Kapitel 1
JUNI 1919
Jetzt gab es kein Zurück mehr!
Der schrille Pfiff der Lokomotive läutete die Abfahrt ein. Nun brachen sie auf zum Zielbahnhof Toronto. Nervös klammerte sich Emma an die hölzernen Armlehnen, bis ihr die Finger wehtaten. Doch das half wenig bis gar nicht, um die innere Anspannung loszuwerden. Vielleicht lag es nur an dem Stress und der Erschöpfung der letzten Tage, doch auf der letzten Etappe dieser langen Reise nagte der Zweifel an ihr.
War es vielleicht der schlimmste Fehler ihres Lebens gewesen, alles, was sie je besessen hatte, verkauft zu haben und mit dem Erlös um die halbe Welt gereist zu sein? Zum ersten Mal, seit sie England verlassen hatte, fühlte Emma sich unwohl mit dieser Entscheidung.
Eine Rauchwolke zog an den Passagierfenstern vorüber und verbarg für einen kurzen Augenblick die Sicht auf einen glänzend blauen See inmitten der vorbeiziehenden Landschaft – nicht ganz so idyllisch wie in Wheatley, aber dennoch viel schöner, als Emma es sich vorgestellt hatte. Mit einer Hand fuhr sie sich vorsichtig über den Magen, der teils aus Vorfreude, teils aus Angst rumorte. Sie wusste überhaupt nicht, was sie in Toronto erwartete. Ob sie sich womöglich zu viel von dieser Reise erhoffte?
Außerdem machte ihr das ungute Gefühl zu schaffen, diese impulsive Entscheidung ganz allein getroffen zu haben, ganz ohne Gottes Rat. Was, wenn Jonathan nun recht hatte? Vielleicht wäre es besser gewesen, ihren Vater vorzuwarnen, statt einfach bei ihm vor der Tür aufzutauchen? Was, wenn er vielleicht gar nichts mit ihr zu tun haben wollte?
Emma holte tief Luft und ließ sich in ihren Sitz zurückfallen. Diese lästigen Sorgen brachten sie nicht weiter. Nur die Zeit würde zeigen, ob es sich gelohnt hatte, alles für diese Reise zurückzulassen.
Im Sitz neben ihr schlief Jonathan mit dem Kopf an die Fensterscheibe gelehnt. Er sah immer noch blass aus – seine natürliche Farbe hatte er seit der Überfahrt auf dem Schiff noch nicht zurückgewonnen. Aber wer hätte denn ahnen können, dass er solch einen miserablen Seefahrer abgab? Wenngleich der Arzt bestätigt hatte, ihm würde sonst nichts fehlen, hatte der sechstägige Aufenthalt in Halifax nur wenig geholfen, seinen Gleichgewichtssinn zu beruhigen. Und das starke Rütteln des Zuges in den letzten zwei Tagen hatte die Situation nur noch erschwert. Aufgrund der andauernden Übelkeit hatte Jonathan kaum mehr als ein paar Salzkräcker und ein wenig Tee zu sich genommen – die meiste Zeit über schlief er.
Dann öffnete sich an einem Ende des Wagens eine Tür und ein Mann in Schaffneruniform kam herein. Wie bei jedem bisherigen Halt ließ er sich die Fahrkarten aller Passagiere zeigen.
Einige Reihen vor Emma und Jonathan entwischte ein kleines Mädchen seiner Mutter und huschte durch den Gang. Trotz der ruckartigen Bewegungen des Zugs schaffte sie es, ans andere Ende bis zu Emma zu laufen. Auf ihrem Gesicht lag ein triumphierendes Grinsen. Neben Emma machte sie Halt, schaute sie mit großen Augen an und sagte: „Hallo. Ich bin Sarah. Du hast einen schönen Hut an.“
Noch bevor Emma in irgendeiner Weise darauf reagieren konnte, kam ein Mann mit Bart auf sie zu. „Sarah, bleib bitte unbedingt dort, wo deine Mutter und ich dich sehen können“, mahnte er das Mädchen. Doch sogleich nahm er sie auf den Arm und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Nun komm. Du darfst dem Schaffner unsere Fahrkarten zeigen.“ Lächelnd schlang Sarah die Arme um seinen Hals.
„Kann ich dann etwas Süßes haben, Papa?“, fragte die Kleine.
Der Mann lachte und schaute das Kind mit einem so liebevollen Blick an, dass Emma beinahe die Luft wegblieb. „Wenn du versprichst, dass du auf deinem Platz sitzen bleibst, bekommst du ein Pfefferminzbonbon.“
Emma beobachtete die beiden, bis sie aus ihrer Sichtweite verschwanden. Doch das Bild der kleinen Tochter in den Armen ihres Vaters brannte sich in ihr Herz und ließ neue Hoffnung in ihr keimen. Genau dieser Blick war es, für den sie die viertausend Meilen auf sich nahm.
