Fährmann, hol über!
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Fährmann, hol über!

Oder wie man das Johannesevangelium pfeift

  1. 160 Seiten
  2. German
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Fährmann, hol über!

Oder wie man das Johannesevangelium pfeift

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Über dieses Buch

Kaum eine Schriftstellerin verbindet Humor, Leichtigkeit und Tiefgang so wunderbar wie Felicitas Hoppe. Mit dieser unnachahmlichen Mischung blickt sie auf Themen, die sie seit ihrer Kindheit bis heute begleiten: Die Bibel, den heiligen Martin und die heilige Johanna, den Apostel Paulus und das Reich Gottes. Sie taucht ein in die Welt religiöser Zeichen und Geschichten, verbindet dabei auf so kühne wie geistesgegenwärtige Weise Spekulationen über die Paulusbriefe mit Kindheitserinnerungen und verrät uns nebenbei, wer eigentlich ihr Lieblingsheiliger ist. Sie pfeift sich durch das Johannesevangelium, erzählt von biblischen Karrieresprüngen, von einem geheimnisvollen roten Seil und einer revolutionären Botschaft im Sand.Ein Buch nicht nur für Sprachliebhaber, sondern für alle, die Lust auf die Nach- und Neuerzählung uralter Stoffe im hellen Licht einer scharfen Beobachtungsgabe haben. Ein literarischer Parforceritt, der mit Witz und Charme vermeintlich Vergangenes zurück in unsere alltägliche Gegenwart holt!

