Palermo ist eine Zwiebel
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Palermo ist eine Zwiebel

  1. 176 Seiten
  2. German
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Über dieses Buch

Achtung, Reisewarnung! Verkehrschaos, Mafia und nirgends ist das Meer zu sehen: Roberto Alajmo kann alle Klischees über seine aufregende Heimatstadt bestätigen – aber so charmant und witzig, dass man unbedingt sofort nach Palermo will.Der Palermo-Besucher traut sich nicht mehr aus dem Hotel heraus, kein Wunder nach dem abenteuerlichen Landeanflug und dem scheußlichen Weg vom Flughafen, vorbei an Schwarzbauten und Schauplätzen von Mafiamorden … Doch Roberto Alajmo, chaosresistenter Palermitaner, nimmt den Reisenden bei der Hand – und zeigt, warum es sich lohnt, seine widersprüchliche, atemberaubend schöne Heimatstadt am letzten, oft übersehenen Zipfel Europas zu erkunden.In zwölf Kapiteln entführt Alajmo ironisch-anekdotisch zu berühmten Monumenten und Märkten, kommentiert die wechselvolle Geschichte Siziliens mitsamt gängiger Stereotype, erklärt kulinarische Eigenheiten und überlebenssichernde Blicktechniken.Er erzählt von den Einheimischen, ihrem zufriedenen Pessimismus, ihrem vertrauten Umgang mit den Toten – und ihrem seltsamen Verhältnis zum Meer: Denn darauf pfeifen die Palermitaner mit der gleichen Arroganz, mit der sich ein Reicher die Zigarre an einem Geldschein anzündet.

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Information

1Willkommen in der Stadt

In Palermo gibt es so viele und so komplexe Dinge, dass ich nur einen kleinen Ausschnitt der Stadt zeigen kann. Ich kann an einem kurzen Abend nicht alles über Palermo sagen. Ich kann nur die Eindrücke darstellen, die mich tief im Innern getroffen haben, und von diesen auch nur einen sehr geringen Teil.
Pina Bausch
Man sollte sich einen Fensterplatz geben lassen und darauf hoffen, an einem klaren, sonnigen Tag anzukommen. Den kann es auch im Winter geben, denn die Stadt will zu jeder Jahreszeit eine gute Figur machen. Wenn das Flugzeug zur Landung ansetzt, sieht man die roten Klippen von Terrasini und das türkisfarbene und tiefblaue Meer, ohne dass sich sagen ließe, wo das Tiefblau aufhört und wo das Türkis beginnt. Die Häuser, die sogenannten kleinen Villen, sind einem vielleicht zu viel, doch vom Himmel aus betrachtet sieht man ihnen nicht die Pfuscherei mit dem Anspruch auf Originalität an, die sie vom Boden aus offenbaren. Du schaust dir das alles an und denkst, du bist jetzt am schönsten Ort der Welt. Mal ehrlich, du glaubtest, schon eine Vorstellung von der Stadt und von der Insel zu haben, weil sich Klischees nicht so einfach vermeiden lassen, doch bei dem grandiosen Anblick der Küste rings um den Flughafen wird jede vorgefasste Meinung sofort hinfällig.
Während du aus dem Fenster schaust, hast du genügend Zeit, solchen Gedanken nachzuhängen, bei so viel Schönheit ins Schwärmen zu geraten und vielleicht sogar die Möglichkeit zu erwägen, alles hinzuschmeißen – Arbeit, Familie, Wurzeln –, um künftig hier zu leben. Doch kaum hat man sich für die Vorstellung eines immerwährenden Sommers erwärmt, meldet sich prompt ein Gegenargument. Auch das kommt durch das Fenster, denn während die Augen noch voller Licht und Meer sind, ragt plötzlich ein Gebirge vor einem auf. Ein riesiges graues Gebirge, an dem das Flugzeug jeden Augenblick zerschellen kann.