Als der Schaffner bei ihr ankam, gab sie ihm die Fahrkarten. „Wie lange ist es noch bis Toronto, Sir?“
Bei dieser Bemerkung machte sich ein Lächeln auf seinen Lippen breit. Wenngleich er nur ein klein wenig älter aussah als Jonathan, verlieh die Uniform ihm einen Hauch von Autorität. „Noch etwa drei Stunden, Miss.“
„Danke“, erwiderte Emma und biss sich leicht auf die Unterlippe. Nur noch drei Stunden – dann würde sie in der Stadt ankommen, in der Randall Moore die letzten zweiundzwanzig Jahre gelebt hatte. Zweiundzwanzig Jahre, in denen Emma ihn tot geglaubt hatte. War es verrückt, solch eine weite Strecke auf sich zu nehmen und nach ihm zu suchen, ohne vorher Kontakt zu ihm aufgenommen zu haben?
Zumindest Jonathan hielt es für verrückt. Mehrmals hatte er versucht, die Reise aufzuschieben, bis Emma mit Randall Kontakt aufgenommen hatte. Doch die Angst, dass ihr Vater sie womöglich zurückwies, bevor sie ihn je gesehen hatte, trieb sie zu diesem radikalen Entschluss. Einen Brief konnte man leicht ignorieren, doch sie wegzuschicken, wenn sie persönlich vor ihm stünde, war viel schwieriger.
„Ist alles in Ordnung, Miss?“, erkundigte sich der Schaffner mit einem besorgten Runzeln auf der Stirn. „Ihnen ist hoffentlich nicht übel“, ergänzte er und warf einen Blick auf Emmas Sitznachbarn.
„Mir geht es gut, danke. Ich bin nur ein wenig nervös“, erwiderte Emma mit einem Lächeln.
„Sie können wohl mehr ab als Ihr Mann.“ Der Schaffner grinste, während er ihre Fahrkarten stempelte.
„Oh, er ist nicht mein Mann“, korrigierte Emma ihn schnell. „Nur ein guter Freund, der mich dankbarerweise auf dieser Reise begleitet.“
Dieser Kommentar machte den Schaffner neugierig. „Sind Sie zum ersten Mal in Kanada?“
„Ja“, antwortete Emma und legte die Hände in den Schoß. „Ich bin hier, um … Verwandte zu besuchen, die ich noch nie zuvor gesehen habe.“
Der Zug ruckelte, als er um eine Kurve fuhr, und der Schaffner hielt sich am Sitz fest. „Mit Sicherheit sind Ihre Verwandten genauso gespannt wie Sie. Ich zumindest wäre es, wenn ich einen so liebevollen Gast erwarten würde“, erwiderte er lächelnd. „So gern ich mich auch weiter mit Ihnen unterhalten würde, ich fürchte, ich muss wieder an die Arbeit. Einen schönen Aufenthalt in Toronto, Miss“, verabschiedete er sich, und kaum dass er die Worte ausgesprochen hatte, tippte er sich an die Schaffnermütze und zog weiter.
„Noch nicht richtig angekommen und schon verdrehst du allen Männern hier den Kopf“, bemerkte Jonathan ironisch, die Augen noch immer geschlossen.
Emma errötete. „Ach, so ein Humbug. Er war doch nur nett. Genau wie alle Kanadier, die wir bisher getroffen haben.“
Jonathan öffnete ein Auge und warf ihr einen ungläubigen Blick zu. „Ich bezweifle stark, dass sie so nett wären, wenn ich allein reisen würde.“
„Schlaf lieber weiter, du Miesepeter. Noch drei Stunden, dann bist du von dieser Tortur befreit.“
Jonathan setzte sich aufrechter, um die Landschaft vor dem Fenster zu sehen. „So schlimm ist es nicht mehr. Viel besser als auf dem Schiff zumindest“, sagte er und drehte sich zu Emma. „Wenn wir angekommen sind, sollten wir als Erstes nach einer Unterkunft suchen.“
Sie nickte. Und mit einem Mal flogen ihre Gedanken zurück zu ihrem sicheren Zuhause über dem Uhrenladen ihres Großvaters. Heimweh überkam sie. Was, wenn alle Stricke rissen? Nun gab es kein gemütliches Heim mehr, in das sie zurückkehren konnte. Und keinen Verlobten mehr, der auf sie wartete. Das hatte sie mit ihrem letzten Brief an Lord Terrence klargestellt.
„Sollten wir es vielleicht bei der Pension versuchen, von der Grace uns erzählt hat?“, fragte Jonathan und holte Emma damit aus ihren Gedanken zurück. „Vermutlich ist das angemessener als ein Hotel.“
„Es wäre auf jeden Fall ein Anfang“, erwiderte sie. Auch wenn sie aus Ungeduld am liebsten sofort damit beginnen würde, ihren Vater ausfindig zu machen, mussten sie pragmatisch vorgehen.
