Interaktive Problemlösung1
Ein sozialpsychologischer Ansatz zur Lösung von Konflikten am Beispiel Nahost
Von Herbert C. Kelman
1Ein persönliches Vorwort
Meine Familie war jüdischer Herkunft, und meine Eltern waren um die Zeit des Ersten Weltkrieges von Osteuropa nach Wien gekommen. Zur Zeit des Anschlusses Österreichs an Nazi-Deutschland im Jahre 1938 war ich elf Jahre alt. Von da an erlebte ich ein Jahr lang die Herrschaft der Nationalsozialisten. Im Sommer 1938 wurden wir aus jener Gemeindebauwohnung zwangsausgesiedelt, die mein Vater zuvor als österreichischer Kriegsveteran zugeteilt bekommen hatte. Zusammen mit anderen Familien mussten wir in die Leopoldstadt, den zweiten Wiener Gemeindebezirk, ziehen, wo viele Juden lebten, die meisten von ihnen ebenfalls osteuropäischer Herkunft. Es ist dies die Wiener Umgebung, in der auch Friedrich GLASL aufgewachsen ist. Von hier aus konnte ich den Pogrom an der jüdischen Bevölkerung, der in der berüchtigten Kristallnacht von November 1938 stattfand, mit all seinen Grausamkeiten beobachten: die Sprengung der Synagoge in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, die Zwangsschließungen jüdischer Geschäfte, die Zerstörung jüdischen Eigentums, die Misshandlungen und willkürlichen Festnahmen jüdischer Mitbürger, die dann in Konzentrationslager verschleppt wurden.
Nach der Kristallnacht war uns klar, dass wir das Land verlassen mussten. Das Geschäft meines Vaters war geschlossen worden, wir standen ohne Einkommen da. Die ganze Familie war dem Risiko willkürlicher Gewalt ausgesetzt. Meine Schwester und ich waren auf dem Schulweg zu unserer jüdischen Schule nicht mehr sicher, mein Vater stand kurz davor, ins Konzentrationslager verschickt zu werden. Im Frühjahr 1939 gelang uns die Flucht nach Belgien. In Antwerpen lebten wir ein Jahr als Flüchtlinge mit der Unterstützung der jüdischen Gemeinde, bis wir im März 1940 endlich die US-Visa erhielten, um die wir bereits zwei Jahre zuvor angesucht hatten. Wir gingen nach New York – nur wenige Wochen nach unserer Abreise marschierten die Nazis auch in Belgien ein.
Kurz nach dem Anschluss hatte ich begonnen, mich in Wien in der zionistischen Bewegung zu engagieren. Dieses Engagement setzte sich auch während unserer Zeit in Antwerpen und in den ersten Jahren in New York fort. Ich beschäftigte mich intensiv mit jüdischer Kultur und Geschichte wie auch mit dem Studium der hebräischen Sprache und Literatur. Bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr sah ich es als selbstverständlich an, später einen Beruf innerhalb der jüdischen Gemeinschaft auszuüben, als Rabbi, Lehrer, Journalist, Gemeindearbeiter oder eine Mischung aus all dem.
Es kam doch anders. Im Jahre 1947 schrieb ich mich an der Universität Yale im Fach Sozialpsychologie ein. Inzwischen war ich Aktivist der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung geworden, die in den unmittelbaren Nachkriegsjahren in den USA entstanden war. Die Sozialpsychologie erschien mir geeignet, auf die mir so wichtigen Fragen der sozialen Gerechtigkeit, des Friedens und des Gesellschaftswandels die adäquaten Antworten zu liefern. Darüber hinaus war für mich die Kombination aus gesellschaftlichem Aktivismus und akademischer Gelehrsamkeit damals von besonderem Reiz – und ist es bis heute.
Mein soziales Engagement blieb auch über meine Promotion im Jahre 1951 hinaus bestehen. Ich beteiligte mich am Congress of Racial Equality (CORE), der Pionierarbeit im Einsatz gewaltfreier Methoden im Kampf gegen Rassentrennung leistete, und war Mitbegründer eines CORE-Zweigs in Baltimore sowie einer von dessen gewählten nationalen Vertreter. Während des Korea-Krieges entging ich wegen Kriegsdienstverweigerung nur knapp einer Verhaftung, und als überzeugter Vietnam-Kriegsgegner war ich einer der Organisatoren des weltweit wohl ersten Teach-in an der Universität von Michigan. Außerdem verweigerte ich die Zahlung der Telefonsteuer, die als Kriegssteuer vorgesehen war.