Der Flughafen Punta Raisi liegt auf einer schmalen Landzunge, die das Meer vom Berg trennt, was in der Vergangenheit dazu führte, dass ein Flugzeug über den Bergen abstürzte (am 5. Mai 1972) und ein weiteres über dem Meer (am 23. Dezember 1978). Der Flughafen der Stadt ist so. Die Stadt ist so. Du, lieber Reisender, wusstest das vor deiner Abreise, doch vor der blendenden Schönheit der Landschaft hast du es vergessen. Nun wirst du womöglich von einer leichten Panik erfasst, weil der Berg immer näher kommt, und zwar auf beängstigende Weise. Doch sei unbesorgt, am Ende wird gar nichts passieren, denn die Piloten sind inzwischen geübt darin, exakt auf dem befahrbaren Streifen zwischen Meer und Berg aufzusetzen, und dann kannst du erleichtert darüber nachdenken, dass die Stadt es nicht versäumt hat, dich von Anfang an zu warnen: Glaube ja nicht, dass die Dinge hierzulande immer so sind, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Du kannst dich nicht einfach in die Betrachtung des Schönen versenken, als wären wir in Polynesien oder in der Toskana. Hier darf man sich auf nichts verlassen, im Gegenteil, gerade im Augenblick höchsten Entzückens kommt der Schlag in die Magengrube, lässt dich nach Luft schnappen und zwingt dich, wieder Abstand zu den Dingen zu suchen.
Die Schwierigkeiten des Piloten beim Landeanflug, die komplizierte Vermeidung so gegensätzlicher Gefahren wie Meer und Berg, sind eine Metapher für die alltäglichen Schwierigkeiten, die das Leben auf der Insel im Allgemeinen und in der Stadt im Besonderen kennzeichnen, einer Stadt, die nicht nur die Hauptstadt der Insel ist, sondern auch so etwas wie deren grandioses Extrem. Besser, du entspannst dich nie und bleibst auf der Hut. Von einem Moment zum nächsten könnte etwas geschehen, was nicht wiedergutzumachen ist.
Sobald du dein Gepäck zurückerobert hast, nimmst du dir ein Taxi und hältst die Augen offen. Um eine Stadt zu verstehen, braucht man oft nur vom Flughafen ins Zentrum zu fahren. Hat man keine Zeit für einen ausführlichen Stadtbummel – etwa weil man auf einen Anschlussflug wartet –, genügt es auch, mit dem Taxi einmal hin- und zurückzufahren. Entlang der Autobahn findet sich eine Menge von dem, was uns die Stadt bewusst oder unbewusst über sich verraten will. Längst nicht alles und auch nicht alles freiwillig. Doch wenn man die Augen offen hält, versteht man zumindest ein paar Dinge. Zwischen Flughafen und Stadtzentrum, da liegt die Visitenkarte einer jeden Stadt. Es gibt Städte, die das wissen, die das berücksichtigen und ihr Image pflegen, indem sie das Beste von sich zeigen. Es gibt aber auch Städte, die auf ihr Image pfeifen und alles dem Zufall überlassen. Diese Stadt gehört zur zweiten Kategorie. Allerdings hat auch der Zufall stets noch einige Tricks in petto. Im Umkreis von nur wenigen Kilometern hat er mindestens drei Attraktionen verteilt. Drei Indizien, die sich im Laufe deines Aufenthalts noch als nützlich erweisen werden.
Das erste kommt fast sofort. Schaust du nach links zum Meer, entdeckst du ungefähr auf der Höhe von Carini eine Art Slum, direkt auf den Strand gebaut. Der verwahrloste Zustand der Häuser und die Tatsache, dass sie offenbar aus Material von einem Müllplatz bestehen und von Salz zerfressen sind, legt den Gedanken nahe, dass diese Siedlung notgedrungen illegal gebaut wurde. Von Bewohnern, die in Verhältnissen wie in der Dritten Welt leben müssen. Man mag sich mit Fug und Recht vorstellen, dass manche so schlau waren, aus der Not eine Tugend, ja, gleich einen Vorteil zu machen, sodass sie, wenn sie schon ein Dach über dem Kopf brauchten, dies ebenso gut am Meer errichten konnten. Doch von wegen. Drohende Obdachlosigkeit herrscht hier nicht. Diese Bruchbuden sind die Zweitwohnungen der Stadtbewohner. In diesen Häusern verbringen die Leute ihre Sommerferien.
