GRIECHENLAND –
Menschenrechte unter Beschuss
Im Jahr 2017 kurz in Athen, in den Jahren 2017 und 2020 auf Lesbos. In der griechischen Hauptstadt Athen haben geflüchtete Menschen im Hotel City Plaza ein neues Zuhause gefunden. Wie dieses Hotel von den betroffenen Menschen sowie engagierten Menschenrechts-Aktivisten geführt, betreut und gegen rassistische und fremdenfeindliche Widerstände aufgebaut und finanziert wird, beeindruckt mich zutiefst.
In diesem Jahr besuche ich auch erstmalig die Insel Lesbos und engagiere mich in den Flüchtlingslagern Pikpa, Kara Tepe und Moria. Ich habe keine offizielle Arbeitsgenehmigung bekommen, deshalb kann ich nur das Nötigste in meinem Rucksack mitnehmen.
Heute, im März 2020, begleite ich Fabiola José, eine chilenische Physiotherapeutin, die in Eigeninitiative eine physiotherapeutische Behandlungsstätte im Familiencamp Kara Tepe aufgebaut hat. Sie hat dafür einen kleinen Container zur Verfügung gestellt bekommen, in dem sie körperbehinderte Menschen behandelt. Heute will sie nach den Menschen im Moria-Camp sehen. Mit unserem afghanischen Übersetzer fahren wir los. Meine Eindrücke in Worte zu fassen fällt mir schwer! Kann ich das, was ich dort sehe, rieche und spüre überhaupt beschreiben?
Allein durch dieses Lager zu laufen, ist schon unglaublich deprimierend. Konzipiert für einige Tausend, leben hier wohl 14.000–
18.000 geflüchtete Menschen. Es ist auffällig, wie viele Kinder hier leben. Schätzungen der Caritas belaufen sich auf ca. 8.000 Kinder. Die Behausungen sind eng, teilweise auf dem ursprünglichen Camp-Gebiet, mittlerweile in den umliegenden Waldstücken und Olivenhainen verstreut. Teilweise mit Strom, oft aber ohne. Es gibt nur wenige sanitäre Anlagen, dennoch begegnen uns die Menschen freundlich und dankbar, dass wir nach ihnen sehen und Fabiola verschiedene physiotherapeutische Hilfsmaterialien austeilt.
Es wird langsam dunkel und überall werden kleinere Feuer entzündet als Wärme- und Lichtspender. Und überall sind Kinder, Kinder, Kinder … Ich habe noch nie ein solches Flüchtlingslager in Europa gesehen. Erinnerungen an medizinische Hilfseinsätze in Bangladesch, Haiti und Sri Lanka schießen mir durch den Kopf. Aber doch nicht vor unserer Haustür, in Europa! Dann lese ich die Meldung, dass die Große Koalition in Berlin den Antrag, 5.000 unbegleitete Kinder, kranke und alte Menschen aus Lesbos aufzunehmen, abgelehnt hat. Die Menschen hier in den Lagern sich selbst zu überlassen, durch Krieg und Flucht traumatisierten Kindern keine Hilfe anzubieten, ist unmenschlich.
Schnell spricht sich herum, dass ich Arzt bin, und in kürzester Zeit befinden sich zahlreiche Kinder, Frauen und Männer bei uns, die um eine ärztliche Untersuchung bitten. Ich versuche, einige zu untersuchen, habe aber kein therapeutisches, sprich medikamentöses Equipment dabei. Viele zeigen uns ärztliche Befunde und Rezepte, die die PatientInnen in Apotheken einlösen sollen, wofür ihnen aber das Geld fehlt.
Immer wieder sind es die Einzelschicksale, die mich zutiefst berühren. Ich lerne insbesondere die Not von körperbehinderten Menschen in den Lagern auf Lesbos kennen. Es ist eben etwas ganz anderes, Menschen kennenzulernen, ihnen in die Augen zu schauen, von ihrem Schicksal authentisch durch sie selbst zu erfahren. Es entsteht eine zwischenmenschliche Nähe, die nur durch diese Form der Begegnung erreichbar ist. Von einigen dieser Begegnungen möchte ich Ihnen berichten.
Die Geschichte der Familie Atala
Es ist ein sonniger Tag auf Lesbos. Wie jeden Morgen mache ich mich von meinem Hotel aus auf den Weg ins Kara-Tepe-Flüchtlingslager zu Fabiola. Auf meinem Weg durch Mytilini, der Hauptstadt der Insel Lesbos, begegne ich im Hafenbereich verschiedenen geflüchteten Menschen, die wild campen bzw. in Autowracks übernachten oder zwischen griechischen Kriegsschiffen, Parkanlagen und Häusern eine Übernachtungsmöglichkeit gefunden haben. Häufig sind dies kleine, notdürftig zusammengezimmerte Behausungen. Nach einer halben Stunde erreiche ich das Flüchtlingslager. Dort leben ca. 3.000 geflüchtete Menschen, die jeweils als Familie dort aufgenommen worden sind. Jeden Tag kommen Frauen und Männer mit multiplen Bewegungseinschränkungen und Behinderungen zu Fabiola in die Praxis. Besonders zwei junge Männer haben mich während meines Aufenthaltes in diesem Camp beeindruckt.
Da ist Yasser mit seinem Bruder Samir. Yasser ist 33 Jahre alt. Er wird von seinem jüngeren Bruder Samir im Rollstuhl sitzend in den Behandlungscontainer geschoben. Ich stelle mich kurz vor und Fabiola erläutert mir die Leidensgeschichte dieses jungen Mannes: Bei einem Bombenangriff der syrischen Assad-Armee in der Nähe von Idlib vor zwei Jahren wurde Yassers Ehefrau getötet und er selbst schwer verletzt. Auch jetzt hat er noch eine deutliche Querschnittssymptomatik, kann sich nicht selbstständig bewegen, ist auf den Rollstuhl angewiesen und hat zudem einen Urinbeutel, da auch seine normale Blasenfunktion gestört ist. Die Leidensgeschichte von Yasser und seiner Familie macht traurig, melancholisch und wütend zugleich. Yasser hat eine sechsjährige Tochter namens Daniah und eine fünfjährige Tochter mit dem Namen Raniah. Die drei waren nach der Katastrophe von Yassers Bruder von Idlib in die Türkei gebracht worden. Die Flucht war beschwerlich und zehrte an den körperlichen sowie psychischen Kräften aller Familienmitglieder. Da Yasser nicht selbstständig gehen kann, trug ihn sein Bruder Samir einen Großteil des Weges.
In der Türkei angekommen, waren sie für kurze Zeit in einem Flüchtlingslager, das kaum internationalen Hygienestandards entsprach. Die Familie beschloss, weiter über die Ägäis nach Griechenland zu fliehen. Also bezahlten sie die Schleppergebühren, wurden in ein Schlauchboot gepfercht und kamen nach 10 Stunden Fahrt auf Lesbos an. Völlig erschöpft waren er und seine beiden Töchter. Sie wurden nach einer kurzen Aufenthaltsdauer im Moria-Camp in das Familiencamp Kara Tepe überstellt.
Yasser zeigt mir seine Röntgenaufnahmen, die er auf seinem Handy gespeichert hat, mit der bangen Frage an mich gerichtet, ob er operiert werden könne, um dann endlich aus dem Rollstuhl aufstehen und wieder selbstständig laufen zu können. Fabiola macht währenddessen die ersten Übungen mit ihm. Es ist zutiefst bewegend zu sehen, mit welcher Intensität, Ausdauer und welchem Willen Yasser versucht, erste eigenständige Fortbewegungen, zuerst auf den Knien, dann aufrecht stehend, zu machen. Immer wieder unterbrochen von einer tiefen körperlichen, aber oft auch spürbaren psychischen Erschöpfung.
