucher, deren Blätter stark und fleischig sind, und darin knallt dann das blutige Rot der Blüten. Blumen gibt es im allgemeinen wenig, aber viele duftende Sträucher und Bäume. Die übrige Vegetation besteht aus Unmengen von Kokospalmen am Meeresstrand, Brotbäumen, Mangobäumen, kurz: Es ist die Vegetation, die man auch auf den Antillen findet. Ich sagte deshalb, als ich auf der Rückreise von Tahiti auf Martinique Halt machte und einen Tag lang auf der Insel herumspazierte, ich hätte mir sparen können, so weit zu reisen: Statt fünfundvierzig Tage lang im Schiff von Frankreich nach Tahiti zu reisen, hätte ich in zehn Tagen auch nach Martinique fahren können.
Doch vergaß ich in diesem Moment das Wichtigste, den Grund, warum ich bereits seit zwanzig Jahren diese Reise machen wollte: wegen des Lichts! Denn das Licht auf Martinique ist keineswegs gleich. Wenn man durch den Panamakanal gefahren ist und auf die Antillen stößt, dann spürt man bereits das Licht von uns zu Hause, ein etwas kälteres Licht. Es macht nicht so trunken wie das Licht des Pazifiks.
Ist es deutlich anders?
Ja! Um vom Pazifik in den Atlantik zu gelangen, ist man mehr als einen Tag lang im Panamakanal unterwegs. Wenn Sie in Frankreich einen Tag lang unterwegs sind, zum Beispiel vom Norden in den Süden, dann stellen Sie eine Veränderung des Lichts fest. Oder von Paris nach Spanien: einen Tag unterwegs, und was für ein Gegensatz! Das ist ungefähr der gleiche Unterschied wie zwischen dem Licht der Côte d’Azur und dem Licht in Avignon, ja sogar zwischen dem Licht von Lyon und dem Licht von Paris.
Das also war die große Reise, die ich unternehmen wollte. Alle anderen waren einfach Ortswechsel, die wegen meiner Arbeit und wegen der Umstände notwendig waren.
Die Reise nach Tahiti ist also die einzige Reise, die Sie sich wirklich gewünscht haben?
Ja, das ist die Reise, die ich mir gewünscht habe, als ich sie plante. Ich hatte mir davor gesagt: »Ich werde den Pazifik sehen.« Das war damals, als sich diese Sache mit den deutschen Forschern auf den Galapagos-Inseln ereignet hat. Erinnern Sie sich? Die wurden gefressen. Die gab es nicht mehr.
Ja, und irgendeine komische deutsche Gräfin[31] hatte auch damit zu tun, welche die Zeitungen »die Königin der Galapagos-Inseln« nannten.
Ich fand niemanden, der mit mir in den Pazifik reisen wollte. Meine Frau sagte mir: »Reise doch einfach bis zur ersten Zwischenstation: Tahiti. Dann bist du neunzehn Tage im Pazifik unterwegs. Der Pazifik ist nämlich eine unendlich große Wüste.« Ich entschied mich also für Tahiti. Danach machte ich mich wieder an die Arbeit, während meine Tochter, Madame Duthuit, alles Nötige übernahm.
Ich arbeitete also weiter in Nizza. Acht Tage vor meiner Abreise rief mir meine Tochter in Erinnerung, dass ich reisen würde. Ich packte und reiste ab, etwas verblüfft über meine eigene Entscheidung. Ich hatte mir zu dieser Reise nicht sonderlich viele Gedanken gemacht. Ich hatte gearbeitet. Ich wurde von meiner Abreise so überrascht, dass diese Überraschung noch anhielt, als ich mich auf der »Île-de-France« befand, die mich auf dem Weg nach Tahiti in New York absetzen sollte.
Nach zwei Tagen auf dem Meer hielt ich die Nächte nicht mehr aus: Die Bewegungen und die Geräusche des Meers brachten meine Gewohnheiten so durcheinander, dass ich geradezu in Panik geriet. Ich hatte Angst in meiner Kabine, dabei war das eine Luxuskabine. Ich stürzte hinaus aufs Deck, war außer mir, ich wusste nicht, was ich wollte, flüchten, bloß weg! Ich hielt inne und fragte mich: »Was willst du eigentlich?« In meiner Phantasie hatte ich das Gefühl, das Einzige, was mir helfen würde, wäre, wenn ein Flugzeug käme und mich heimbrächte.
»Ich will nur meine Bilder zeigen. Jede andere Art von Publizität interessiert mich nicht.«
Waren Sie so enttäuscht?