Man baute sie irgendwann nach den Regeln des Wilden Westens. Will heutzutage jemand witzig sein, bezeichnet er das als kreatives Bauwesen, obgleich dieser Begriff allmählich seine sarkastische Bedeutung verliert und sich das »kreative Bauwesen« zu einem eigenständigen architektonischen Stil entwickelt. Die Hauswände sind nicht verputzt, weil auch später noch Zeit dafür bleibt. Und die Armierungseisen ragen aus dem Dach, weil man irgendwann schon in der Lage sein wird, ein Stockwerk für die Tochter anzubauen, die bald heiratet. Es gibt verschiedene Gründe, weshalb man die Häuser von außen unfertig lässt, praktische und sozusagen moralische Gründe. Unterdessen wartet man immer auf eine Genehmigung, die die Behausung auch in den Augen des Finanzamts tadellos erscheinen lässt. Übrigens sind innen und außen durchaus zweierlei. Auf der Insel wird alles, was sich vor der Haustür abspielt, als entbehrlich betrachtet, wenn nicht gar als ordinär. Um sich davon zu überzeugen, braucht man sich nur ein Mehrfamilienhaus anzusehen. Ein x-beliebiges, in dem auch wohlhabende Leute wohnen. Man achte einmal darauf, wenn sich die Gelegenheit bietet: Nach sechs Uhr abends steht vor jeder Wohnung ein Müllbeutel direkt an der Tür. In den vorangegangenen Stunden hat er sich langsam gefüllt, bis die tüchtige Familienmutter dafür gesorgt hat, dass daraus ein Sack wird, der aus den eigenen heiligen vier Wänden verbannt werden muss. So schnell wie möglich wird der Müll der Gemeinschaft überantwortet, und sei es auch nur der Solidargemeinschaft, die hier vom Flur des Mietshauses repräsentiert wird. Ist der Müllsack verschnürt, geht er die Bewohner nichts mehr an. Der Abfall ist Sache der Gemeinschaft. Die Wohnung muss vom Schmutz der Welt unberührt werden. Deshalb kann man Gift darauf nehmen, dass die Häuser an der Küste von Carini, ganz im Gegensatz zu ihrer äußeren Erscheinung, innen wie geleckt aussehen. Um das äußere Erscheinungsbild scheren sich die Eigentümer nicht, es geht sie nichts an. Die Fassade ist Müll und somit Sache des Staates.
Es gibt aber noch einen anderen Grund, weshalb die Häuser so heruntergekommen aussehen. Die Bewohner der Insel hegen eine heilige Scheu vor jeder Form von Vollendung. Weihen sie ein Theater ein, tun sie es stets in Abwesenheit eines für den ganzen Ablauf entscheidenden Zubehörs. Bauen sie einen Staudamm, wird garantiert die Kanalisation noch nicht fertig sein. Um die Fertigstellung kümmert man sich später, falls das dann möglich ist. Hinter dieser systematischen Unfertigkeit lässt sich das Muster eines uralten Aberglaubens erkennen. Es hat geradezu den Anschein, als ahnten die Menschen hier, dass der letzten Vollendung ein latentes Unglück innewohnt. Hartnäckig hält sich der alte Glauben, die Erfüllung der Wünsche könne den bösen Blick von Neidern provozieren, doch damit nicht genug. Die eigentliche Besorgnis gilt dem Unbehagen, das daraus entsteht, dass einem etwas fehlt, nachdem man endlich eigentlich alles bekommen hat, was man sich wünschte. Immer gibt es etwas, was durch die noch so engen Maschen unseres eigenhändig gebastelten Netzes schlüpft. Also kann man die Dinge genauso gut laufen lassen, wie sie eben laufen. Vielleicht ist das auch ein Vermächtnis aus dem Nahen Osten. Die alten persischen Meister webten in die Vollkommenheit ihrer Teppiche stets einen winzigen Fehler ein. Sie taten dies absichtlich, um Gott nicht auf einem Gebiet in die Quere zu kommen, das einzig und allein ihm vorbehalten ist: auf dem der Vollkommenheit. Doch mit den Häusern am Strand von Carini hat man diese Form der Demut entschieden zu weit getrieben.