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Information

Jahr
2021
ISBN
9783451822537
image

VI. Wie pfeift man das
Johannesevangelium?

Ich beginne mit einem juristischen Fall: Am 31. Januar 1456, fünfundzwanzig Jahre nach der Hinrichtung der Jeanne d’Arc auf dem Scheiterhaufen in Rouen, berichtet der im Rehabilitationsprozess als Zeuge in Vacouleurs vernommene Jean de Metz Folgendes: „Ich sah die Jungfrau ankommen in einem ärmlichen roten Kleid. (…) Ich redete sie an: ‚Was macht Ihr hier?‘, und die Jungfrau antwortete mir: ‚Ich bin in diese königliche Stadt gekommen, um Robert de Baudricourt zu sprechen, daß er geruhe, mich zum König zu führen, oder führen zu lassen. (…) Niemand auf der Welt, nicht König, nicht Herzog, kein schottisches Königskind oder andere können das Königreich Frankreich wiedererlangen. Es gibt keine Hilfe als durch mich! Und dennoch, ich würde lieber neben meiner armen Mutter spinnen – denn dies hier ist nichts für mich, aber ich muß gehen, ich muß es tun, denn es ist der Wille meines Herrn.‘ Ich fragte sie, wer ihr Herr sei; sie antwortete: ‚Gott.‘ Und dann habe ich, Jean, der Jungfrau mit Handschlag versprochen, daß ich sie mit Gottes Hilfe vor den König führen würde. (…) Und unterwegs fragte ich sie, ob sie wirklich tun würde, was sie gesagt hatte. Und sie antwortete immer: ‚Da fürchte ich nichts, denn ich habe den Auftrag, es auszuführen – und meine Heiligen sagen mir, was ich tun soll.‘“
Jede Nacht, so die Aussage des Zeugen, „schliefen Bertrand und ich neben ihr. Sie lag mir zur Seite, in Wams und Hosen. Sie brachte mir eine solche Achtung bei, daß ich nie gewagt hätte, sie zu begehren. Ich schwöre, daß ich ihr gegenüber nie ein Verlangen oder eine Begierde verspürt habe. (…) Ich glaubte an die Worte der Jungfrau. Ich war begeistert von ihren Worten und von ihrer Gottesliebe. Ich glaubte, daß sie von Gott gesandt war: Sie fluchte nie, ging gern zur Messe, und um zu schwören, machte sie das Kreuzzeichen. So haben wir sie zum König geführt, bis nach Chinon (…).
Die Gestalt der heiligen Johanna von Orléans ist – wie bereits im „Doppelten Martin“ erläutert – allgemein bekannt, ihre Geschichte ist überreich dokumentiert. Auch wenn wir gut daran tun, den Aussagen der Zeitzeugen Vorsicht entgegenzubringen, steht außer Frage, dass Johanna über etwas verfügte, das wir in der Regel mit dem Begriff der Aura zu fassen versuchen, jener Ausstrahlungskraft, die einer Person nicht nur Zauber, sondern auch eine gewisse Macht verleiht, das also, was wir als natürliche Autorität bezeichnen, der wir uns möglicherweise auch wider Willen und gegen jede Vernunft nicht entziehen können.
Natürliche Autorität ist weit schwerer zu definieren als der Begriff der Autorität allgemein, der sich immerhin notdürftig durch das Vorhandensein einer spezifischen Kompetenz (Autorität durch Wissen) oder in Bezug auf die Ausübung eines Amtes oder einer Funktion (administrative Autorität) eingrenzen lässt. Sie ist nicht zu fassen, weil sie weder erworben noch (von Menschen) verliehen werden kann, auch wenn Managerseminare gern Gegenteiliges versprechen und damit in die Nähe stark aufgeladener und ambivalenter Begriffe wie etwa den des Charismas geraten. Die meisten Definitionsversuche zäumen daher das Pferd von hinten auf, indem sie Wirkungen beschreiben, ohne ihre Ursache erklären zu können. Sie sprechen von Respekt und Achtung, von Autorität durch Würde.
Aber was ist Würde, was Respekt und was jene Achtung, die Johanna dem jungen Jean de Metz beibrachte, wenn sie nachts unterwegs nach Chinon in Wams und Hosen neben ihm lag und er angeblich nicht das geringste Begehren empfand? Selbst wenn wir in Rechnung stellen, dass Johanna sich mit einer an Selbstüberhebung grenzenden Entschiedenheit als unwiderrufliche Autorität präsentierte („Es gibt keine Hilfe außer durch mich!“), bleiben die Akzeptanz und der Respekt, der ihr bei aller Feindschaft von vielen Seiten entgegengebracht wurde, bis heute ein Geheimnis, das sich auch durch den Hinweis auf jene Instanz nicht lüften lässt, die Johanna nach eigener Aussage Autorität verlieh: „Ich muß es tun, denn es ist der Wille meines Herrn.“
