Stauffenberg. Folgen
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Stauffenberg. Folgen

Zwölf Begegnungen mit der Geschichte

  1. 208 Seiten
  2. German
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Stauffenberg. Folgen

Zwölf Begegnungen mit der Geschichte

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Nach dem Erfolg ihres Buches "Stauffenberg – mein Großvater war kein Attentäter" erhielt Sophie von Bechtolsheim zahlreiche Briefe und E-Mails, in denen ihr Menschen von sich und ihren Familien erzählten: von den Schuldgefühlen angesichts der eigenen Begeisterung für Hitler, von den Erlebnissen während des Nationalsozialismus und in der Zeit danach und wie diese Zeit bis heute prägende Wirkung in den Familien entfaltet.In ihrem neuen Buch begegnet Sophie von Bechtolsheim Menschen, die ihr von der Prägekraft der Geschichte erzählen und von den Fragen, die uns alle beschäftigen: Aus welchen Motiven handeln wir? Welche äußeren Umstände sind entscheidend? Wie viel Freiheit hat der Einzelne bei der Bestimmung seines Lebens?So entstehen grandiose Familiengeschichten der vergangenen knapp 100 Jahre.

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Information

Jahr
2021
ISBN
9783451822469
Auflage
1
Thema
History

„Vergebung zu bekommen, ist schön und wertvoll. Nur glauben kann ich es nicht“
Bert Heinrich

Wir müssen nicht bleiben, was wir geworden sind oder was „die Geschichte“ aus uns gemacht hat. Bert Heinrich findet nach dem Zusammenbruch seines Weltbildes neue Wertvorstellungen. Aus einem halbwüchsigen Soldaten der Waffen-SS, der damals vom NS-Regime überzeugt war, wird ein großer Lehrer und Freund.
Narzissen blühen, Rosen knospen. Der Frühling hat sich ins Zeug gelegt und helles Grün über die Landschaft gebreitet. Die Sonne bescheint den Garten, in dem sich Bert Heinrich und seine Frau Haiku in diesen Tagen viel tummeln. Mit Blick auf die Alpenkette lässt sich die Quarantäne im Dorf aushalten, die das Coronavirus allen aufzwingt. Das Ehepaar gehört mit Berts 94 und Haikus 87 Jahren zur „Risikogruppe“, auch wenn beide mindestens 20 Jahre jünger wirken. So hielten sie sich beide schon vor den offiziellen Ausgangsbeschränkungen eisern an die Ratschläge ihres Nachbarn, eines Arztes, der ihnen die körperliche Distanz zu den Mitmenschen dringend empfahl, auch wenn der Nachbar dadurch selbst auf die Unterstützung beider bei der Betreuung seiner Kinder verzichten muss. Den Kontakt zu Bert suchen noch immer viele, denn der erste Eindruck, den er vermittelt, trügt nicht: hellhörig, behutsam und verbindlich. Er hat die seltene Gabe, die Weisheit, die sich aus seinem wechselvollen Leben speist, mit der Neugier am Unbekannten zu verbinden. Der Maßstab ist stets das Gegenüber, der Mensch, der ihm gerade begegnet. Dessen Anliegen nimmt Bert ernst, begibt sich auf Augenhöhe, stellt niemals den eigenen, reichen Erfahrungsschatz voran, unterschlägt jedoch auch nicht die Erwartung an einen Umgang, der das gegenseitige Vertrauen verdient.