Vor einigen Jahren hat ein Bürgermeister versucht, sie abreißen zu lassen, und sich den Ärger der Eigentümer zugezogen. Als diese Eigentümer dann im Fernsehen auftraten, war zu erkennen, dass sie keineswegs zu der Sorte gehörten, die für gewöhnlich in einem Slum wohnen. Sie sahen nicht aus wie notgedrungen Illegale. Sie kamen aus gutbürgerlichen Kreisen und verfügten über alle Kenntnisse und finanziellen Mittel zur Verteidigung ihrer Rechte. Die Stadtverwaltung ließ kamerawirksam gerade noch ein paar Bruchbuden niederwalzen, bevor die Abrissarbeiten gestoppt wurden. Der Bürgermeister verlor die nächste Wahl, eine neue Verwaltung trat an, und von Abriss war nie wieder die Rede.
Als gutinformierter Reisender solltest du wissen, dass die Schwarzbauten in der Stadt und ihrer Umgebung nahezu die einzigen städtebaulichen Initiativen aus jüngerer Zeit sind. Die Vorschriften sind besonders in der Altstadt und in Küstennähe ausgesprochen streng, weshalb es außer der Sorte der skrupellosen Gauner niemand wagt, dort zu bauen. Eigentlich wurde seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kein einziges architektonisch anspruchsvolles Bauwerk mehr in Auftrag gegeben, weder privat noch von der öffentlichen Hand. Es gilt der Grundsatz, man dürfe Altes nicht mit Modernem infizieren. Dieser Grundsatz hat dazu geführt, dass die heutige Generation die erste und einzige in der Geschichte der Menschheit sein wird, deren Existenz auf Erden keinerlei Spuren hinterlassen wird. Zumindest keinen niveauvollen Beitrag. Wenn Kunsthistoriker sich in tausend Jahren fragen, welcher architektonische Stil zwischen 1900 und 2000 vorherrschend gewesen sei, bleibt leider nur eine Antwort: der Schwarzbau.
Oder: die Pagoden. Denn wir haben hier auch Pagoden. Man findet eine ganze Menge davon, sobald man in die Stadt kommt, und es sieht so aus, als gehörten sie zu einem bestimmten städtebaulichen Plan, so gleichförmig und weiß, wie sie sind. Die Griechen haben uns das vollkommene Modell ihrer Tempel hinterlassen. Die Römer vollendeten das Ideal des Amphitheaters. Die Byzantiner hinterließen uns ihre Basiliken, die Araber Aquädukte und Moscheen, die Normannen die Kirchen mit den roten Kuppeln, die Spanier die katalanisch-gotischen Portale. Aus der Zeit des Barocks sticht der Prunk der Oratorien von Giacomo Serpotta ins Auge. Das Erbe des 19. Jahrhunderts zeigt sich in den streng geordneten Fassaden der Stadthäuser. Und ebenso werden auch die heutigen Bewohner der Stadt ihren Nachfahren eine architektonische Probe ihres Zivilisationsgrades hinterlassen, also das, was sie nach zehntausend Jahren Geschmacksentwicklung an den Ufern des Mittelmeers an Originalität und Fortschritt aufzubringen vermochten: Pagoden.
Sollte die Insel irgendwann einstürzen und im Meer versinken, sollte jede Erinnerung an sie ausgelöscht werden und sollten Archäologen in zweitausend Jahren wieder Siedlungsreste ans Licht befördern, würden sie unserer Zivilisation keinen anderen Namen geben als – die Pagodenkultur. Dies nicht wegen der Palazzina Cinese, des Chinesischen Schlösschens, das es ja auch gibt – ein Zeugnis königlicher Launen von Ende des 18. Jahrhunderts –, sondern wegen der Pavillons in Form einer weißen Pagode, die an allen Ecken und Enden der Stadt zu finden sind. Da die Pagode zudem aus Plastik besteht, ist sie biologisch nur schwer abbaubar, sodass es künftigen Archäologengenerationen ein Leichtes sein wird, das Pagodentum mit all seinen interessanten Facetten zu beleuchten.