Nein, in Panik! Ich sagte mir: »Was will ich hier? Ich muss ja gar nicht da sein!«
Ich hatte die Idee dieser Reise einen Monat vorher gehabt. Danach hatte ich mich nur mit meiner Arbeit beschäftigt, mein Geist war in Nizza. Ich war hinausgerissen worden. Ich war überhaupt nicht in eine Richtung unterwegs, in die ich wollte. Also sagte ich mir: »Es ist ganz einfach: In drei, vier Tagen landet das Schiff. Und dann fahre ich mit ihm zurück.«
Das hat mich beruhigt. Ich ging in meine Kabine zurück und schlief ruhig.
Ich muss dazu noch sagen: Als ich in New York ankam, gefiel mir das, was ich sah, so ausnehmend gut, dass ich überhaupt nicht mehr zurück nach Hause wollte. Diese unendlich breiten Straßen zusammen mit den buildings, die einen wider Erwarten keineswegs erschlagen oder ersticken. Es sind ja keine Straßen mit lauter Häusern von fünfundsiebzig Stockwerken, sondern man sieht einfach eine sehr breite Straße in der da und dort enorme Türme, die sechzig oder achtzig Meter hoch sind, in den Himmel aufragen. Sie wirken keineswegs beängstigend, denn je höher sie ragen, desto mehr verringert sich der Abstufung des Lichtes wegen ihre Kraft. Bei jedem Stockwerk – oder alle vier, fünf Stockwerke – werden sie zurückgestuft, das heißt, ihre Grundfläche ist unten viel größer als oben.
Diese Verjüngung ist unabdingbar, wenn man so hoch bauen will. Man zieht eine Linie von der Spitze des Gebäudes zu einem bestimmten Punkt auf der Straße, und diese Linie darf nicht überschritten werden, wenn man in die Höhe bauen will.
Das Licht von New York ist außerordentlich klar, von einer kristallinen Reinheit. Weshalb ich mir die ganze Zeit sagte: »Schau mal, das ist wirklich etwas Neues! Ich weiß nicht, warum ich so weit wegfahren soll. Vernünftigerweise würde ich hierbleiben.«
Aber ich hatte mir die Sache nun mal in den Kopf gesetzt, und so reiste ich weiter. Ich blieb um die zehn Tage in New York, dann ein paar Tage in Chicago. Über Los Angeles und Hollywood gelangte ich nach San Francisco, wo die Maler über mich herfielen und sagten: »Da sind Sie ja. Das muss mit einem Bankett gefeiert werden.«
Ich sagte: »Nein, nein, das will ich nicht.«
Man erwiderte: »San Francisco liegt am Ende der Welt. Man vergisst uns hier. Es wäre ganz toll für uns, wenn Sie etwas Aufmerksamkeit auf uns ziehen würden, dadurch dass Sie sich zu einem Essen bereit erklären, das uns ins Gespräch bringt.«
Ich sagte: »Das ist nicht möglich.«
Deshalb wurde eine leichte Mahlzeit bei Freunden, im Atelier eines Bildhauers, organisiert. Es wurden ein paar Maler eingeladen. Als Tisch wurde ein Brett auf zwei Böcke gelegt. Es gab Vorspeisen oder so was. Es war ganz nett.
In New York hatte man mir ein Zimmer im Institut Français angeboten. Man bot mir an, Vorträge vor Studenten zu halten. Ich lehnte ab. Und dann den ganzen Tag Anrufe von Reportern: »Ich will Sie sehen.« – »Ich will Sie interviewen.« – »Ich muss mit Ihnen sprechen.«
Ich sagte: »Schreiben Sie über mich, was Sie wollen. Ich werde nichts dementieren.«
»Für so etwas bin ich zu seriös.«
»Mag sein. Aber ich, ich will keine Journalisten empfangen.«
Ich war noch auf dem Schiff. Bei der Ankunft warteten zwanzig Fotografen darauf, mich zu knipsen. Ich verstecke mich. Der Zahlmeister sagt: »Sie kommen nicht drum herum. Lassen Sie sich von dem fotografieren, der seine Bilder überallhin verkauft.«
Ein Journalist fragt mich: »Wohin reisen Sie?«
»Nach Tahiti.«
»Um zu arbeiten?«
»Nein, um drei Monate auszuspannen.«
»Reisen Sie allein?«
»Ja.«
Er schrieb, ich wandere für immer nach Tahiti aus und sei in Begleitung einer Frau. Das war der Reporter der Chicago Tribune.
Bei meine...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. »Ich träume von einer [...]
  4. Editorische Notiz
  5. Erstes Gespräch
  6. Zweites Gespräch
  7. Drittes Gespräch
  8. Viertes Gespräch
  9. Fünftes Gespräch
  10. Sechstes Gespräch
  11. Siebtes Gespräch
  12. Achtes Gespräch
  13. Neuntes Gespräch
  14. Leben und Werk
  15. Endnoten
  16. Über Henri Matisse
  17. Impressum