„Immer wieder denke ich, dass wir im Leben doch sehr weite Wege gehen, und es ist für mich ein bewegendes Erlebnis, wenn sich gegen Ende dieses Gehens Kreise schließen“, so schrieb mir Bert in einer der ersten Zuschriften nach Erscheinen meines Buches. In gewisser Weise hatte er Anteil an dessen Entstehung, weil mir Gespräche mit ihm die Mentalitäten zur Zeit des Nationalsozialismus näherbrachten. Welche weiten Wege Bert selbst zurücklegte und welche Kreise er ziehen musste, wusste ich jedoch nicht. Er hatte die Männer des 20. Juli 1944 und besonders Stauffenberg, so schrieb er mir in seinem Brief, „als Verräter früher völlig abgelehnt“. Seine eigene Haltung zur Zeit des Nationalsozialismus plagt Bert bis heute. Er setzt sich seit Jahrzehnten mit der deutschen Geschichte und seinem eigenen Platz darin auseinander. Nachts, wenn er nicht schlafen kann, und tagsüber, wenn er recherchiert, liest, schreibt. Dies geschah und geschieht in verschiedenen Phasen seines Lebens, in Wellen, wenn ihm Artikel oder Bilder, Lieder oder Zahlen ins Bewusstsein schwappen. Dann entstehen Texte wie dieser, den Bert im Jahr 2018 in Erinnerung an seinen Jugendfreund Walter niedergeschrieben und den er „Für Ihn und die Anderen“ betitelt hat:
Jung waren wir und stark,
wir lachten, hatten hochfliegende Pläne,
die Welt gehörte uns
und wir waren uns nahe.
Aber dann kam der Sturm:
Er riss uns alle weg, alle,
wer sich halten wollte,
wurde samt seinem Halt fortgerissen,
irgendwohin.
Dann war der Sturm zu Ende:
Wir Herausgerissenen standen mühsam auf,
reckten uns und suchten die Anderen,
die aber waren nicht mehr zu finden,
verweht für immer und nirgendwo.
Wir arbeiteten und kamen voran.
Nachts aber sucht mich Angst heim,
die Hinterlassenschaft des Sturmes, unauslotbar,
und ich finde dafür keine Worte.
Auslöser für Berts wiederkehrende Phasen kann die eigene Erinnerung sein, die sich ungebeten plötzlich einstellt. Auslöser können Berichte sein, die den Ungeist vergangener Zeiten tagesaktuell werden lassen. Dann taucht die Frage auf, die Bert immer und immer wieder an sich selbst stellt: „Was ist zu tun? Was kann ich tun?“ Er hofft bis heute, dass nichts von dem, was ihn damals verwirrte und verirrte, in die Gegenwart nachwirkt. Er hat seinen Rucksack nicht versteckt, sondern angesehen und ausgepackt. Er versuchte, den Inhalt, das Erlebte einzuordnen und in einem „archive intérieure“ abzulegen. Es ist ein inneres, aber kein geheimes Archiv. Auch anderen gewährt er nun Zutritt.
Bert wurde am 27. Juni 1926 in Stuttgart geboren, „an Siebenschläfer“, wie er gleich hinzufügt. In diesem Fall ist der Name des Tages nicht Programm. Als Ältester von vier Kindern, einem Bruder und zwei Schwestern, wuchs er in den ersten Jahren in Mettingen, einem Vorort des württembergischen Esslingen auf. Er fühlte sich von Beginn an für seine jüngeren Geschwister zuständig. „Das war einfach so“, sagt Bert. Das erwartete seine Mutter von ihm und das zog er nie in Zweifel. „An meiner Hand machte mein kleiner Bruder Horst seine ersten Schritte, an meiner Hand machte er seine letzten Schritte.“ Im Jahr 1980, auf Berts Arm gestützt, am Tag, an dem der Bruder an einem Gehirntumor starb.
