1. Was ist ein Imam?
In den türkischen Moscheen in Deutschland ist es üblich, den Imam mit Hodscha – was so viel wie »religiöser Lehrer« bedeutet – anzureden. Mit diesem an sich religiösen Titel werden in der Türkei auch Lehrer oder Professoren bezeichnet. Wie Günter Seufert treffend beschreibt, ist in der türkischen Gesellschaft die Übernahme von Rang- und Statusbezeichnungen aus dem religiösen Leben auch ins öffentliche Leben sehr gebräuchlich: »Mit der Verwendung dieser Begriffe aus traditionellen sozialen Zusammenhängen wie der (…) religiösen Gemeinschaft werden auch die an sie gebundenen personalen Verhaltenserwartungen in die Sphäre des öffentlichen Lebens übertragen. Die genannten Anredeformen aus der (…) religiösen Sphäre, die öffentlichen Funktionsträgern zugedacht werden, sind mehr als Zufälligkeiten oder Ausdruck von Nostalgie: Sie transportieren konkrete Verhaltenszumutungen und Handlungsmechanismen.« Viele ursprünglich religiöse Titel finden nach Seufert also in zahlreichen Zusammenhängen eine Verwendung und spiegeln Beziehungsmuster aus traditionell-sozialen Einheiten wider. Der Begriff Hodscha wird oft synonym für Imam verwendet. Anders als Hodscha ist jedoch der Imam-Begriff eher der religiösen Sphäre vorbehalten. In diesem Buch wird die hierzulande weitaus bekanntere Bezeichnung Imam bevorzugt. Dieser taucht im Koran in zahlreichen Versen und in unterschiedlichen Zusammenhängen auf.
Funktion
Das arabische Wort Imam bezeichnet wörtlich übersetzt einen »führenden Mann« bzw. eine »Person, die vorne steht«. In den meisten Wörterbüchern wird er als Vorbeter bzw. Leiter des Gebets oder als Gebieter in religiösen Angelegenheiten beschrieben. Wie die folgenden beispielhaften Koranverse darlegen, findet sich der Terminus im heiligen Buch der Muslime in der Bedeutung Vorbild, Führungsfunktion bzw. geistige Leitung wieder:
»Und als Abraham von seinem Herrn durch Gebote, die er erfüllte, geprüft wurde, sprach Er: ›Siehe, Ich mache dich zu einem Imam für die Menschen.‹« (Koran: Sure 2, Vers 124)
»Eines Tages werden wir alle Menschen mit ihren Führern (Imamen) rufen.« (Sure 17,71)
»Und Wir machten sie zu Vorbildern (Imamen), die auf Unser Geheiß rechtleiteten, und wiesen sie an, Gutes zu tun, das Gebet zu verrichten und Almosen zu entrichten.« (Sure 21,73)
Die Rolle des Imams schließt sämtliche (geistige) Führungs- und Leitungsfunktionen im religiösen Bereich mit ein. Laut Koran handelt es sich beim Imam zudem um eine Funktion und kein Amt. Und dennoch trug in der islamischen Geschichte auch das Staatsoberhaupt des muslimischen Reiches den Imam-Titel (auch Kalif genannt). Neben politischen und militärischen Aufgaben hatte er dafür Sorge zu tragen, die religiösen Normen und Werte der Umma (muslimische Gemeinschaft) zu wahren. Davon hing auch sein eigenes Schicksal als politischer und religiöser Führer ab. Solange die öffentliche Ordnung und die Scharia (das islamische Recht) gewahrt wurden, sahen die Ulama (die islamischen Gelehrten) über den oft unislamischen, pompösen Lebensstil der Herrscher hinweg. Ganz anders dagegen hielten es die Kharidschiten, die erste radikal-islamische Strömung (entstanden im 7. Jahrhundert), der Prototyp des heutigen militanten IS sozusagen. Der religiöse und politische Führer musste zugleich gerecht sein und einen strikt islamischen Lebensstil führen, andernfalls sollte er – falls nötig auch mit Waffengewalt – abgesetzt werden. Die Führungsfrage ist eine entscheidende religiöse Frage für die radikalen Gruppen. (Die Kharidschiten werde ich später noch mal aufgreifen, wenn die extremistischen Imame vorgestellt werden.)
