Heimweh nach Herrlichkeit
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Heimweh nach Herrlichkeit

Ein Trappist über die Fülle des Lebens

  1. 176 Seiten
  2. German
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Heimweh nach Herrlichkeit

Ein Trappist über die Fülle des Lebens

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Unsere Identität als Christen nährt sich aus der Erinnerung, ist sich Erik Varden, ehemaliger Trappisten-Abt in England und Bischof von Trondheim, sicher. An wichtigen Stellen schärfen die Bibel und die Liturgie der Kirche ein, sich zu erinnern: Gedenke, dass du Staub bist! Tut dies zu meinem Gedächtnis! In seinem Buch legt Varden diese biblischen Aufforderungen aus und zieht verblüffende und beeindruckende Verbindungslinien zu Texten und Erfahrungen moderner Dichter und Musiker. So werden etwa Mahlers Auferstehungssinfonie oder die berührende Geschichte einer französischen Resistance-Kämpferin zu einem Schlüssel zum Verständnis von Vergebung, Glaube, ewigem Leben. Erfahrungsgesättigt und in einer existenziellen Tiefe erinnert Erik Varden den Leser an sein "Heimweh nach Herrlichkeit", das das Leben aus der Fülle Gottes auslöst und stillt.

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Information

Jahr
2021
ISBN
9783451820205

Hüte dich davor, den Herrn zu vergessen

Für die Mönche der früheren Zeiten war die Grundlage allen christlichen Lebens die Praxis der memoria Dei, der Erinnerung an Gott, des Bekennens im Glauben, dass wir »in ihm leben, uns bewegen und sind« (Apg 17,28). Aber es bleibt die Tatsache: Oft leben wir so, als gäbe es Gott gar nicht. Wenn man eine Sichtweise auf unser Dasein bewahrt, die weit und hoch genug ist, mit ihm zu rechnen, bezeichnet man das bei den Griechen als askesis, als »athletische Einübung des Geistes«. Mose beschwor Israel: »Nimm dich in acht, dass du den Herrn nicht vergisst!« (Dtn 6,12). Diese Aufforderung, sich »in acht« zu nehmen, ist hilfreich. Sie verlagert das Erinnern an Gott vom Bereich des Denkens in den des Bewusstseins. Wenn die memoria Dei wirksam sein soll, muss sie unsere Achtsamkeit auf jeder Ebene durchdringen. Was bedeutet »achtsam sein«? Der englische Begriff awareness geht auf die altgermanische Wurzel war- zurück, deren Sinn vieldeutig ist. Wir begegnen ihr im 9. Jahrhundert (dem Jahrhundert Ludwigs des Frommen und der heiligen Kyrill und Methodius). Damals wurde das Verb waron in einem zweifachen Sinn verwendet und bedeutete je nachdem »wahrnehmen« oder »achten auf«.
Aus der Wortbedeutung der beiden Begriffe »beobachten« und »beschützen« entstand eine Art semantischer Zwillingsbedeutung, die unverändert ins Altsächsische und von dort ins Angelsächsische übernommen wurde. Sie steht immer noch auf zwei Beinen. Das moderne deutsche Verb wahren enthält den gesamten Sinn seines mittelalterlichen Vorgängers und hat zudem zum Begriff für sorgfältiges Aufpassen geführt: bewahren ist ein geläufiges Wort mit der Bedeutung von »beibehalten«. Diese Wurzel hat auch noch im Englischen ihre zweifache Bedeutung: »I am aware of how the weather turns by watching the formation of the clouds, ich achte darauf, wie das Wetter wird, indem ich die Wolkenbildung beobachte«, und: »I beware of the Doberman next door, ich hüte mich vor dem Doberman von nebenan«. Aber damit sind die Wortbedeutungen dieser Wurzel noch lange nicht erschöpft. Während man im Deutschen den letzteren Sinn (sich hüten vor, bewahren) pragmatisch entwickelte, konzentrierte man sich im Englischen auf den ersteren Sinn (observe, beobachten) und gab ihm einen intellektuellen Inhalt. Im modernen Englisch heißt to be aware nicht einfach nur etwas wahrnehmen, was um einen herum vorgeht, sondern auch die Fähigkeit, sympathetisches Interesse zu entfalten, das uns die Augen offen halten und vor allem anderen hinsehen lässt. To be aware heißt, die Träumerei aufzugeben und mich zu vergewissern, dass es in der Welt mehr gibt als bloß mich; zuzugeben, dass etwas oder jemand Anspruch auf meine Aufmerksamkeit hat.