Für die Bewohner der Stadt ist die Plastikpagode das, was die Nuragen für das sardische Volk gewesen sind. Das, was die großen Steinstatuen für die Bewohner der Osterinsel sind. Das, was die Trulli für die bäuerliche Kultur Apuliens sind. Das, was die Iglus für die Eskimo sind. Kein Garten, kein Markt, kein Parkplatz, keine Strandpromenade, die von ihnen verschont bliebe. Wo immer sich ein freies Fleckchen findet, wird sich früher oder später eine Pagode erheben. Das ist inzwischen ein bedingter städtebaulicher Reflex, eine Form von horror vacui. Jede Lücke in der baulichen Struktur, jede Aussicht aufs Meer oder eine andere Landschaft wird wie ein peinlicher Riss im Hosenboden empfunden. Und die Pagode ist der ideale Flicken dafür.
Egal, ob Geschenkartikel oder Bücher verkauft werden sollen, ob man einen Ausstellungsraum für Kunsthandwerk oder für Gemälde braucht oder ob man Unterschriften und Spenden für humanitäre Zwecke sammeln möchte, immer wird der bevorzugte architektonische Rahmen dafür eine Pagode sein. Ja, sogar der einzig mögliche. So eine Pagode ist praktisch. Sie lässt sich problemlos aufbauen und könnte auch leicht wieder abgebaut werden. Könnte, denn über den Abbau gibt es, offen gestanden, keine gesicherten Erkenntnisse, tendiert doch die Pagode von Natur aus dazu, zu bleiben, wo sie ist. Sie lagert sich ab. Sie erobert durch die Macht der Gewohnheit den öffentlichen Raum, in dem sie gebaut wurde. Wird sie aufgestellt, um im Hinblick auf Allerseelen einen Verkaufsstand für Spielzeug zu beherbergen, lohnt es sich nicht, sie so kurz vor dem Jahreswechsel wieder abzubauen, denn dann sollen Weihnachtsschmuck und Krippen darin untergebracht werden. Danach kommt der Karneval: Masken und Luftschlangen. Und dann Ostern: Eier und Osterkuchen. Und dann der Sommer: Schwimmreifen, Sandeimer und Schäufelchen. Und schon ist es Herbst, und der ewige Zyklus der Pagode kann von vorn beginnen, wieder und wieder, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Man muss das zur Kenntnis nehmen und sich damit abfinden. Nur deswegen wird man sich in der Zukunft an uns erinnern, an die heutige Generation der Bewohner der Stadt. Wegen der Pagoden und wegen der Schwarzbauten mit Meerblick.
Auf deiner rasanten Autobahnfahrt entdeckst du eine ganze Reihe kariöser Häuser, die wie ein vergammeltes Gebiss aussehen. Der Zahnarzt hat den einen oder anderen faulen Zahn gezogen, und durch die Lücke kann man manchmal sogar das Meer erspähen. An und für sich wäre das Meer ein heiterer Anblick. Doch diese Lücken bieten, falls das überhaupt möglich ist, ein noch schlimmeres Bild als die für unsere Küstengegend typische Bauweise. Nach den Abrissarbeiten wurden die Trümmer nur teilweise entsorgt, denn niemand scherte sich um die Wiederherstellung der Ordnung. Daher wirken die Lücken, die den Blick auf das Meer ermöglichen, deprimierend, denn sie erinnern an eine verlorene Schlacht. Sie gemahnen uns alle daran, dass es einen Moment gab, in dem es so schien, als lohnte es sich, bestimmte Schlachten wenigstens zu schlagen.
Und solche Schlachten wurden in der Stadt zuhauf geschlagen. Und zuhauf findet man auch die unfreiwilligen Zeugnisse, die daran erinnern. Ein solches Schlachtendenkmal liegt nur wenige Kilometer entfernt. Auf der rechten Seite. In der Nähe von Capaci. Noch vor einigen Jahren kam es vor, dass auf der Fahrt von Punta Raisi ins Stadtzentrum jeder Redefluss im Auto plötzlich versiegte. Und zwar dann, wenn man die Stelle mit der rotbemalten Leitplanke passierte. Hatte man einen ausländischen Gast im Auto, wies man diesen schon ein paar Dutzend Meter vorher darauf hin: Achtung, jetzt kommen wir an der Stelle vorbei, wo das Attentat verübt wurde. Dann folgte eine Pause. Eine Pause, in der jeder darüber nachdachte, wo er an jenem Tag gewesen war und was er gerade gemacht hatte. Danach hörte die Pause auf, und das Gespräch ging weiter.