Trotz meiner gründlichen akademischen Sozialisierung blieb ich durch mein gesellschaftliches Engagement und meinen Aktivismus stets jenen Anliegen treu, die mich ursprünglich zur Sozialpsychologie geführt hatten. So beteiligte ich mich auch an den ersten Institutsgründungen der Friedensforschung der fünfziger Jahre. Ich war Mitinitiator des Research Exchange on the Prevention of War, der meines Wissens ersten Einrichtung, die sich für die Verbreitung der Friedensforschung einsetzte, und begründete mit Kollegen die erste einschlägige Fachzeitschrift, das Journal of Conflict Resolution, das heute bereits im einundfünfzigsten Jahr erscheint.
Ein Großteil meiner publizierten Arbeiten der fünfziger und sechziger Jahre beschäftigte sich mit der Frage, wie sozialpsychologische Begriffe und Methoden zu einer umfassenden Theorie internationaler Beziehungen beitragen können, bzw. wie sozialpsychologische Analyse in diesem Feld ansetzen kann. Ein Ergebnis dieser Bemühungen war die Herausgabe des interdisziplinären Bandes International Behavior: A Social-Psychological Analysis (KELMAN 1965). Einige meiner Forschungsarbeiten dieser Jahre beschäftigten sich mit zwischenstaatlichem Bildungs- und Kulturaustausch, mit Nationalismus und nationaler Identität sowie politischer Partizipation. In den frühen siebziger Jahren leitete ich mit V. Lee HAMILTON eine nationale Umfrage in den USA, die die öffentlichen Reaktionen auf das My-Lai-Massaker in Vietnam und die darauffolgende Verurteilung von Lt. William Calley untersuchte. Diese Studie sowie die daraus folgenden Arbeiten wurden später in dem Band Crimes of Obedience: Toward a Social Psychology of Authority and Responsibility (KELMAN, HAMILTON 1989) veröffentlicht.
All diese Forschungen waren wichtig für die Arbeit, die hier vorgestellt werden soll. Am meisten dazu inspiriert hat mich jedoch mein erstes Treffen mit John BURTON im Sommer 1966. BURTON war hoher Diplomat im australischen Außenministerium gewesen, bevor er die Universitätslaufbahn einschlug. Er lehrte Internationale Beziehungen am University College in London, wo er auch das Centre for Analysis of Conflict gründete. In der Zeit unseres ersten Treffens forschte er gerade zu Formen inoffizieller Diplomatie, für die er anfänglich den Begriff der kontrollierten Kommunikation (BURTON 1969) einführte.
BURTONS Methode bestand darin, hochrangige Vertreter von Konfliktparteien außerhalb ihrer offiziellen Funktionen zu einer privaten akademischen Diskussion zusammenzubringen und unter Leitung einer Drittpartei, bestehend aus Sozialwissenschaftlern, den Konflikt gemeinsam zu analysieren.
Sofort war ich begeistert von der Methode – sah ich doch darin die Gelegenheit, all meine bisherigen theoretischen Überlegungen zur sozialpsychologischen Dimension internationaler Beziehungen praktisch umsetzen zu können. Als BURTON mich im November 1966 dazu einlud, als Angehöriger der Drittpartei zu einem Workshop über den Zypern-Konflikt zu kommen, sagte ich sofort zu.
Einige Monate später, unter dem Eindruck des Sechstagekriegs vom Juni 1967, dachte ich erstmals daran, BURTONS Methode auf den Nahost-Konflikt anzuwenden. Zusammen mit BURTON prüfte ich die Möglichkeiten, musste mein Vorhaben aber wegen nicht ausreichender Kontakte wieder fallen lassen.