Die Heinrichs wohnten gemeinsam mit Großeltern und der Familie des Onkels mütterlicherseits in einem Haus, die väterlichen Großeltern nur ein paar Häuser weiter. Eingebettet in die Großfamilie erlebten Bert und seine Geschwister eine behütete Kindheit. Die Eltern hatten jung eine Familie gegründet. Der Vater war noch Maschinenbaustudent. Die Mutter, die aus einer zwölfköpfigen Familie stammte, war, bevor sie Hausfrau und Mutter wurde, „in Stellung“ gewesen – so sagte man damals: Sie hatte im Haushalt einer großbürgerlichen Stuttgarter Familie ihren Unterhalt verdient. Bert war der Grund für die Heirat, der etwas beschleunigte Start in eine harmonische Ehe. „War nicht verkehrt, sie haben sich ja mögen“, sagt Bert, sacht schimmert jetzt das Schwäbische durch. In Berts Herkunftsfamilien war man im guten, rechtschaffenen Sinn christlich, ohne übermäßigen Wert darauf zu legen. Politisch dachte man deutsch-national. Der verlorene Krieg 1918 und der Friedensvertrag von Versailles wurde von Berts Eltern als großer Bruch, als traumatisches Ereignis wahrgenommen. Man war enttäuscht von den Autoritäten, fühlte sich allein gelassen von Kirche und Staat, die – so empfanden es viele – keine Hilfe boten in den gesellschaftlichen Umbrüchen und Unsicherheiten dieser Zeit. Dem demokratischen System der Weimarer Zeit begegnete man skeptisch. Bert erinnert den Satz, den er als Kind aufgeschnappt hatte: „Die reden ja bloß.“
Berts Eltern gaben ihm Orientierung, seine Großmutter prägte ihn. „Wie sehr, und welche Qualität unsere Beziehung hatte, habe ich erst viel später erkannt.“ Die Großmutter eröffnete dem Jungen das Universum des Geistigen, der Kunst und der Literatur. Sie las ihm Geschichten aus der Zeitschrift „Die Gartenlaube – Illustrirtes Familienblatt“ vor. Noch heute könnte er die seitengroße Abbildung nachzeichnen, auf der kanadische Holzfäller abgebildet waren, so sehr hat sich die Illustration in sein Gedächtnis eingebrannt.
1933 zog die Familie nach Esslingen, damit Bert dort zur Schule gehen konnte. Seine Schulzeit war davon geprägt, dass der Nationalsozialismus die gesamte Lebenswelt vereinnahmte und auch nach den Seelen und den Herzen der Kinder griff. „In Stufen wurde eingeübt, was ein kleiner Junge nicht durchschaut“, sagt Bert. So erinnert er sich an einen Schultag nach Ostern des Jahres 1933. Herr Schäufele, den die Kinder im Chor am Morgen noch mit „Guten Morgen, Herr Lehrer“ begrüßt hatten, wies die Klasse nach der Pause in die neue Grußformel ein. Von den Kindern erwartete er künftig den kräftigen Ruf „Heil Hitler“. Das war die Zukunft, das stellte niemand in Frage. Herr Schäufele war schließlich eine Respektsperson, hochverehrt und bewundert.
Auch erinnert sich Bert an einen „nationalen Feiertag – irgendwann, es kann 1933, 34 oder 35 gewesen sein“, als sein Vater mit zwei Hakenkreuzfahnen aufwartete und diese aus den Fenstern ihrer Esslinger Wohnung hängte. „Noch waren es die einzigen Fahnen an unserem Haus, die einzigen Fahnen in der Straße, die einzigen Fahnen weit und breit“, sagt Bert. Er spürt noch das Staunen darüber, dass die Heinrichs so etwas Exklusives besaßen. Bleibenden Eindruck hinterließ auch ein Ausflug, den Bert mit seiner Mutter in die Innenstadt Esslingens unternahm. Plötzlich waren Trommeln und Fanfaren zu hören. Die Stimmung war feierlich, erhaben. Um die Ecke bog eine Gruppe von Jungen, im Gleichschritt und in uniformähnlicher Kleidung: kurze Hosen, Hemden, Schlips und Schulterriemen. Bert war begeistert, da wolle er auch mitmachen, drängte er seine Mutter. Mit zehn Jahren, so früh wie möglich, trat Bert als Pimpf dem