Ein Augenblick des Erwachens zu solcher Achtsamkeit findet sich in einem Gedicht in Rainer Maria Rilkes Stundenbuch, das 1899 erschien, als der Dichter 23 Jahre alt war. Dieses Gedicht widmete er dem »jungen Bruder«, einer zentralen Gestalt. Er ist tugendhaft und idealistisch, wird aber durch den Ruf seiner Sinne zunehmend vom kontemplativen Leben abgelenkt. Alles um ihn herum hat begonnen, ihm schrecklich zwiespältig vorzukommen. Eindrücke, die ihm früher von höheren Dingen sprachen, kommen ihm jetzt allzu irdisch vor. Er entdeckt ein Erröten auf den Wangen einer marmornen Madonna. Was er da sieht, erfüllt ihn mit Begehren. Zudem erfüllt es ihn mit Scham, wenn sein Begehren nach Erleichterung sucht. Der Leib des Ordensbruders ist in Aufruhr, als ihm plötzlich etwas sehr Seltsames aufgeht: »… da gehen wie durch dunkle Gassen von Gott Gerüchte durch dein dunkles Blut.« Indem er nach innen schaut, wird er zum Aufblicken angeleitet. Dann äußert er das Bekenntnis:
Du mein tiefer Sinn, vertraue mir,
Dass ich dich nicht enttäusche;
In meinem Blute sind so viel Geräusche
Ich aber weiß, dass ich aus Sehnsucht bin.
Ein großer Ernst bricht über mich herein.
In seinem Schatten ist das Leben kühl.
Ich bin zum ersten Mal mit dir allein,
Du, mein Gefühl.
Du bist so mädchenhaft.
Es war ein Weib in meiner Nachbarschaft
Und winkte mir aus welkenden Gewändern.
Du aber sprichst mir von so fernen Ländern.
Und meine Kraft
Schaut nach den Hügelrändern.
Was für eine großartige Polyphonie! Die Quelle der fleischlichen Lust erweist sich – als das betrachtet, was sie ist – auf paradoxe Weise als jungfräulich. Derweil erscheint der fleischliche Gegenstand in seiner Vergänglichkeit traurig und verblasst. Damit sagt uns der Dichter, dass unsere intimsten Wünsche Botschaften von weither enthalten. Sie wecken in uns das Heimweh nach einem Land, das wir noch nicht entdeckt haben. Und dieses Heimweh, diese »Sehnsucht« fordert uns zu einer neuen Art von Achtsamkeit auf. Für Rilke ist die Spannung zwischen »hier« und »dort« keine Sache banaler Sublimation. Er bleibt bei der Intuition der Sinne, die zur Einsicht führen. Wenn ich sage, »dass ich aus Sehnsucht bin«, ist das kein unverantwortliches Klischee, sondern ein Verweis auf etwas Wesentliches und Wahres. Indem Rilke die Sehnsucht als Grundlage des Daseins bezeichnet, verweist er auf eine metaphysische Beziehung, die sich auf dem Boden einer streng theologischen Schlussfolgerung als tatsächlich bestehend erweisen lässt.
