„Sorgt doch, dass ihr, die Welt verlassend nicht nur gut wart, sondern verlasst eine gute Welt!“
Damit der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Warum Bertolt Brecht (1898–1956) so schlechte Manieren hatte
Alles begann in einer Augsburger Dachkammer. Hier in seiner sturmfreien Bude im toleranten Elternhaus sammelte der unverschämt selbstbewusste Gymnasiast Berthold (so schrieb er sich damals noch) seine Mitschüler und Anbeter um sich, lud zum Trinken ein, trug mit schnarrender, aber suggestiver Stimme Texte von Shakespeare, Villon, Wedekind vor – und natürlich seine eigenen, die er mit sechzehn bereits in Münchner und Augsburger Zeitungen veröffentlichte. Zuvor war die kleine Truppe singend und mit Lampions durch die Vorstadt gezogen und hatte Rabatz gemacht.
Der schlaksige Junge mit den spöttischen Augen und den flotten Sprüchen trat wie ein Halbstarker aus dem Proletariermilieu auf, großkotzig, arrogant, nachlässig (aber sehr gewählt nachlässig) gekleidet, mit schäbiger Lederjacke und Schiebermütze. Am Ende seiner Schulzeit stellte er verächtlich fest, leider sei es ihm nicht gelungen, seine Lehrer „wesentlich zu fördern“. Wenige begriffen, dass er mit seinem rabaukenhaften Auftreten davon ablenken wollte, dass er das verwöhnte Söhnchen eines Fabrikdirektors war. Obwohl es sich beim Vater um einen Aufsteiger mit Volksschulbildung und ohne Allüren handelte, der sich in der Papierfabrik vom Angestellten zum Prokuristen und schließlich zum Leitenden Direktor emporgearbeitet hatte.
Und noch etwas sollten die schlechten Manieren verbergen: Brecht litt zeitlebens unter starken Herzbeschwerden, die sich in Todesangst und Panikattacken äußerten und schon den Schuljungen zu langen Kuraufenthalten zwangen. Die allwissenden Psychologen koppeln die Herzneurose mit einer symbiotischen Mutterbeziehung und erklären Brechts Kaltschnäuzigkeit und Bindungsscheu mit einer Riesenangst, verlassen zu werden und den eigenen Gefühlen ausgeliefert zu sein.
Halbherzige Bekehrung zur Arbeiterklasse
Jedenfalls entwickelt Brecht von Anfang an ein erstaunliches Talent, seine Fans in die Irre zu führen. Er wurde keineswegs schon als strammer Marxist geboren, sondern pries den Ersten Weltkrieg in seiner frühen Lyrik voller Pathos als „Sturmsinfonie“, dachte allerdings nicht daran, sich freiwillig zu melden wie viele Kameraden. Er dichtete, weil es ihm Freude machte und Bewunderung einbrachte, aber er bemühte sich nicht, Geld damit zu verdienen, das seine schwangere Freundin dringend gebraucht hätte. Er sang Loblieder auf die eigene Bekehrung zum Arbeiterstand („Und ich verließ meine Klasse und gesellte mich / Zu den geringen Leuten“), aber die auch in Augsburg für Aufregung sorgende Revolution ließ ihn kalt, die roten Fahnen betrachtete er mit Skepsis.
„Die Bibel“ hatte er sein erstes Bühnenwerk in unbefangenem Größenwahn genannt, da war er fünfzehn. Das Manuskript ist verloren, sicher zum Glück. Die ein Jahrzehnt später entstandenen Stücke „Baal“ und „Trommeln in der Nacht“ hingegen werden heute noch gespielt, der verstörende Lobgesang auf ein amoralisches, asoziales, triebgesteuertes Genusstier namens Baal und die Geschichte eines ähnlich egoistischen, von der Revolution nur schwadronierenden, politisches Engagement verachtenden Kriegsheimkehrers „Trommeln in der Nacht“. Damit landete der Vierundzwanzigjährige auf Anhieb in den Münchner Kammerspielen und beim Regisseur Otto Falckenberg. Mit Brecht sei „ein neuer Ton, eine neue Melodie“ ins Theater gekommen, schwärmte der prominente Kritiker Herbert Ihering.
Bertolt Brecht nannte er sich jetzt, aus Zuneigung für den Wiener Arnolt Bronnen, der sich ihm willig unterordnete wie alle anderen. Man staunte über den frisch gebackenen Theaterstar, der durch Berlin hetzte, als gehöre ihm die ganze Kultur der Stadt, und wie ein Viehhändler um Honorare feilschte. Mit dem einen Verlag schloss er einen Langzeitvertrag ab, ging mit dem Dokument zu einem anderen, seine Forderung höher schraubend, und entschloss sich am Ende für einen dritten, der jetzt mehr bot als die beiden ersten.
Besonders sympathisch scheint Brecht nicht aufgetreten zu sein, bei den ersten Proben überwirft er sich mit der Bühnenlegende Heinrich George, alles will er selbst inszenieren und kontrollieren, von anderen Autoren schreibt er ohne jedes Unrechtsbewusstsein ab; mit „Fragen geistigen Eigentums“ nehme er es eben nicht so genau. Aber jeder ist davon überzeugt, dass der charmante, arrogante, wendige, sprachschöpferische, von einer Vision in die nächste taumelnde Brecht ein Genie ist.