Jungvolk, der nationalsozialistischen Jugendorganisation für 10- bis 14-Jährige unter dem Dach der Hitlerjugend bei, Fähnlein 1/365 „Alt-Eßlingen“. „Es war alles ganz wunderbar, ein echter Buben-Traum“, sagt Bert: die Gruppe, das gemeinsame Marschieren, die Nachmittage im geheimnisvollen Türmchen im Weinberg, Geländespiele, Übernachten in Zelten, Kochstellen im Freien, Mutproben und Zusammengehörigkeit. Bert war in seinem Element. Er ging als „Waldläufer“ auf, so sehr, dass er nie in die Hitlerjugend, die Jugendorganisation für die 14- bis 18- Jährigen eintrat. Er bevorzugte, eine Führungsposition, Jungenschaftsführer, im Jungvolk zu übernehmen. Bei einer Radtour an den Bodensee begann für den 15-Jährigen seine Freundschaft mit dem drei Jahre älteren Freund Walter Steck, mit dem er von nun an unzertrennlich sein würde. Er und die anderen Pimpfe seiner Gruppe lehnten die HJ ab, die man als „alt“ und „wenig begeistert“ erlebte. Die Jungen in Berts Fähnlein waren – so ihre Ansicht – leidenschaftlicher, trainierter und in praktischen Fertigkeiten versierter. Was Bert damals nicht wissen konnte: Die Fertigkeiten, die er sich bei all der Lagerfeuer-Romantik erwarb, würden ihm später in Krieg und Gefangenschaft nützlich sein. Er beherrschte es, sich nachts an den Sternen zu orientieren, sich trotz Kälte und anderer Widrigkeiten durchzuschlagen. Auch hier kam die schmerzliche Einsicht später, dass die begeisterten Kinder nicht nur weltanschaulich indoktriniert werden sollten. Man nutzte die jugendliche Gruppendynamik und den Sportsgeist dieser Generation aus, um sie fit und ausdauernder für den Krieg zu machen. „Flink wie ein Windhund, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl“, so wolle Hitler die Jugend haben, hatte er in einer Rede gesagt und so wurde es oft wiederholt.
In Berts Wahrnehmung spielte Politik zu seiner Zeit im Jungvolk aber kaum eine aktive Rolle. Der Nationalsozialismus war Lebensrealität, Lebensgefühl, er war selbstverständlich geworden. Er durchdrang alle Bereiche und präsentierte sich als allumfassende Antwort. Da fand zum Beispiel eine Veranstaltung in Esslingen auf dem Marktplatz statt, Bert besitzt noch das Foto. Die Pimpfe, darunter Bert, waren in einer langen Reihe aufmarschiert. Dann hieß es „kehrt“, die Jungen drehten sich um und auf Rücken und Brust eines jeden Jungen war ein Bogen Papier befestigt, mit einem Buchstaben darauf, so dass das Publikum lesen konnte: EIN VOLK EIN REICH EIN FÜHRER.
Plumpe, aggressive Agitation störte Bert, der sich bei all seiner Sportlichkeit als sensibel und zurückhaltend beschreibt. Da gab es den Studienrat Bosch, der weltanschaulichen Unterricht erteilte. Er las den Schülern – Bert war inzwischen in die Georgii-Oberschule übergetreten – aus dem antisemitischen Kinderbuch „Der Giftpilz“ vor. Sprache und Inhalt des Buches, das 1938 erschienen war, richtete sich auf übelste Weise gegen das Judentum und hatte nichts Geringeres vor, als die Judenverfolgung zu legitimieren. Das Buch fand Bert „eigenartig“, es war ihm unangenehm. Es bot keine Fakten. Er hatte den Eindruck, da wollte der Bosch ihm „irgendetwas unterjubeln“. „Ich habe das alles nicht gern gehört, davon wollte ich nicht berührt werden. Am unangenehmsten fand ich aber den Lehrer selbst: ein Angeber, ich mochte ihn nicht.“ Diese Schulstunde war so ganz anders als der Unterricht des hochverehrten Oberstudienrats Kautter. Es war ein Erlebnis, als dieser eines Tages zu Beginn des Geschichtsunterrichts aus Homers „Ilias“ in Altgriechisch vorlas. „Eine unvergessene Sternstunde“, an die sich Bert heute noch immer wieder erinnert.