„Und wenn keine Zimmer mehr frei sein sollten, kann man uns dort vielleicht etwas anderes empfehlen“, schob Jonathan nach. Nachdem er den Kopf den ganzen Morgen über an die Fensterscheibe gelehnt hatte, stand sein braunes Haar nun in alle Richtungen und auf seinem Kinn zeichnete sich ein leichter Schatten ab. Wie ungewöhnlich für den jungen Mann, der sonst viel Wert auf ein gepflegtes Äußeres legte.
„Doch davor solltest du dich besser frisch machen gehen – sonst verschreckst du die Inhaberin noch. Im Moment siehst du aus wie ein Obdachloser“, scherzte Emma und zeigte dabei auf seine eigensinnigen Bartstoppeln.
Mit einem finsteren Blick schaute Jonathan sie an, während er sich über das Kinn fuhr. „Versuch du doch mal, dich in einem Raum zu rasieren, der kleiner ist als ein Abort. Und dann auch noch bei diesem ständigen Geruckel. Dabei würde ich mir wahrscheinlich die Kehle aufschneiden.“
Emma lachte. „Bestimmt gibt es am Bahnhof einen öffentlichen Waschraum. Soviel wie ich gehört habe, ist es ein sehr stattliches Gebäude.“
„Das ist es in der Tat“, erwiderte ein Mann gegenüber, während er die Zeitung sinken ließ. „Frisch renoviert und überhaupt. Auch zum Schuheputzen sehr zu empfehlen“, sagte er in Jonathans Richtung.
„Das klingt, als würden Sie den Ort gut kennen.“
„Aus beruflichen Gründen bin ich sehr viel unterwegs, wissen Sie. Ich habe dort schon sehr viele Stunden auf Züge gewartet“, erklärte er und lächelte. „Mein Name ist Stan Olsen. Geboren und groß geworden in Toronto. Wenn ich Ihnen irgendwie weiterhelfen kann, sagen Sie gern Bescheid.“
Nur mit Mühe konnte Emma sich zurückhalten, den armen Mann direkt mit Fragen zu löchern. In einer Stadt von der Größe Torontos war es ohnehin äußerst unwahrscheinlich, dass er ihren Vater kannte.
Kurz warf Jonathan Emma einen fragenden Blick zu und lehnte sich dann vor. „Nun, tatsächlich hätten wir eine Frage“, begann er. „Wir sind auf der Suche nach jemandem. Aber Sie kennen nicht ganz zufällig einen Mann namens Randall Moore?“
Mr Olsen zog seine Augenbrauen hoch. „Nun, nicht persönlich, aber nahezu jeder in Toronto weiß, wer er ist“, sagte er, blätterte die Zeitung auf die erste Seite zurück und hielt sie ihnen hin. „Gerade eben habe ich wieder etwas über ihn gelesen. Schauen Sie, unten rechts.“
Emmas Puls schlug schneller. „Doch nicht bei den Todesanzeigen, hoffe ich?“
„Nein, nein. Er lebt und tritt ganz ordentlich“, erwiderte Mr Olsen amüsiert.
„Ich traue mich fast nicht zu fragen, was das zu bedeuten hat“, sagte Emma. Dann nahm Jonathan die Zeitung entgegen und hielt sie so, dass beide darin lesen konnten.
Die Überschrift lautete: Bürgermeisterkandidat Randall Moore startet seine Wahlkampagne.
Nach einem kurzen Blickaustausch mit Jonathan beugte sich Emma tiefer über die Zeitung und las den kurzen Artikel.
Trotz der Niederlage bei der letzten Bürgermeisterwahl hat Professor Randall Moore den Wahlkampf mit einem lauten Knall wieder aufgenommen. Die knappen Ergebnisse im Januar haben gezeigt, dass Moore beliebter ist denn je. „Tommy Church kann nicht immer gewinnen“, erklärt Moore. „Und ich plane, derjenige zu sein, der ihn aus dem Amt hebt.“
Diese kühne Ansage des Universitätsprofessors von Toronto ist eine klare Herausforderung an den amtierenden Bürgermeister. Und wenn Moores öffentlicher Rückhalt weiter zunimmt, könnte er Mr Church bei der nächsten Wahl tatsächlich um sein Amt bringen.
Nun saß Emma mit vor Erstaunen geöffnetem Mund da. „Randall Moore möchte Bürgermeister werden? Ist das nicht eine wahre Mammutaufgabe?“
Mr Olsen nickte. „In solch einen Wahlkampf muss sehr viel Zeit und Geld gesteckt werden – besonders wenn es darum geht, gegen den amtierenden Bürgermeister anzutreten, der bereits dreimal hintereinander wiedergewählt wurde“, erklärte er. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust...