1. Einleitung
Am 8. Mai 1468 wird während der Messe auf dem 19. Kapitel des Ordens vom Goldenen Vlies Johann von Burgund, Graf von Nevers, in einem symbolträchtigen Akt aus dem Ritterorden ausgeschlossen. Ihm wurde vorgeworfen, einige Jahre zuvor mittels magischer Praktiken gegen Herzog Karl den Kühnen, damals noch Graf von Charolais, intrigiert zu haben. Diese Episode hat immer wieder die Verwunderung einzelner Forscher evoziert. So fragte beispielsweise Bernhard Sterchi, ob nicht ein anderer Grund hinter diesen Vorwürfen zu suchen sei und weshalb man bei dem Ausschluss nicht von Verrat sprach, einem Vorwurf, der durchaus auch möglich gewesen wäre und auf den ersten Blick nahe gelegen hätte.1 Eine Antwort hat Sterchi nicht gefunden und auch andere Autoren gehen nicht über diese Verwunderung hinaus. Die in der Forschung geübte Zurückhaltung im Fall Johanns von Burgund ist fraglos mit dem zur Verfügung stehenden Quellenmaterial zu begründen, lagen doch bisher neben den Erwähnungen der Ereignisse im Aktenmaterial des Ordenskapitels nur einige Verweise in der burgundischen Chronistik vor, die allerdings zum Teil sehr vage ausfallen.2
Mit dem in dieser Studie näher untersuchten Aktenkonvulut, dem Processus contra dominum de Stampis,3 liegt nun aber bisher unbekanntes Quellenmaterial vor, das den Vorwürfen gegen Johann von Burgund deutlichere Konturen verleiht. Johann, der zum Zeitpunkt der Ereignisse (1463) noch Graf von Étampes war, wird während eines Prozesses gegen seinen Bediensteten Jean de Bruyère stark belastet, Zaubereien mit Wachsfiguren gegen den französischen König, den damals noch regierenden Herzog Philipp von Burgund und insbesondere auch gegen den Grafen von Charolais, den späteren Herzog Karl den Kühnen, ausgeführt zu haben.
Das Aktenmaterial ermöglicht es uns, einen detaillierten Blick auf die Ereignisse zu werfen, die sich über einen Zeitraum zwischen 1461 bis 1463 erstrecken. Hinter dem Prozessgeschehen scheint dabei das weit verzweigte Geflecht unterschiedlicher Personen und Personengruppen im Umfeld des herzoglichen Hofes auf und es eröffnet sich ein breites Panorama magischer Vorstellungswelten im Burgund des 15. Jahrhunderts. Seine besondere Brisanz erhält das Material aber durch die politische Dimension der Ereignisse. Denn obwohl es sich bei dem Prozess um ein reguläres kirchliches Verfahren handelt, lassen die Prozessakten doch deutlich erkennen, wie der Zaubereiprozess durch Karl von Burgund als politisches Instrument genutzt wird. An das Aktenmaterial sollen insbesondere Fragen nach dem Vorgehen Karls und der Untersuchungskommission im Zuge der Aufdeckung der Zaubereivorwürfe gestellt werden. Die Untersuchungen werden daher ein Augenmerk auf den durch die Kommission geleiteten Prozess und das Prozedere der Befragungen richten sowie auf die in dem Prozess geäußerten Vorwürfe gegen den Grafen von Étampes. Das Material lässt dabei eindrückliche Rückschlüsse auf das Verhältnis in der herzoglichen Familie zu.
Zu den in den Prozessakten geschilderten magischen Praktiken und Vorstellungswelten soll ein weiterer Schwerpunkt in der Arbeit gesetzt werden. Von besonderem Interesse ist hier das sich in den Akten abzeichnende Beziehungsgeflecht, das die Suche nach magischen Utensilien und die Durchführung der Praktiken ermöglichte. Die Ereignisse sollen zudem in das Umfeld der sich ausbildenden Magieprozesse und der Magievorwürfe im franko-burgundischen Raum eingeordnet werden, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf dem höfischen Milieu liegen soll, in dem Magievorwürfe oft politische Implikationen hatten.
So ist auch die Frage nach den politischen Dimensionen des Processus contra dominum de Stampis und den Konstellationen im Haus Burgund keineswegs voneinander zu trennen. Es wird etwa zu fragen sein, inwieweit die Ereignisse Auswirkungen auf das Verhältnis das Grafen von Étampes zu Herzog Philipp dem Guten und seinem Sohn hatten, aber auch, welchen Stellenwert dieses Verhältnis für die zu dieser Zeit ohnehin schon problematische Beziehung des Grafen von Charolais zu seinem Vater hatte. Die angespannte Situation zwischen dem Herzog von Burgund und seinem einzigen Erben führt für diese Untersuchung zu der Annahme, dass die Reaktionen Karls insbesondere durch seine prekäre Machtsituation und das Verhalten seines Vaters bedingt waren. Ein Fokus soll zudem auf die Frage nach einer konkreten Instrumentalisierung des Prozesses durch den Grafen von Charolais und die damit verbundenen Konsequenzen für den Grafen von Étampes gerichtet sein.