Über Jahrhunderte hinweg spielte das Amt des Imams bzw. des Kalifen eine zentrale Rolle im Islamischen Reich. Im Zuge des zunehmenden Verfalls der muslimischen Weltreiche, etwa des Osmanischen Reichs, reduzierte sich dessen Rolle jedoch mehr und mehr auf repräsentative Funktionen, bis das Kalifat im Rahmen der modernen Nationalstaatengründungen schließlich ganz aufgelöst wurde. An seine Stelle traten in den meisten islamisch geprägten Ländern Scheindemokratien, Militärregierungen und Monarchien. Man muss gestehen: Die Demokratie als Staatsform und soziale Idee wartet noch auf die Stimme der jeweiligen muslimischen Bevölkerung, um eingeführt zu werden. Derzeit wird dieser Ruf von den Herrschenden und den wirtschaftlichen bzw. militärischen Eliten unterdrückt. Allein die eigenen Interessen zu wahren ist alles, was für diese Eliten zählt. Daher hat diese herrschende Kaste relativ schnell den so hoffnungsvoll begonnenen »Arabischen Frühling« im Keim ersticken können.
Der Imam bzw. Kalif war es, der den Islam und die Einheit der Muslime in der islamischen Geschichte symbolisierte. Und erst der Todesstoß, der diesem symbolträchtigen Stand versetzt wurde, machte vielen Muslimen das Ende eines langen Kapitels in der islamischen Geschichte schmerzhaft bewusst. Somit kann es kaum verwundern, dass eines der Ziele panislamischer Bewegungen wie etwa der in Deutschland seit 2003 verbotenen Hizb ut-Tahrir-Organisation darin besteht, das Amt des Imams bzw. Kalifen als Symbol der Einheit der Muslime – durch den Sturz der Regierungen in den islamisch geprägten Ländern – wieder einzuführen. Die Wiederherstellung des Kalifats gilt als Allheilmittel für die gegenwärtige ökonomische, politische und kulturelle Misere in den islamisch geprägten Ländern. Wurde der Prophet Muhammad von seinen Gefährten noch ganz informell – wie jeder andere Sterbliche auch – mit seinem Namen gerufen, errichteten die Kalifen hingegen absolutistische Monarchien. Der Kalif schmückte sich mit dem Titel »Schatten Gottes«. War Muhammad noch stets darauf bedacht, sich mit seinen Gefährten demokratisch zu beraten, so regierten dagegen die späteren Kalifen mit eiserner Hand.
Für panislamische Bewegungen – die sich nach einer starken Führungspersönlichkeit sehnen – ist das Amt des autokratischen Kalifen die einzige Lösung, aus welchen Nöten auch immer. Wird der Kalif als oberster Imam wieder eingesetzt, so glaubt man, werden sich alle gegenwärtigen Probleme von ganz alleine lösen. Und auch in der Auseinandersetzung mit dem Westen gilt das Kalifat in den ideologischen Lehren etwa der Hizb ut-Tahrir als Schutzwall. Seine Einführung steht für die religiöse und politische Re-Organisation der Muslime. So appellierte die Organisation anlässlich des Streits um Muhammad-Karikaturen im Jahr 2005 in einer Erklärung auf ihrer Internetseite:
»Ihr Muslime! Allein das Kalifat wird solche boshaften Zungen zum Schweigen bringen. Nur dadurch wird die Festung des Islam geschützt bleiben, bewacht von seinen Rittern. Kein Feind wird es wagen, sich seinem Gemäuer zu nähern, geschweige denn es anzugreifen. Für das Kalifat wird der Islam die entscheidende Angelegenheit sein und nicht Throne oder Kronen. Die Diffamierung des Islam stellt eine Kriegserklärung dar, derentwillen das Kalifat Armeen, Raketen und Bomber in Bewegung setzen wird, um diese Schandmäuler die Einflüsterungen des Teufels vergessen zu lassen. Die ungläubigen Kolonialisten werden schon aus Angst vor dem Kalifat und dessen Reaktion es gar nicht wagen, den Islam zu beleidigen. So wird es gar nicht notwendig sein, die Armeen in Bewegung zu setzen.«
Ein gänzlich anderes Imam-Verständnis wird im schiitischen Islam vertreten. Schiiten machen etwa zehn Prozent der Muslime weltweit aus. Der Imam als politischer und geistiger Führer spielt im Schiitentum insgesamt eine viel gewichtigere Rolle als im sunnitischen Islam. Denn die Schiiten glauben an die zwölf Imame. Als direkte Nachfahren des Propheten Muhammad, dessen Lehren und Aussprüche als religiöse Quellen autorisiert sind, ernannte jeder dieser Imame unter nass (göttlicher Eingebung) seinen Nachfolger. Die esoterische Bedeutung und tiefgründige Interpretation der islamischen Quellen wurde nach schiitischem Verständnis dabei ebenfalls von Imam zu Imam weitertradiert. Der vorletzte Imam (Hasan al-Askari) verstarb im Jahre 873, während der zwölfte und letzte Imam (Muhammad al-Mahdi) nach schiitischer Auffassung im Jahre 869 von Gott entrückt wurde und bis heute im Verborgenen existiert. Aus der Sehnsucht der Schiiten nach einer gerechteren Gesellschaftsordnung entwickelte sich eine endzeitlich-eschatologische Doktrin um die Person des Mahdi. Nach dem Dogma der ghayba (Okkultation) ist er der legitime politische und geistige Führer aller Muslime; kurz vor der großen Apokalypse wird er aus der Verborgenheit wiederkehren und, ähnlich wie der jüdische bzw. christliche Messias, die natürliche Ordnung wiederherstellen.
