Willem Strank
Sex, Drugs & Miscellaneous Styles
Musik in THE WOLF OF WALL STREET
I Exposition
THE WOLF OF WALL STREET (USA 2013) beginnt in medias res – ohne Filmtitel, ohne Vorspann. Stattdessen übernimmt sogleich Jordan Belfort (Leonardo DiCaprio ) das Wort und führt in einer ersten von zahllosen Montagesequenzen in die Handlung ein. Diese Handlung, so wird es schon in der Exposition deutlich, ist eine jener epischen Scorsese-Erzählungen vom Aufstieg und Fall eines Kriminellen, wie sie der Regisseur bereits in RAGING BULL (USA 1980), GOODFELLAS (USA 1990) und CASINO (USA 1995) inszenierte – nur stärker denn je vermittelt durch ihre Hauptfigur, die von Anfang an mittels eines Voice-Overs eine Deutungshoheit über die gezeigten Bilder beansprucht und sogar so weit geht, auch die Gedankenwelten fremder Figuren zu kommentieren.1
Der Film löst dies auch formal ein, indem nach den Produktionslogos von Universal und Red Granite statt eines Vorspanns eine fiktive Werbung für Belforts Firma Stratton Oakmont zu sehen ist und er somit selbst den (fingierten) Paratext seinem auktorialen Erzähler übergibt. Der Materialunterschied zum übrigen Film suggeriert Authentizität, im Bild ist allerdings eindeutig das Filmset zu sehen – bestückt mit angepassten Wall-Street-Arbeitern, die, wie in Kürze ein Umschnitt offenbaren wird, mit der fiktiven Realität von Belforts Firma nicht weniger gemeinsam haben könnten. Die Musik dazu stammt aus der Feder des Studiokomponisten Theodore Shapiro, der auch für zwei weitere Inzidenzmusiken im Laufe der Exposition verantwortlich ist: Infomercial und Exotic Vacations . Bereits hier wird die Musik als vermittelnde Ebene zwischen Belforts subjektivierendem und tendenziösem Voice-Over und den möglicherweise nur partiell seine Perspektive wiedergebenden Bildern des Films etabliert und integriert, und zu diesem Zeitpunkt gehorcht sie – wie auch die übrige Tonebene – Belfort. Und schon in diesen ersten 20 Sekunden führt der Film seine grundsätzlichen Prinzipien vor: Der Werbefilm zerfällt in zwei Teile. Nach der Einblendung des Stratton-Oakmont-Logos (0:00:42), die ihn den vorangegangenen Produktionslogos annähert, folgt eine zehnsekündige Reihe unruhig aneinander geschnittener Wall-Street-Impressionen, die erst in den Räumlichkeiten von Stratton Oakmont einer ruhigen, klaren Kameraführung weichen (0:00:52). Nicht nur die pulsierende Klaviermusik gibt dem zweiten Teil einen steten Rhythmus, auch der Bildschnitt erfolgt nunmehr in regelmäßigen Abständen und doppelt somit die ruhige, man könnte angesichts der diegetischen Adressatengruppe ›potenzielle Investoren‹ auch sagen: beruhigende Musik. Mit dem hier dargestellten Ideal einer vorhersehbaren und kontrollierbaren Börse verdient Belfort sein Geld – mit einer Fiktion.
Auf den Werbefilm folgt ein Szenenwechsel, der erstmals diejenige Diegese zeigt, in der sich der Film die meiste Zeit bewegen wird und die der Binnenwelt des Werbefilms diametral entgegengesetzt ist: Man sieht dasselbe Gebäude, dieselbe Firma, in der aber nun ekstatische Angestellte Kleinwüchsige auf Zielscheiben schleudern – statt eines geordneten Büroraums, in dem sich sogar der Maskottchenlöwe von den geordneten Strukturen des Unternehmens zähmen lässt. Die Montage etabliert sich angesichts von Belforts erzählerischer Dominanz als ordnende, objektivierende Instanz – ein Status, der sich im Film an mehreren Stellen beobachten lässt.2
Die Bilder selbst gehorchen indessen dem Erzähler, wie auch zu Beginn des Voice-Overs deutlich wird (0:01:42), als Jordan Belfort sich zunächst vorstellt und dann korrigierend eingreift, da nicht er, sondern einer der Kleinwüchsigen im Standbild festgehalten ist (0:01:45). Dieses Prinzip wird im Folgenden fortgeführt, als Belfort die Farbe seines Ferraris korrigiert (0:02:10) und mit einem implizierten Zuschauer interagiert, der sich keine Hoffnung auf Belforts Frau machen solle (0:02:39). Dadurch wird die Illusion von Interaktivität und damit von einer dokumentarischen Filmsituation erzeugt, was im Folgenden unmittelbar ironisch kommentiert wird: Eindeutig ältere Aufnahmen aus der TV-Serie LIFESTYLES OF THE RICH AND FAMOUS (USA 1984–1995, Creator: Alfred M. Masini ) markieren die Analepse des rahmenden Spielfilms als fingiert und thematisieren damit seinen inszenatorischen Gestus. Verknüpft werden beide Ebenen durch die von Bill Conti komponierte3 Titelmusik zur Serie, die bereits einsetzt, als Belforts zweite Frau Naomi Lapaglia (Margot Robbie ) erstmals im Bild zu sehen ist (0:02:27). Dass die Stimme von Robin Leach, dem Moderator von LIFESTYLES OF THE RICH AND FAMOUS, bereits vorher einsetzt, verkompliziert die Situation noch zusätzlich. Es bleibt in der Schwebe, ob Naomi das Programm im Fernsehen sieht, ob Belfort es mit seinem eigenen Lifestyle assoziiert oder ob es sich um einen filmischen Kommentar handelt, der Belforts Prahlerei ironisch untermalt.
Von welchem Standpunkt aus Belfort diese narrative Introduktion überhaupt vornimmt, erscheint unklar. Am Ende des Films sieht man ihn als teilweise gescheiterten Überle...