Der genannte Herr ist so bekannt wie jene Heiligen, auf die Johanna sich immer wieder beruft. Aber war ihr Wille verbürgt? Wer die Geschichte des frühen fünfzehnten Jahrhunderts kennt, weiß, wie viele selbst ernannte Autoritäten damals in Angelegenheiten ihres HERRN unterwegs waren und wie streng sie jener Überprüfung weltlicher und kirchlicher Autoritäten unterworfen waren, denen am Ende auch Johanna zum Opfer fiel.
Das dürfte neben den bekannten politischen Gründen auch ihrem Eigensinn geschuldet sein, jener propria voluntas, die sich nicht nur auf den eigenen Willen, sondern, allem voran, auf die eigene Wahrnehmung (die eigenen Sinne) und auf eigene Erkenntnis beruft, und die nicht nur von Seiten der katholischen Kirche immer wieder aufs Schärfste bekämpft worden ist. Die Geschichte des menschlichen Eigensinns ist so alt wie die Geschichte menschlicher Autorität, sie sind, einer des anderen Spiegel, im ständigen Streit zwischen Unterwerfung und Selbstbestimmung.
Es ist kein Zufall, dass der Begriff des Eigensinns bis heute tendenziell negativ besetzt ist, was die Suche nach Synonymen bestätigt, bei der wir auf Begriffe wie stur, verstockt, unbelehrbar, dickköpfig und starrsinnig stoßen (um nur ein paar zu nennen), von denen sich einige auch auf jener Schandmütze fanden, die Johanna auf dem Weg zur Hinrichtung trug und in der sich die Beziehung von Text und Norm gewissermaßen stichwortartig spiegelt. Sprichwörter, das sei hier am Rand bemerkt, arbeiten nach einem nicht unähnlichen Muster normativer Setzungen durch suggestive Kürze und sind damit ein aufschlussreiches Beispiel für literarische Normenbildung durch Sprüche: „Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um!“, „Hochmut kommt vor dem Fall!“
Doch selbstverständlich könnte man diese Attribute allesamt durch ihr Gegenteil ersetzen, durch selbstbestimmt, fantasievoll, womöglich frei, denn dass sich menschlicher Eigensinn als produktiver Motor durch die gesamte Geschichte der Menschheit zieht, steht außer Frage. Und doch hat der Eigensinn nie ganz den Geruch eines Entwicklungs- und Erziehungsfehlers verloren, der sich bis in die Grimm’sche Märchensammlung hineingeschrieben hat, in der eines der kürzesten Märchen den Titel Das eigensinnige Kind trägt:
„Es war einmal ein Kind eigensinnig und tat nicht, was seine Mutter haben wollte. Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und ließ es krank werden, und kein Arzt konnte ihm helfen, und in kurzem lag es auf dem Totenbettchen. Als es nun ins Grab versenkt und die Erde über es hingedeckt war, so kam auf einmal sein Ärmchen wieder hervor und reichte in die Höhe, und wenn sie es hineinlegten und frische Erde darüber taten, so half das nicht, und das Ärmchen kam immer wieder heraus. Da mußte die Mutter selbst zum Grabe gehen und mit der Rute aufs Ärmchen schlagen, und wie sie das getan hatte, zog es sich hinein, und das Kind hatte nun erst Ruhe unter der Erde.“
Egal, ob wir Johannas Geschichte als Erfolgsgeschichte, als Geschichte tragischen Scheiterns oder, wie heute weitgehend üblich, als Krankengeschichte lesen, bleibt am Ende ein Geheimnis, das sich nicht auflösen lässt. „Jede Wissenschaft“, schreibt der Politologe Andreas Anter, „verdankt ihre Existenz der Tatsache, dass es Geheimnisse gibt, denn wissenschaftlich interessant ist immer nur, was nicht offen zutage liegt. Es gäbe überhaupt keinen Grund, sich mit einem Gegenstand zu beschäftigen, über den man schon alles wüsste. (…) Das Geheimnis spielt nicht nur in den Wissenschaften, sondern generell für das Zusammenleben der Menschen eine konstitutive Rolle.“
Eine unangefochtene Hauptrolle spielt das Geheimnis seit jeher in der Literatur. Sie ist es, die Geheimnisse so unberechenbar wie produktiv hütet, weil sie, im Gegensatz zu den Wissenschaften, weniger der Lüftung als der Inszenierung und damit der Konsolidierung eben jenes Geheimnisses dient. Im Gegensatz zu den Wissenschaften lebt die Literatur, selbst da, wo sie scheinbar aufklärerisch auftritt, nicht von der Enthüllung, sondern von der Verhüllung, woraus sonst sollte sie ihr Gold und ihre Effekte schlagen. Sie nimmt sich die Freiheit, Geschichte zu Geschichten zu machen und damit in Konkurrenz mit anderen Deutungshoheiten zu treten, wobei sie mit Vorliebe Autoritäten ganz unterschiedlicher Art die Bühne bereitet. Literatur lebt nun mal vom Drama, von der Gegensätzlichkeit ihres Personals, sie schöpft ihre Kraft und Energie nicht aus der nüchternen Betrachtung ihrer Figuren, sondern aus der Beschreibung und Stilisierung ihrer Hierarchien untereinander.