Die iranische Verfassung von 1979 führt den verborgenen Mahdi als Staatsoberhaupt ein. Bis zu seiner Wiederkehr herrscht stellvertretend der schiitische Klerus. Damit wurde die jahrhundertelange Passivität in Aktivität umgewandelt, indem der Klerus aktiv sich an der Politik beteiligt. Seit der iranischen Revolution ist der Imam als der oberste Rechtsgelehrte zugleich auch der höchste Repräsentant des Staates. Das Staatskonzept des Revolutionsführers Imam Chomeini (1979–1989 Staatsoberhaupt Irans) sieht die Führungsrolle des schiitischen Klerus in weltlichen wie in religiösen Fragen vor. An die Staatsspitze wird ein Großayatollah als geistiger und politischer Führer gewählt. Der Klerus im Land hat dabei die Aufgabe, sich auf der Grundlage der Interpretation der heiligen Texte mit Rechtsfragen auseinanderzusetzen. Nach der schiitischen Lehre gelten die Imame als unfehlbar und sündenfrei. Nur die spirituelle Elite der Schiiten kenne noch die esoterische Bedeutung des Korans, die weit über die wörtliche Bedeutung der Schrift hinausgehe und vom »Otto-Normal-Muslim« nicht zu verstehen sei.
Anders als im sunnitischen Islam zählt das komplexe Netz von Doktrinen um den Stand des Imams im Schiitentum zur Aqida, den unbestreitbaren Glaubensgrundsätzen. Weder im Koran noch in anderen sunnitischen Quellen wird jedoch diese Imam-Lehre vertreten. Daher möchte ich hier nur sunnitische Imame berücksichtigen.
Innerhalb des Islam stellen die Sunniten die größte Glaubensgemeinschaft. In Deutschland bilden sie – und somit auch die sunnitischen Imame – die überwältigende Mehrheit. Der sunnitische Islam lehnt ein institutionalisiertes Priestertum ab. Anders als beim Priesteramt wie beispielsweise im Christentum ist der Imam auch kein geweihter Amtsträger. Die Anrede Imam ist zudem kein geschützter Titel. Daher kann sie auch Muslime meinen, die nur eine Mindestkompetenz zur Leitung von Gottesdiensten besitzen (informelle Bildung). Denn unter Imam ist primär die Person zu verstehen, welche die täglichen Gemeinschaftsgebete leitet. Diese steht im Gottesdienst vor der Gemeinde und leitet die Zeremonie durch Koranrezitationen und rituelle Bewegungsabläufe; der Imam sorgt dafür, dass Letztere im Gemeinschaftsgebet synchron durchgeführt werden. Jeder reife männliche Muslim mit minimalen religiösen Kompetenzen (Memorieren bestimmter Gebetsformeln sowie Koranverse) kann diese Rolle spontan in kleineren Gemeinden einnehmen. Während diese Funktion im weiteren Sinne in den täglichen Gemeinschaftsgebeten von jedem Muslim erfüllbar ist, sind die Anforderungen an einen in den Moscheen angestellten Imam weit größer. Sie schließen über das Leiten der Gemeinschaftsgebete hinaus vielfältige Verpflichtungen ein. Für diese Aufgaben werden sie bezahlt. In der Regel ist eine universitäre Ausbildung oder zumindest eine schulische Eignung erforderlich, aber eben nicht Voraussetzung. So variieren das Qualifikationsniveau unter den Imamen wie auch ihr Aufgabenspektrum erheblich.