Oft fragt er Fabiola mit Tränen in den Augen, ob sie wirklich daran glaube, dass er wieder gehen könne. Fabiola nimmt sich dann Zeit für dieses Gespräch mittels Dolmetscher. Sie bereitet einen Tee zu, setzt sich zu ihm auf eine kleine Bank oder den großen Medizinball und macht ihm Mut. Sie berührt seine Beine, sie schaut ihm in die Augen, sie nimmt ihn in den Arm und tröstet ihn. Yasser akzeptiert diese Berührungen durch eine fremde Frau. Man spürt, welch große Bedeutung dieser Zuspruch für ihn hat. Man spürt aber auch seine Ambivalenz, seinen Kampf zwischen Aufgeben und Weiterkämpfen, zwischen Hoffnungslosigkeit und Hoffnung, zwischen Verzweiflung und dem Mut, das Schicksal bezwingen zu wollen.
Er betont immer wieder, dass er für seine beiden kleinen Töchter als Vater da sein möchte. Dazu gehört für ihn aber auch, wieder Geld verdienen zu können, und dies ist nur möglich, wenn er gehen kann. Yassers älterer Bruder lebt in Deutschland in der Nähe von München. Er hofft so sehr, eines Tages mit seinem jüngeren Bruder Samir und seinen beiden kleinen Töchtern dorthin reisen zu dürfen. Die griechischen Behörden haben ihm allerdings vermittelt, dass die nächste Anhörung bezüglich seines Asylverfahrens erst in eineinhalb Jahren stattfinden wird. Welch deprimierende Perspektive, denke ich. Neben dem körperlichen und psychischen Leid kommt diese administrative Willkür hinzu.
Einige Monate später werden Yasser, seine beiden Töchter und Samir auf das griechische Festland nach Athen geschickt. Dort wartet er auf die Anerkennung seines Asylantrags. Dann höre ich einige Monate lang nichts mehr von der Familie Atala. Im April 2021 erreicht mich schließlich eine WhatsApp-Nachricht von Yasser. Er bittet mich dringend um Hilfe. Sein Asylantrag sei zwar anerkannt worden, dies hätte aber zur Folge, dass die staatliche Unterstützung sofort eingestellt worden sei. Als anerkannter Asylbewerber müsse er jetzt selbst für seinen und den Lebensunterhalt seiner Töchter sorgen. Wie soll ein querschnittsgelähmter junger Mann das bitte machen?
Yasser berichtet mir weiter, dass die griechischen Behörden ihm unmissverständlich vermittelt hätten, bis Monatsende die von der Caritas Hellas zur Verfügung gestellte Wohnung zu verlassen, das sei leider herrschende administrative Praxis in Griechenland und man könne nichts dagegen tun. Warum scheint hier eine kirchliche Organisation das menschenrechtsverletzende Verhalten des Staates zu akzeptieren, ja, sogar zu unterstützen? Ich bemühe mich, der Familie einen Weg nach Deutschland zu ermöglichen.
Die Geschichte von Khalid
Khalid ist 33 Jahre alt. Er ist verheiratet mit Nashmia und hat mir ihr zwei kleine Kinder. Er lebte bis vor seiner Flucht in al-Hasaka, einer großen Stadt in Nordostsyrien. Im Sommer letzten Jahres zerstörte eine Bombenexplosion seine Wohnung. Die Bomben wurden vermutlich von Flugzeugen des Assad-Regimes abgeworfen. Immer wieder erfahre ich von diesen Gräueltaten eines Diktators gegen seine eigene Bevölkerung. Die Explosion führte dazu, dass Dachteile auf Khalid stürzten und er ein Schädel-Hirn-Trauma erlitt. Sein Vater starb. Schwer verletzt wurde er in Syrien behandelt. Seit diesem Zeitpunkt leidet er unter einer Paraplegie (Lähmung beider Beine) sowie einer spastischen Lähmung des rechten Armes. Trotz dieser Einschränkungen entschloss sich Khalid, mit seiner Familie über die Türkei nach Europa zu fliehen, da die Situation durch den Krieg in Syrien weiterhin lebensgefährlich für sie war. Im Dezember 2019 erreichte er die griechische Insel Lesbos. Seitdem lebt er im Kara-Tepe-Camp. Er geht dort regelmäßig seit einem halben Jahr in den kleinen Physiotherapie-Container von Fabiola.
Ich begegn...