Um das zu illustrieren, muss man kein Shakespearesches Königsdrama bemühen. Es reicht, wenn wir uns an frühe mündliche Traditionen wie die der Sagen, Märchen und Legenden halten, deren Wirkung bis in die Gegenwart reicht. Dazu bedürfen sie keines Autors, sondern einzig der Autorität der Erzählung. Dass wir bis auf den heutigen Tag Märchen, Sagen und Legenden lesen, verdankt sich nicht ihrer Autorschaft, sondern ihrer Handlung, ihrer schlichten Plausibilität, dem also, was eine gute Erzählung ausmacht: ihrer Einfachheit, ihrer Übertragbarkeit, ihrer Relevanz und ihrer Fähigkeit, für Struktur im Denken und Fühlen zu sorgen.
Das ist nicht zuletzt der Abwesenheit eines erzählenden Ichs geschuldet. Märchen sind nicht subjektiv, sondern auktorial und, gegenläufigen Annahmen zum Trotz, weniger subversiv als konservativ, also nicht dazu da, Illusionen, sondern eine Ordnung zu schaffen, die von lauter unerfüllbaren Wünschen flankiert ist, was die Wünsche nicht weniger wünschenswert macht, sondern bloß an die richtige Stelle setzt. Die Erzählung markiert sie hartnäckig und unerbittlich als das, was sie sind: genauso unerfüllbar wie die Mission der Jungfrau.
Es ist so fahrlässig wie verführerisch, die Protokolle des gegen Johanna angestrengten Prozesses unter literarischen Gesichtspunkten zu lesen. Ein literarisch gestimmtes Ohr wird sich der Versuchung dennoch kaum entziehen können. In unserem Zusammenhang sind sie aber vor allem deshalb von Interesse, weil wir hier ein Kräftefeld vorfinden, auf dem die Frage nach Autorität nicht in Opposition, sondern auf der Basis von Interpretation verhandelt wird, weil wir uns mitten in einem Verfahren befinden, in dem bei genauem Hinsehen nicht Glaubensfragen im Mittelpunkt stehen, sondern die Frage nach ihrer Auslegung in Hinblick auf Befugnis. Denn nicht einen einzigen Moment lang lässt Johanna auch nur den geringsten Zweifel daran aufkommen, dass sie in Gottes Auftrag handele. Sie tritt entschieden als Auftragnehmerin auf und glaubt sich damit, wie absurd auch immer sie in dieser Rolle gegenüber einem Tribunal erscheint, dessen Machenschaften sie nicht durchschaut, in einem prinzipiellen Einverständnis mit jenen, die sie verhören. Sie denkt, wie jene, in Hierarchien und hält sich für eine von höchster Instanz in ihr Amt Berufene, deren Berufung dem Gericht bloß nicht offenbar wird.
Damit betritt Johanna, diese Analphabetin im „ärmlichen roten Kleid“, eine Bühne, die Kunst und Literatur jahrhundertelang nachgestellt haben, ohne jemals die Kraft ihres Originals zu erreichen. Dass wir es im Fall der Jungfrau trotzdem mit einer literaturfähigen Figur ersten Ranges zu tun haben, erkennen wir sofort. Die Fülle der über sie verfassten literarischen Werke beweist das ebenso wie die Tatsache, dass Johanna, neben Napoleon, zu den am häufigsten verfilmten Gestalten der Weltgeschichte zählt. Kunst wird erst in zweiter Linie interpretiert, in erster Linie ist sie selbst eine Form ständiger Neuinterpretation durch entschiedene Autorschaft, deren Autorität sich allerdings, selbst da, wo sie sich um historische Recherche bemüht, nicht, wie in den Wissenschaften, aus Versuchen möglichst genauer Rekonstruktion und Beweisführung speist, sondern aus ihrem Behauptungscharakter, den sie mit literarischen, also rhetorischen Mitteln erzeugt, was sie im Streit um Deutungshoheiten seit jeher höchst anfechtbar macht.
Der Kunsthistoriker Johan Huizinga geht in einem Aufsatz zu George Bernard Shaws Theaterstück Die Heilige Johanna sogar so weit zu behaupten, gewisse historische Größen entzögen sich gerade wegen der übergroßen Wirkung ihrer Autorität grundsätzlich literarischer Darstellbarkeit, wohingegen historisch nicht verbürgte, sagenhaft nebulöse Gestalten wie beispielsweise König Artus oder Wilhelm Tell überhaupt erst durch die Literatur den Rang einer Autorität erlangten. Er greift dabei auf den bekannten Vorwurf gegen die Literatur zurück, sie schaffe Realitäten, die gar keine seien, schrumpfe dagegen jene, denen man sich einzig durch wissenschaftliche, bestenfalls essayistische Darstellung annähern könne, ein.