Die Kirchenväter machten sich über diese Sehnsucht viele Gedanken. Sie waren sowohl auf dem Weg der Analyse als auch der Erfahrung davon überzeugt, dass die Wahrnehmung Gottes unserem Wesen als Wirksystem eingepflanzt ist, das darauf wartet, in Gang gesetzt zu werden. Kein anderer hat das besser dargestellt als Athanasius von Alexandria (ca. 295–373), der in seinem Traktat Über die Fleischwerdung des Wortes eine ganz auf Sehnsucht aufgebaute Anthropologie entwickelt hat. Athanasius sagt, der Mensch sei auf Sehnsucht hin angelegt, denn er sei so gebaut, dass nichts in der Welt ihn zufriedenstellen könne. Nach dem Bild des Wortes Gottes erschaffen, finde er außerhalb einer ihn tragenden Beziehung zu dem Logos, der einzig ihm Befriedigung verschaffen könne, keine Erfüllung.
Diesen Traktat verfasste Athanasius vermutlich während seines ersten Exils in Trier von 335 bis 337. Er war im Jahr 328 Bischof von Alexandria geworden, drei Jahre nach seiner Teilnahme am Konzil von Nizäa, auf dem die gültige Lehre über die Gottheit Christi definiert worden war. Die Maßnahmen von Nizäa reichten nicht dazu aus, die zerstrittenen Meinungen zu überwinden. Deswegen erhitzte sich die dogmatische Diskussion, und während Athanasius vom Nildelta in die kaiserliche Hauptstadt an der Mosel reiste, war er immer noch in den Kampf gegen den arianischen Rationalismus verwickelt, der behauptete, Christus gehöre zumindest ein Stück weit der Ordnung der Geschöpfe an.
Bei der Diskussion über die Natur Christi ging es laut Athanasius um mehr als bloße Hypothesen über göttliche Wirklichkeiten, die auf jeden Fall über das menschliche Erkenntnisvermögen hinausgingen. Der entscheidende Punkt war die biblische Sicht unserer Bestimmung als Menschen, die berufen sind, »wie Gott« zu werden, und unserer Fähigkeit, ihn zu erkennen.
Im ersten Abschnitt des Traktats wird ein Grundsatz aufgestellt, der Folgendes unterstreicht: »Der gute Vater ordnet alles durch [das Wort] und bewegt das Universum, das sein Leben von ihm erhält.« Athanasius stellt den göttlichen Logos als den bei der Schöpfung aktiv handelnden Teil vor. Er stützt sich dabei auf den Johannesprolog, der seinerseits ein Echo der hellenistisch-jüdischen Exegese ist. Für diese Tradition ist der Logos, das Wort Gottes, die Weisheit, von der die Heilige Schrift sagt, sie spiele vor Gott und lasse ihn, den in seiner Ewigkeit Unvorstellbaren, den Menschen vorstellbar werden. Wenn Gott mit den Worten angesprochen wird: »Der du das All durch dein Wort geschaffen und durch deine Weisheit den Menschen gebildet hast« (Weish 9,1–2), so hätten die frühen Christen darin das Wort und die Weisheit gesehen, die laut dem Evangelium »Fleisch wurde und unter uns gewohnt hat«. Athanasius geht es darum, dass die Schöpfung von demselben Wort erneuert wird, das sie im Anfang aus Nichts geschaffen hat. Unsere Erlösung entspreche unserem Anfang, jedoch sei das zweite Eingreifen des Worts noch viel wunderbarer als das erste.