Provokateur: Bert Brecht
Missverstandene „Dreigroschenoper“
Unleugbar hat er einen siebten Sinn für Förderer (Lion Feuchtwanger ist der erste), für hochbegabte Kollegen (der Komponist Kurt Weill verhilft mit seiner Mischung von Jazz, Ballade und Kabarett den nächsten großen Stücken zum Erfolg), für Leute, von denen er etwas lernen kann, für berühmte und verborgene Inspirationsquellen. An der Seite von Karl Valentin spielt er hingerissen Klarinette, schreibt im Valentin-Stil den bitterbösen Einakter „Die Kleinbürgerhochzeit“. Und 1928, Brecht ist dreißig Jahre alt, hat sein erster wirklicher Theater-Hit Premiere, schräg, frivol, sentimental, zeitlos: Die „Dreigroschenoper“, angelegt als ein sozialkritisches „Referat“ (Brecht), wird vom Publikum als herrliche Gangsterkomödie verstanden, was den Stückeschreiber ziemlich verwirrt.
Ich hatte zu zeigen versucht, dass die Ideenwelt und das Gefühlsleben der Straßenbanditen ungemein viel Ähnlichkeit mit der Ideenwelt und dem Gefühlsleben des soliden Bürgers haben.“
„Die Welt ist arm, der Mensch ist schlecht.
Wir wären gut – anstatt so roh
Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.“
„Verfolgt das Unrecht nicht zu sehr, in Bälde
Erfriert es schon von selbst, denn es ist kalt.
Bedenkt das Dunkel und die große Kälte
In diesem Tale, das von Jammer schallt.“
Ein Jahr später noch eine „Oper“, die bis heute aufgeführt wird: „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“. Das ist eine Goldgräbersiedlung, eine Art Las Vegas, „wo man alles dürfen darf“ – aber nur, wenn man es sich leisten kann. Das größte Verbrechen ist, kein Geld zu haben, und Brecht zeigt, was das Geld (oder der Raubtierkapitalismus) mit den Menschen macht.
Denn wie man sich bettet, so liegt man
Es deckt einen keiner da zu
Und wenn einer tritt, dann bin ich es
Und wird einer getreten, dann bist’s du.“
Die Uraufführung in Leipzig gerät übrigens zu einem fürchterlichen Skandal, das distinguierte Theaterpublikum kann mit dem politisch aufgeladenen Stück nichts anfangen. In der Folgezeit zerstreitet sich Brecht mit Weill und wendet sich einem anderen Komponisten zu, Hanns Eisler, versucht den Überblick über seine zahlreichen Liebesbeziehungen zu behalten – er hat sogar geheiratet, verweigert sich der familiären Nähe aber ebenso wie dem anstrengenden Umgang mit seinen mittlerweile drei Kindern –, beteiligt seine Freundinnen an der literarischen Produktion und nennt sie dort dankbar mit Namen, was damals absolut ungewöhnlich ist, pendelt zwischen Berlin und den Münchner Kammerspielen hin und her, erlebt die ersten Konfrontationen mit den Nazis, schreibt so nebenher sehr sachliche, unsentimentale, oft zynische, noch öfter aber wunderbar poetische Liebesgedichte.
Nach einigen etwas trockenen Lehrstücken („Die Maßnahme“, „Der Jasager“) bringt er „Die Mutter“ nach einem Roman von Maxim Gorki und die desillusionierende „Heilige Johanna der Schlachthöfe“ auf die Bühne. Gorkis und Brechts „Mutter“ eines Arbeiters mit revolutionären Zielen, eine Analphabetin, folgt irritiert, schüchtern tastend, zunehmend begeistert dem Sohn auf seinem Weg, lernt lesen und politisch denken. Die „Heilige Johanna“ ist ein Leutnant der „Schwarzen Strohhüte“ (so etwas wie die Heilsarmee) und verkörpert in der Welt der Schlachthöfe Chicagos das Mitleid mit den Ausgebeuteten, den naiven Glauben an menschliche Gefühle bei Börsenspekulanten und das Unverständnis für proletarische Rebellion. Als Johanna stirbt, wird sie zwar von den Kapitalisten heiliggesprochen, hat aber begriffen, dass private Güte ohne gesellschaftliche Veränderungen wirkungslos bleibt:
Sorgt doch, dass ihr, die Welt verlassend
Nicht nur gut wart, sondern verlasst
Eine gute Welt!“
Die Welt ist veränderbar
Schon bei der Premiere des ersten Erfolgsstücks „Trommeln in der Nacht“ ließ Brecht Tafeln mit der Aufforderung „Glotzt nicht so romantisch!“ über die Bühne tragen. Seinen Platz in der Literaturgeschichte verdankt er nicht nur seinen Dramen und Lehrstücken, sondern mindestens ebenso sehr einem ziemlich neuen Anspruch an das Theater: Der Verstand, weniger das Gefühl des Publikums sollte angesprochen werden. Statt Illusionen zu vermitteln, wollte er es zur Kritik erziehen; und was da auf der kleinen Bühne geschah, sollte allen Ernstes die große Welt draußen verändern.
Wer noch lebt, sage nicht: niemals!
Das Sichere ist nicht sicher.
So, wie es ist, bleibt es nicht.
(…) An wem liegt es, wenn die Unterdrückung bleibt? An uns.
An wem liegt es, wenn sie zerbrochen wird? Ebenfa...