Darin ergeht es Johanna nicht anders als dem, den sie zeit ihres kurzen Lebens im Sinne einer Imitatio Christi nachahmen wollte: Schlechte Jesusromane und -filme sind Legion und selten mehr als ein Beweis dafür, wie groß die Anziehungskraft einer Aura der Heiligkeit für die Literatur ist und wie sehr sie sich zugleich menschlichen Begriffen und künstlerischen Mitteln entzieht. In der Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin (Joh 8,1–11) befinden wir uns – ähnlich wie Johanna – wieder vor Gericht. Vor einem Gericht allerdings, wo der Richter plötzlich kein Richter mehr ist, sondern ein Lehrer, der, wie jeder begabte Lehrer, seine Autorität nicht durch ein Urteil ins Spiel bringt, sondern dadurch, dass er die Frage, um die es hier geht, an die Ankläger weitergibt und sie damit überraschend zu seinen Schülern macht: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie. Dann bückte er sich wieder und schrieb auf die Erde.“ (Joh 8,7.8)
Was Jesus auf die Erde schrieb, wissen wir nicht, eine Zauberformel war es mit Sicherheit nicht. Gute Lehrer sind keine Trickkünstler, sondern regen zum Denken an und durch ihr Denken zum Widerspruch, der sich in einem Steinwurf nicht auflösen lässt. Jesu Geste, das Schreiben in den Sand, ist kein geheimniskrämerisches Zeichen, ein Text schon gar nicht, sondern schlicht und einfach jene schöpferische Pause, die wir in der Regel zum Nachdenken brauchen, um am Ende zu einem eigenen Urteil zu kommen. Über jedem Gesetz steht schließlich die Erkenntnis, dass auch die Autorität des Gesetzes nur Menschenwerk ist, das ständig überprüft werden muss. Nicht umsonst lautet Johannas Maxime: Regiere dich selbst!
Wie schwer es ist, sich selbst zu regieren, wissen Dichter und Schriftsteller vermutlich am besten, denn Kunst ist jederzeit Auftragskunst; selbst da, wo nicht von Kunst im staatstragenden Sinn die Rede ist, von hagiographischen Hofpoeten oder poetischen Chefideologen, deren ausgewiesene Aufgabe es ist, ein Lob auf die Macht zu singen. Auch da, wo Schriftsteller angeblich in eigener Sache unterwegs sind, also Auftraggeber und Auftragnehmer in einer Person, selbst ernannte Schöpfer eines eigenen Werkes, stehen sie in einer Ordnung, die außerhalb ihrer selbst existiert und auf die sie sich auf die eine oder andere Weise beziehen. Dass Autor und Schöpfer (auctor als Autor, Urheber, Schöpfer, Veranlasser) etymologisch in eins fallen, ist eine Binsenweisheit, ebenso, dass jeder Autor sich, bewusst oder unbewusst, auf das Vorbild eines Urschöpfers bezieht.
Damit ist kein Glaubensinhalt gemeint. „Geschichte nennt man Geschichten, denen der Erzähler einen Sinn gibt“, schreibt Franz Blei (1913) und fährt, Thomas Hobbes zitierend, fort: „Veritas in Verbo, non in re consistit (…), im Worte, nicht in der Sache liegt die Wahrheit. (…) Damit aus dem Kloss Erde ein Mensch würde, nahm Gott der Herr ein Rohr und blies ihm seinen Odem ein. So tut der Dichter. Das ist seine Gottähnlichkeit. (…) Er schafft nach seinem Ebenbilde. (…) Die Menschen sind an dem zu erkennen, was die Dichter über sie aussagen.
In dieser Aussage ist so viel Erkenntnis wie Anmaßung enthalten. Schließlich könnte man umgekehrt auch behaupten: Die Erschaffung des Menschen ist Handwerk, nicht Wortwerk. Aber selbst wenn wir, dem Johannesevangelium folgend, glauben, dass am Anfang tatsächlich das Wort war, bleibt die Frage: Wer spricht? (Wer schreibt?) Und die Frage: Wer spricht (und wer schreibt) in wessen Auftrag? Zu wem und für wen? Welcher Autorität, wessen Interessen unterstehen wir, wenn wir das Wort ergreifen? Wer zeichnet verantwortlich für das, was wir sagen (schreiben)? Vor allem aber: Wem schenken wir und wer schenkt uns Glauben? Und warum?
Michel Foucault begegnet dieser Frage in seinem inflationär häufig zitierten Aufsatz Was ist ein Autor (1969) mit einem Zitat von Beckett: „Was liegt daran, wer spricht, hat jemand gesagt. Was liegt daran wer spricht?“ „In dieser Gleichgültigkeit“, so Foucault weiter, „muß man wohl eines der grundlegenden ethischen Prinzipien ze...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Thomas Brose: Hoppe – Hell und schnell
  6. I. Das aufgespannte Ohr Gottes
  7. II. Ohne Ansehen der Person
  8. III. Das rote Seil
  9. IV. Dein Reich komme
  10. V. Der doppelte Martin
  11. VI. Wie pfeift man das Johannesevangelium?
  12. VII. Und schrieb in den Sand
  13. VIII. Fährmann, hol über!
  14. IX. Gliedermann oder Gott
  15. X. Die Weihnachtsgeschichte
  16. Literatur- und Quellenhinweise
  17. Viten