Warum hat Gott die Welt erschaffen? Das tat er, weil er sie wollte. Athanasius verachtet Erklärungen, die den Anfang von allem als Entstehen aus sich selbst heraus betrachten. Er betont, Gott sei nicht bloß ein Künstler, der mit präexistenter Materie herumspiele, sondern tatsächlich der Schöpfer von allem. In seiner Vorsehung habe er an alles gedacht, ehe er ans Werk ging. Dabei sei er nicht von einer Notwendigkeit angetrieben, sondern absolut frei und absolut gut gewesen, ja er sei »die Quelle alles Guten – und der Gute ist auf nichts neidisch. Weil er also nichts um seine Existenz beneidet, hat er mithilfe seines Wortes, unseres Herrn Jesus Christus, alles aus nichts gemacht.«
Den Menschen war von Anfang an ein bevorzugter Platz unter den Geschöpfen zugedacht. Sie sollten frei von aller metaphysischen Begrenztheit sein, die die gesamte restliche Schöpfung bedingt. Athanasius bezieht sich dabei auf ein Prinzip des Aristoteles, das im 4. Jahrhundert fast allgemein galt. Es besagte, die Existenz von etwas aus dem Nichts Geschaffenem sei notwendigerweise kontingent. Es könne folglich nicht ewig andauern, sondern werde in seinen Ursprung im Nichtsein zurückgezogen. Das heißt mit anderen Worten, nur was von Natur aus ewig sei, könne ewig leben. Da nun aber Gott den Menschen mit einem Abglanz seiner selbst versehen habe, wollte er dem Menschen auch Anteil an seiner Ewigkeit geben. Und folglich
hatte er mit dem Menschengeschlecht besonderes Mitleid. In Anbetracht dessen, dass es in seiner Existenz nicht in der Lage ist, für immer zu dauern, hat er ihm eine zusätzliche Gnade geschenkt. Er erschuf die Menschen nicht einfach so wie alle anderen nicht mit Vernunft begabten Lebewesen auf der Erde, sondern nach seinem Abbild, und zudem gab er ihnen auch noch Anteil an der Macht seines Logos. So sollten sie also sozusagen einen Schatten des Logos haben, logisch erschaffen sein und die Fähigkeit haben, glücklich zu bleiben und das wahre Leben zu führen, das Leben der Gesegneten im Paradies.
Ich habe hier den griechischen Begriff Logos nicht übersetzt, sondern stehen lassen, um das Wortspiel des Athanasius wiedergeben zu können, ohne es absurd erscheinen zu lassen. Wenn Athanasius die Menschen als »logisch« bezeichnet, meint er damit nicht ihre Fähigkeit zu analytischer Abstraktion, sondern etwas Konkreteres. Die Menschen sind »logisch«, λογικοί, weil sie Anteil an Gottes Logos haben. Sie tragen von Anfang an das Potenzial in sich, diese »logische« Komponente in sich zu verwirklichen und auf diese Weise vom menschlichen ins göttliche Leben erhoben zu werden. Das war Gottes Plan gewesen. Er hatte uns ewiges Leben schenken wollen und von sich aus das Versprechen gegeben. Es lautete folgendermaßen: Wenn die Menschen die ihnen verliehene Gnade bewahren und auf Gottes Willen hin ausgerichtet bleiben, wird ihnen ein freudiges Dasein im Paradies und dereinst das ewige Leben im Himmel zuteil. Daraus folgt, dass den Menschen eine Spannung auszeichnet. Die Menschen sind eingespannt zwischen dem, was sie von Natur aus sind ( κατὰ φύσιν ), und dem, was zu werden sie von Gottes Verheißung her ( κατ’ ἐπαγγελίαν ) berufen sind. Unsere Vergänglichkeit, die Tatsache, dass wir zu sterben bestimmt sind, gehört unter die erste Überschrift; sie wird von der zweiten überwunden. Als Gottes Ebenbild erschaffen – also Mensch – zu sein heißt, in der Tiefe seines Wesens eine Sehnsucht danach zu tragen, die Grenzen der menschlichen Natur zu übersteigen und Anteil am göttlichen Leben zu bekommen.
Wie wir gesehen haben, betont Athanasius, Gott sei frei. Zudem habe er der Menschennatur seine Freiheit eingeprägt. Freiheit gehöre unveräußerlich zu dem Bild, als das wir erschaffen sind. Gott habe um die Möglichkeit gewusst, dass wir dieses Geschenk missbrauchen könnten. Aus diesem Grund habe er zur Verheißung der Unsterblichkeit ein Gebot hinzugefügt, das uns in der Geschichte von der verbotenen Frucht gezeigt wird. Wenn wir uns für das Gute entschieden, hätten wir Zugang zu einem Leben, das mit dem Leben Gottes verwandt sei. Falls wir stattdessen das Böse wählten, lieferten wir uns der vergänglichen Natur aus und würden eine Beute des Todes. Dabei liege die Unsterblichkeit in Reichweite der intelligenten Wahlmöglichkeit des Menschen.
Der Mensch traf eine andere Wahl, mit katastrophalen Folgen. Sein Wunsch nach Selbstbestimmung war stärker als seine Sehnsucht nach Ewigkeit. Weil er seinen Blick von Gott abwandte, um den autonomen Neigungen seines Herzens zu folgen, fiel er dem Tod in die Hände. Er zog seine Natur seiner Berufung vor und wandte der Macht von Gottes Verheißung den Rücken. Daraufhin holte uns unverzüglich unsere natürliche, aristotelische Neigung zum Nichtsein ein. Wir wurden zu dem Staub zurückgeführt, aus dem wir geformt worden sind, gemäß der Warnung Gottes, wir würden sterben (vgl. Gen 3,3). Nach dem Sündenfall wurde die Menschheit einfach so gelassen, wie sie war, und hatte die ihr zugedachte Gnade verspielt. Sie befand sich in einer erstickenden Enge. Mann und Frau waren »auf Unsterblichkeit hin« erschaffen worden und hatten alles gehabt, um dieser Berufung folgen zu können, denn »Gott hat uns nicht nur aus nichts geschaffen, sondern uns auch dank der Gnade des Wortes gewährt, ›Gott gemäß‹ ( κατὰ Θεόν ) zu leben.«
Statt so zu leben, also in Harmonie mit der Quelle alles Guten, wurden die Menschen, angetrieben von einem perversen Widerstand gegen das göttliche Leben, zu Erfindern des Bösen. Nicht zufrieden, auf ihre Natur zurückverwiesen zu werden, sündigten sie gegen sie. Die Welt wurde aus einem Garten des Friedens und zärtlicher Begegnung zu einer Brutstätte der Selbstsucht, der Gewalt und des Krieges. Die hochgemute Sehnsucht des Menschen wurde von niedrigem irdischen Begehren verdorben. Der »logische« Abdruck der Gottebenbildlichkeit wurde verwischt.
Ein derartiger Zustand war mehr, als Gott ertragen konnte. Unser Fall, sagt Athanasius, rührte an seine einzige, gesegnete Schwäche: seine »Philanthropie«. Er sah sich gezwungen, die Auswirkung von Adams Sünde zu beheben, ohne seine eigene Gerechtigkeit zu kompromittieren. An dieser Stelle ist es angebracht, sorgfältig zu vermerken, was laut Athanasius auf dem Spiel stand. Seine Sichtweise mag uns ungewöhnlich erscheinen. Er sagt, Gottes Einschreiten durch die Inkarnation des Wortes sei nicht in erster Linie um der Sünde oder der Erlösung willen in der Grundbedeutung dieses Begriffs erfolgt: um gegen Bezahlung wieder in den Besitz eines Gegenstandes zu kommen. Was Gott im Sinn hatte, war nicht so sehr Erlösung, sondern Neuschöpfung. Das Problem, das nach einer Lösung schrie, war nicht die Sünde, sondern der Tod. »Hätte er sich nur um die Sünde kümmern müssen und nicht um ihre Folge, nämlich die Verderbnis, so hätte ihm seine [des Menschen] Reue wohl ausreichend genügt.«
Die Folgen der Sünde hätten mittels einer Entscheidung Gottes wieder behoben werden können, hätte der gefallene Mensch sich reuig gezeigt. Man hätte sozusagen die Rechnungen aufgrund der existierenden Ökonomie begleichen können, ohne dafür eine ganz neue Währung zu brauchen. Die Herausforderung, vor der Gott stand, war eine ganz andere, nämlich die Menschheit noch einmal von ihrer natürlichen Beschränkung zu befreien, und zwar jetzt unter neuen Umständen. Mit seiner Verwerfung des Angebots der Unsterblichkeit hatte der Mensch die Spannung kurzgeschlossen, für die er erschaffen war: die Spannung zwischen dem, was er war und was zu werden er berufen ist; die Spannung zwischen dem natürlichen Leben ( κατὰ φύσιν ) und dem von Gottes Verheißung bestimmten Leben ( κατ’ ἐπαγγελίαν ). Das für die Unsterblichkeit geschaffene göttliche Ebenbild war ruiniert. Es konnte nicht einfach wieder zusammengesetzt werden, sondern es bedurfte einer Neuschöpfung. Aus diesem Grund trat der Logos in die Geschichte ein. Gott ließ es nicht zu, dass unser Begehren (das in uns entsteht) das letzte Wort haben sollte, sondern er wollte unsere Sehnsucht rechtfertigen (deren Ursprung er ist).
Wenn man sagt, dass das Wort unter uns gewohnt hat, heißt das nicht, dass die Welt davor oder danach ohne das Wort gewesen sei. Im Gegenteil: »Kein Teil der Schöpfung bleibt seiner beraubt, sondern Christus, das Wort, erfüllt das Universum und ist eins mit seinem Vater.« Das schöpferische Wirken des Wortes ist nicht auf den Ursprung der Dinge beschränkt. Es bringt sich weiterhin zum Ausdruck, indem es alles erhält, was es geschaffen hat: »Das Universum wird von ihm bewegt und hat von ihm sein Leben.« Das Lächeln eines Kindes, die Bewegung der Sterne, das reglose Schweben eines Falken in der Luft: Nichts von alledem könnte sich ereignen, würde es nicht von der Kraft des göttlichen Worts getragen. Alles, was ist, hat sein Sein durch einen Willensakt des Logos empfangen. Bei der Inkarnation äußerte sich diese »logische« Kraft in persönlicher Gegenwart, um eine Sendung zu erfüllen, die Athanasius unter drei Überschriften vorstellt: Das Wort wurde Fleisch, um »neu zu erschaffen, zu leiden und für uns Fürsprache einzulegen«. Auf diese Weise entfaltete es nicht nur einen Prototyp, der vorstellen sollte, was wir dereinst werden sollten, sondern es bot sich dem Vater dar, »um das Gesetz der Verderbnis abzuschaffen«. Dank der Gnade der Auferstehung »befreite Christus die Menschheit vor dem Tod, wie Feuer das Stroh aufzehrt«. Er ging um unseretwillen in den Tod und vernichtete ihn kraft seiner Gottheit von innen heraus. Am Ostermorgen wurde die unterbrochene Kontinuität zwischen Natur und Verheißung wiederhergestellt. Die Menschen konnten wiederum die Augen erheben und über das Grab hinausblicken. Es ist vielsagend, dass Athanasius Christi Sieg als »die Auferstehung des Lebens« bezeichnet.
Bis jetzt haben wir uns auf das konzentriert, was man als die ontologische Auswirkung der Inkarnation bezeichnen könnte: ihr Einwirken auf unser Wesen, dank dessen die Spezies Homo sapiens im Anschluss an die Inkarnation Christi nicht mehr das ist, was sie »vor Christus« war. Athanasius hebt sodann eine weitere Wirkung der Menschwerdung Gottes hervor. Wir könnten sie als existenziell bezeichnen, denn sie betrifft unsere Wahrnehmung.
Indem er uns nach seinem Bild geschaffen hat, befähigte uns...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Testimonial von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz
  6. Vorwort von Erling Kagge Der eigentliche Motor des Lebens ist Staunen
  7. Zur Einführung
  8. Gedenke, dass du Staub bist
  9. Gedenke, dass du Sklave in Ägypten warst
  10. Denkt an Lots Frau
  11. Tut dies zu meinem Gedächtnis
  12. Der Beistand wird an alles erinnern
  13. Hüte dich davor, den Herrn zu vergessen
  14. Nachwort: In memoriam
  15. Anmerkungen zum Text und zu den Quellen
  16. Bildnachweise
  17. Über den Autor