Dem großspurigen Lehrer Bosch hatte Bert damals nicht widersprochen. Auch als er von den Verwüstungen in der Reichspogromnacht im Jahr 1938 in seinem Heimatort erfuhr, erzeugte das keinen Widerspruch in ihm. Eine Gruppe von Männern, Parteigenossen des Vaters, hatten das jüdische Waisenhaus oberhalb der Esslinger Burg geplündert und demoliert, das leicht abgelegen stand. Das Gebäude gibt es auch heute noch. Bert erinnert sich daran, dass sich seine Eltern über die Geschehnisse unterhielten, besonders darüber, dass Bücher verbrannt worden waren. Nicht nur jüdische Literatur, sondern auch Werke von Goethe und Schiller waren dem Feuer zum Opfer gefallen. Heute würde Bert gerne wissen, welche Rolle sein Vater selbst bei der Aktion gespielt hat. Die Eltern zeigten keine Abscheu, eher ein gewisses Bedauern, vor allem darüber, dass die Zerstörungswut auch die „Klassiker“ betraf. „Nach dem Motto: Muss das denn sein?“ Vage erinnert sich Bert auch daran, dass in der Esslinger Obertorstraße „etwas“ gewesen sei. Der Junge erfuhr, dass dort lebende Juden, die er nicht gekannt hatte, abgeholt und in ein Lager gebracht worden waren. Viele Jahrzehnte später kennt Bert die Namen. Aus der vagen Kolportage wurde das konkrete, traurige Schicksal von Menschen: Er fand heraus, dass Jette Löwenthal, Ilse Löwenthal und Rosa Oppenheimer aus ihrer Wohnung in der Obertorstraße 45 nach Riga beziehungsweise nach Theresienstadt deportiert wurden und dort ihr Leben verloren.
Damals sei niemand entsetzt gewesen, auch Bert nicht. Weder nach der Verwüstung des Waisenhauses noch nach der Erwähnung des Schicksals der Esslinger Mitbürger. Dieser Mangel an Entsetzen ist es, der Bert heute quält. Diesen Mangel versucht er sich zu erklären, es gelingt ihm nicht. Auch – und hier wird Bert nachdrücklich – soll der Versuch, es erklären zu wollen, nicht als Versuch missverstanden werden, irgendetwas relativieren oder gar rechtfertigen zu können. Die Frage, warum er nicht entsetzt gewesen ist, warum er nicht erkannt hat, wie fürchterlich die Geisteshaltung war, die sich gegen die jüdischen Mitbürger richtete, treibt ihn bis heute um. Er findet keine Antwort darauf. Als Kind hatte Bert Wortfetzen aufgeschnappt, die auch heute, nicht zuletzt befeuert durch die Coronakrise, zunehmend in Verschwörungstheorien auftauchen, wie: „Die da!“, „jüdischer Finanzkapitalismus“ und „geheimnisvolle, international agierende Familien“, „jüdische Machtzentren“. Wer diese Worte wann damals gesagt hat, weiß Bert nicht mehr. In seiner Familie, in der Schule, in den Zeitungen, in der ganzen Umgebung schien es ein Einverständnis über die Rolle der Juden gegeben zu haben. Das Schicksal dieser Menschen hatte ihn damals jedenfalls nicht betroffen und es hatte ihn auch nicht beschäftigt, es war „Erwachsenenangelegenheit“. Mit seinen Eltern sprach er nicht darüber. Sätze zu diesem Thema rauschten an ihm vorbei und erzeugten keinen Widerhall, weder im Denken noch im Fühlen. „War Schweigen das eine, so war das andere die Verbindung des Wortes ‚Jude‘ mit Heimlichkeit, mit Verheimlichtem, mit einer Ahnung von etwas, worüber man besser nicht spricht. Was man hätte wissen müssen, blieb unter dem Teppich“, schreibt Bert in seinen Aufzeichnungen.