Später hat sich dieser Autobahnabschnitt verändert. Auf beiden Seiten wurde eine Stele mit den Namen, dem Datum und allem Drum und Dran errichtet. Häufig sieht man noch den Blumenkranz vom letzten 23. Mai, und da die Blumen innerhalb weniger Tage verwelken, verleiht auch dieses Detail der grandiosen Szenerie einen melancholischen Anstrich. Im Laufe der Zeit sind die beiden Obelisken mit dem verwelkten Blumenkranz zu einem Teil der Landschaft geworden. Niemand verspürt mehr das Bedürfnis, die Unterhaltung zu unterbrechen, wenn er an ihnen vorüberfährt. Man hat sich daran gewöhnt. Bestenfalls kommt uns kurz in den Sinn, wie wir einmal waren, wie die Zeit vergeht und so weiter. So ist das eben. Es ist die normale Trauerarbeit, besonders wenn der Staat sich mit Denkmälern und Zeremonien des ergriffenen Gedenkens angenommen hat. Die Zivilgesellschaft hat sich der Pflicht zur Erinnerung enthoben gefühlt, und das Leben verlief weiter entlang der gewohnten Gleise.
Trotzdem gibt es ein sehr inseltypisches Schuldbewusstsein, das nach jedem Mafiaverbrechen und für gewöhnlich an jedem Jahrestag die ziemlich dämliche Frage aufwirft: War dieser Tod nicht umsonst? Als gäbe es ein Nützlichkeitskriterium für den Tod eines Menschen. Als wäre es möglich, eine Schicklichkeitsgrenze festzulegen, unter der es sich nicht lohnt zu sterben. Als könnte man den Tod in eine Waagschale werfen und sein Gewicht bestimmen. Als wäre der Tod eine Ware. Als gäbe es einen Markt, auf dem man ihn eintauschen könnte. Als gäbe es eine andere Ware, die man gegen den Tod eines Menschen eintauschen könnte.
Mit einigen Jahren Abstand kann man sagen, dass es beim Tod von Giovanni Falcone und dem von Paolo Borsellino zumindest nicht das Gleiche war wie sonst. Dass diese Tode zumindest nicht umsonst gewesen sind. Die beiden Juristen und Symbolfiguren des Kampfes gegen die organisierte Kriminalität wurden 1992 durch Mafia-Attentate getötet. Und von 1992 bis 1994 war die Stadt überzeugt, die Vorhut der besseren Zukunft ganz Italiens zu sein. Schon immer hieß es, in der Stadt geschehe alles früher als anderswo. Auf jeden Fall geschieht es mit geradezu übertriebener Deutlichkeit. Damals fragte sich ein Teil der Einwohnerschaft: Warum sollte ein Aufstand der Anständigen nicht hier bei uns beginnen?
Vor 1992 war es allgemein üblich, den Kampf gegen die Mafia zu delegieren. Man schickte Richter und Polizisten in den Tod und empörte sich anschließend über ihr Ableben. Dann überschritt die Kurve der Empörung ihren Höhepunkt und begann, parallel zur staatlichen Empörung, abzufallen, bis die Dinge schließlich im Sand verliefen. Man beging den Jahrestag, man führte einen Prozess, der zumindest durch seine Dauer dazu beitrug, das Gedenken zu verlängern, und am Ende kehrte alles zu der üblichen Verwaltung des Zusammenlebens/Überlebens zurück.
Um zu verstehen, warum die Morde an Falcone und Borsellino der entscheidende Auslöser der ersten, wahren, einzigen und kurzen Rebellion gegen die Mafia waren, muss man wohl bis zum August 1991 zurückblicke...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Impressum
  3. Vorbemerkung: Die Stadt verändert sich, Bücher werden alt
  4. 1 Willkommen in der Stadt
  5. 2 Klischees
  6. 3 Orientierung im Chaos
  7. 4 Sterben, schlafen, vielleicht träumen
  8. 5 Ich schaue, du schaust
  9. 6 Iss, iss, und dir wird es besser gehen
  10. 7 Die Stadt liegt nicht am Meer
  11. 8 Heilige, Berge und Gärten
  12. 9 Elend und Adel
  13. 10 Kicken gegen die Dekadenz
  14. 11 Praktiken der Selbstexotisierung
  15. 12 Alles oder nichts
  16. Über den Autor