Im Mittelpunkt der Arbeit steht folglich die Aufarbeitung des Prozessgeschehens in seinen politischen Konstellationen und seine Kontextualisierung in der burgundischen Hofgesellschaft sowie den magischen Vorstellungswelten seiner Zeit. Nach einem kurzen Literatur- und Quellenüberblick soll zunächst zur besseren Einordnung der Befunde ein resümierender Blick auf die burgundische Geschichte des 15. Jahrhunderts geworfen und ein Überblick über die Forschung zu politischen Prozessen und dem crime de lèse-majeté, dem Majestätsverbrechen, gegeben werden, bevor – nach einer biographische Skizze zum Grafen von Étampes und seinem Wirken am burgundischen Hof – die Darstellung des Prozesses erfolgt.
1.1. Quellen und Literatur
1.1.1. Quellenlage
1.1.1.1. Der Processus contra dominum de Stampis
Im Mittelpunkt dieser Studie steht ein Konvolut von Abschriften aus dem späten 15. Jahrhundert, das man als Ganzes nach einer Notiz auf dem Umschlagblatt als Processus contra dominum de Stampis bezeichnen kann. In diesem frühen Vertreter des Aktenzeitalters werden Schriftstücke verschiedener Provenienz zu dem besagten Gerichtsprozess (hier: kopial) zusammengeführt.4 Der Forschung war dieses Material bislang gänzlich unbekannt, was eine Konsequenz aus der Überlieferungssituation ist. Ursprünglich dem Archiv des Ordens vom Goldenen Vlies (AOGV) zugehörig ist es vermutlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus dem AOGV entliehen und nicht zurückgegeben worden. Ein Konvolut mit Unterlagen von Payer von Thurn, in dem sich die Akte fand, erwarb der Doktorvater der Autorin, Dieter Scheler, in den 1960er Jahren im Wiener Antiquariatshandel.5 Die Prozessakten wurden im März 2013 wieder an das Archiv des Ordens vom Goldenen Vlies zurückgegeben, wo sie im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien unter der Signatur HHStA, AOGV, Akten, Karton 5, Dossier: Ausschließung Nevers (Türck’sche Systematik 2. Partie, § 2, 11 C) zu finden sind.
Der Processus liegt mit dieser Arbeit erstmals vollständig ediert und kommentiert vor. Zur Erschließung dieses außergewöhnlichen Stücks burgundischer Rechts- und Politikgeschichte waren aber selbstverständlich weitere archivalische und gedruckte Quellenbestände aus den ehemaligen burgundischen Landen, in der Hauptsache also aus Archiven und Bibliotheken des heutigen Frankreichs und Belgiens, heranzuziehen.
1.1.1.2. Herangezogene Archivbestände
Zur Erschließung einzelner Aspekte in der Prozesshandschrift, besonders aber zur Analyse des Verhältnisses des Grafen von Étampes zum burgundischen Hof und zu Ludwig XI., konnten die französischen Archive nützliches Material liefern. Statt auf viele einzelne, sei hier einführend besonders auf die Aufsätze von Pierre Cockshaw, Bertrand Schnerb oder Sébastien Hamel verwiesen, die zur Orientierung in der burgundischen Archivlandschaft zu empfehlen sind und auf zahlreiche weiterführende Literatur hinweisen. Für die deutschsprachige Suche sollen hier beispielhaft Werner Paravicini, Holger Kruse und Sonja Dünnebeil genannt werden.6
Insbesondere sind hier die Bestände der Archives départementales du Nord in Lille hervorzuheben. Dort steht mit den sogenannten Écroes (escroes), die in der französischen Forschung häufig als états journaliers bezeichnet werden, eine Quellengattung zur Verfügung, die unter anderem auch die Zeit des Grafen von Étampes am burgundischen Hof betrifft.7 Sie werden von der historischen Forschung vor allem in zwei große Gruppen unterteilt, nämlich die escroes de la despense (de bouche), also die Sachausgaben, und die escroes des gaiges, die Tagegelder oder, wenn man so will, Personalausgaben. Bei den escroes de gaiges muss man allerdings – wie Paravicini bereits anmerkte – in Rechnung stellen, dass diese zwar prinzipiell den gesamten Hofstaat des entsprechenden Tages verzeichnen, dies allerdings nur insofern, als auch Tagegelder bezogen wurden. Personen, die sich auf Dienstreise befanden oder anderweitig Geld von einem jeweils anderen Hof erhielten, tauchen in diesen Listen nicht auf. Auch Unregelmäßigkeiten können vorkommen.8 Die Bestände nicht nur in Lille, sondern auch an anderen Orten haben zudem unter starken Verlusten gelitten, sodass man nur mit einer lückenhaften Überlieferungssituation arbeiten kann. Für den Grafen von Étampes etwa sind zwar Écroes der 1440er und 1450er Jahre überliefert, aber auch diese sind offenbar nicht vollständig erhalten.9
Neben den Écroes gibt es noch einen weiteren Quellenbestand in den Archives départementales du Nord, der den Grafen von Étampes direkt betrifft. Unter der Signatur Cumulus wird unter anderem ...