Zu Beginn des Jahres 1943 wurde der 16-jährige Bert Flakhelfer. Im Januar 1943 war der Erlass ergangen, die Schüler der höheren Schulen aus den Jahrgängen 1926 und 1927 als Luftwaffenhelfer zum Kriegsdienst einzuziehen. Weil sie die Flugabwehr-Kanonen, kurz Flak, zu bedienen hatten, wurden sie Flakhelfer genannt. Soldaten, die bis dahin in der Luftabwehr Dienst hatten, wurden dringend für den Fronteinsatz gebraucht. Die jungen Flakhelfer hatten nun den Anordnungen sämtlicher Offiziere, Wehrmachtsbeamter und Unteroffiziere ihrer Dienststelle Folge zu leisten. Als Vorgesetzte galten aber weiterhin auch die Lehrer und HJ-Dienstgrade. Erste Einberufung war am 15. Februar 1943, der Tag, an dem auch Bert Flakhelfer wurde. Danach wurde er eingekleidet und vereidigt. Im rechtlichen Sinne waren die Jugendlichen, die nun die Soldaten ersetzen sollten und als Flakhelfer berufen wurden, nach wie vor Schüler. Unterricht fand weiterhin statt; nur zum Physik- und Chemieunterricht verließen die Schüler ihre Stellungen und fanden sich in der Schule ein. Ansonsten kamen die Lehrer zum Einsatzort. Dort wohnten die Jungen in Holzbaracken, meist zu sechst in „Stuben“, nahe bei den Geschützen, jederzeit einsatzbereit.
„Wenn wir am Tag feindliche Flugzeuge gesehen oder sie in der Nacht mit dem Radargerät geortet hatten, wurde geschossen, alle sechs Geschütze feuerten dann gleichzeitig“, so hatte es Bert niedergeschrieben, nachdem er vor einigen Jahren einem zehnjährigen Nachbars-Mädchen ausführlich über seine Kriegserlebnisse berichtet hatte. Auf die Frage, ob er denn jemanden getroffen hätte, antwortete Bert, dass man zwar geschossen, aber nicht gewusst habe, was die Granaten anrichteten, weil die Einschläge und Explosionen weit weg gewesen seien.
Bert erinnert sich an sein Weltbild in dieser Zeit. Man habe zu keinem Zeitpunkt in Zweifel gezogen, etwas Richtiges und Wichtiges zu tun. Er hatte den Eindruck, dass seine Freunde und Klassenkameraden ähnlich dachten. Mit ihnen war er ein ganzes Jahr fast ständig beisammen gewesen. Ihn irritierten Aussagen aus den Jahren nach dem Krieg, in denen sich manch einer nicht mehr an die damaligen Überzeugungen zu erinnern schien und nachträglich eine innere Distanz zu den Vorgängen zu konstruieren suchte. Eigentlich seien doch die meisten voll bei der Sache gewesen, sagt Bert. Allerdings erfuhr Bert nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft davon, dass zwei Freunde aus seiner Stube tatsächlich andere Überzeugungen hatten. Beide waren Söhne evangelischer Pfarrer. Im Haus des einen, Hans Schmidt, waren über Jahre zwei jüdische Familie versteckt und gerettet worden. Der andere, Wolfgang Wacker, war nach dem 20. Juli 1944 von Klasse...

Inhaltsverzeichnis

  1. Umschlag
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. „Betrifft: Ihr Buch über Stauffenberg“. Wie Geschichte in uns weiterlebt
  6. „Da ist der Tod meines Vaters wie ein Staubkorn der Geschichte“. Dorothea Johst
  7. „Die Geschehnisse wirken weiter. Es ist nie vorbei“. Niko
  8. „Meine Rucksäcke sind alle verbrannt, was zählt, habe ich hier“. Ursula Bräuning
  9. „Vergebung zu bekommen, ist schön und wertvoll. Nur glauben kann ich es nicht“. Bert Heinrich
  10. „Das war ein Schmerz, den er kaum verwinden konnte“. Elisabeth Weber-Belling
  11. „Wie sind wir belogen und betrogen worden!“. Hans Niederer
  12. „Das war das erste Mal, dass ich spürte, welche Auswirkungen Desinformation, Halbwahrheiten haben können“. Marco Heinzel
  13. „Es treibt mich um, dass ich ihn nicht mehr habe kennenlernen dürfen“. Monika Stephan
  14. „Etwas anderes als Sieg hat es für uns gar nicht gegeben“. Manfred Klose
  15. „Dinge passieren eben, da kann ich nichts machen“. Christoph von Bechtolsheim
  16. „Dass wir jüdische Familie gehabt haben, war ein Familiengeheimnis“. Sophie-Dorothee Fleisch
  17. Zum Schluss
  18. Abbildungsverzeichnis
  19. Über die Autorin