Meine Gedanken waren weiterhin bei BURTONS Methode. Ich diskutierte darüber, hielt mich über den Zypern-Konflikt auf dem Laufenden und sondierte die Idee eines Workshops zum Nahost-Konflikt mit Kollegen aus der Region. In dieser Zeit erschien auch mein erster Artikel zum Thema (KELMAN 1972). Als mein junger Kollege Stephen COHEN, mit dem ich im Jahre 1971 in Harvard ein Seminar über sozialpsychologische Methoden in internationalen Beziehungen hielt, das Manuskript dieses Artikels zu lesen bekam, schlug er einen Pilot-Workshop im Rahmen des Seminars vor. Dabei sollten die Studenten übungshalber als Drittparteien-Angehörige fungieren (siehe COHEN et al. 1977). Dieser Workshop sollte der erste einer langen Reihe von Nahost-Workshops werden, die ich über die Jahre geleitet habe.
Der Jom-Kippur-Krieg im Oktober 1973 schließlich brachte das Thema Konfliktlösung im Nahen Osten endgültig auf den obersten Platz meiner persönlichen Arbeitsagenda – und hier steht es, mit geringen Abstrichen, bis heute.
2Interaktive Problemlösung
Ausgehend von der Pionierarbeit John BURTONS (1969, 1979, 1984) und von meinen vorangehend beschriebenen Aktivitäten in den frühen siebziger Jahren, habe ich mit meinen Kollegen das entwickelt und angewandt, was ich schließlich als interaktive Problemlösung (KELMAN 1986, 1998a, 2002) bezeichnet habe. Damit ist ein nicht offizieller, akademischer, auf Drittparteien basierender Ansatz zur Lösung internationaler und zwischengemeinschaftlicher Konflikte gemeint, der sich auf sozialpsychologischen Prinzipien gründet. Der Ansatz der interaktiven Problemlösung wird vor allem in entsprechenden Workshops angewandt. Meine Studenten und Mitarbeiter haben ihn in verschiedenen Varianten in vielen anhaltenden Konflikten zwischen Identitätsgruppen auf der ganzen Welt eingesetzt. Meine größten, wenn auch nicht ausschließlichen Bemühungen in dieser Richtung galten dem Nahost-Konflikt (KELMAN 1979, 1995, 1997, 1998b, 2005a).
Der interaktive Problemlösungsansatz geht von einer Reihe sozialpsychologischer Annahmen über den Charakter internationaler Konflikte und deren Lösung aus. Diese Annahmen drücken sich in Struktur, Prozess und Inhalt eines interaktiven Problemlösungs-Workshops aus. Der augenscheinlich sozialpsychologische Charakter des Ansatzes besteht in dem erklärten Ziel, Veränderung in Individuen durch Face-to-face-Interaktion in kleinen Gruppen zu erzielen, um diese anschließend auf breitere soziale Zusammenhänge übertragen zu können, nämlich auf die jeweilige nationale Politik und die politische Kultur, die die Konfliktkonstellation aufrechterhalten. Mit anderen Worten: Der Mikroprozess der Konfliktlösung, der sich in interaktiven Problemlösungs-Workshops vollzieht, soll Veränderungen im Makroprozess hervorrufen, inklusive der offiziellen Friedensverhandlungen und des Friedensprozesses als Ganzen.
Der Mikroprozess steht dabei in zweierlei Hinsicht in Beziehung zum Makroprozess. Erstens gibt er Inputs in den Makroprozess, wobei die Herausforderung dabei darin besteht, die passenden Anknüpfungspunkte für diese Inputs auszumachen. Damit sind jene Punkte im Makroprozess gemeint, an denen Beiträge aus interaktiven Problemlösungs-Workshops und aus sozialpsychologisch basierten Analysen besonders hilfreich sind. Zweitens kann der Mikroprozess als eine Metapher dafür dienen, was auf der Makroebene passieren muss, um den Konflikt zu lösen. Ich möchte im Folgenden kurz über interaktive Problemlösung als eine Metapher für den Makroprozess sprechen, bevor ich zum eigentlichen Thema des Aufsatzes komme, nämlich zu einer Beschreibung des Mikroprozesses bei interaktiven Problemlösungs-Workshops und dessen mögliche Auswirkungen au...