Aufgabenbereiche
Die berufliche Rolle des Imams hat sich im Laufe der frühislamischen Geschichte gebildet und im Zuge der historischen Entwicklungen in der islamischen Welt institutionalisiert. Imame sind die Schnittstelle zwischen Staat und Bevölkerung. Je nach gesellschaftlichen und politischen Bedingungen haben diese geistigen Autoritäten vielfältige Tätigkeiten übernommen. Neben seinen klassischen Funktionen in der Moschee spielte der Imam eine zentrale Rolle im Aufbau gesellschaftlicher Strukturen, war Teil politischer Entwicklungen, trat als Oppositioneller in Erscheinung, engagierte sich bei der Bildung von Netzwerken und als Motivator des Volkes. Trotz dieser vielfältigen Rollen bilden bis heute die unten dargestellten klassischen Aufgabenfelder den Kern der Verpflichtungen eines Imams – gewissermaßen die kleinsten gemeinsamen Nenner in allen Moscheegemeinden der Welt. Je nach Qualifikation, Bildungsniveau, religiöser Orientierung und individuellem Engagement kann der Imam ein enges oder breites Aufgabenspektrum abdecken:
Das tägliche Gemeinschaftsgebet
Wie schon erwähnt, liegt die zentrale Aufgabe des Imams in der Leitung des Gemeinschaftsgebets. Dieses Gebet ist Pflicht und ein in seinem Ablauf strikt geregeltes Ritual. So heißt es im Koran: »Trage vor, was dir (Muhammad) von dem Buche geoffenbart wird, und verrichte das Gebet. Siehe, das Gebet bewahrt vor Schandbarem und Verbotenem. Das (ständige) Gedenken an Gott ist fürwahr das Größte. Und Gott weiß, was ihr tut.« (Koran 29,45) Die verschiedenen Körperhaltungen im Gebet sollen u. a. die Demut der Gläubigen festigen. Ihnen soll bewusst werden, dass sie von Gott erschaffen sind und zu ihm zurückkehren werden.
Dieses Ritual wird von praktizierenden Muslimen täglich fünf Mal zu jeweils bestimmten Tageszeiten verrichtet. Dabei orientieren sie sich nach dem Stand der Sonne: vor Sonnenaufgang, am Mittag, am Nachmittag, am Abend und bei Eintritt der Nacht. Nach dem muslimischen Glaubensbekenntnis (La ilaha illallah, Muhammad Rasullullah – Es gibt keine Gottheit außer Gott und Muhammad ist sein Gesandter) bildet das Gebet die wichtigste Säule des Islam. In islamischen Ländern weist der Muezzin mit seinem Ruf auf den Beginn der Gebetszeit hin. Dieser Gottesdienst ist nicht zu verwechseln mit den formlosen, persönlichen Bittgebeten, die individuell gestaltbar sind und unabhängig von zeitlichen Bestimmungen erfolgen können. Da nach muslimischer Auffassung das Gebet in der Gemeinschaft mehr Gotteslohn bringt, sind die Muslime dazu gehalten, die vorgeschriebenen Gottesdienste gemeinsam in der Moschee mit einem Imam zu verrichten. Die Motivation für ein Gebet im Kollektiv basiert vor allem auf dem folgenden Ausspruch des Propheten Muhammad: »Das Gemeinschaftsgebet ist 27-mal besser als das allein verrichtete Gebet.«
Die wöchentliche Freitagspredigt
Den Höhepunkt des gemeinschaftlichen Gottesdienstes stellt das Freitagsgebet dar, welches jede Woche zur Mittagszeit verrichtet wird. Im Koran heißt es: »O die ihr glaubt, wenn zum Gebet gerufen wird am Freitag, dann eilt zu Gottes Gedenken und lasst das Kaufgeschäft. Das ist besser für euch, wenn ihr wisst. Wenn das Gebet beendet ist, dann breitet euch im Land aus und trachtet nach etwas von Gottes Huld. Und gedenkt Gottes viel, auf dass es euch wohlergehen möge.« (Koran 62,9–10) Der Freitag ist zwar für Muslime ein Feiertag, doch im Gegensatz zum jüdischen Samstag oder zum christlichen Sonntag kein Ruhetag. In den islamischen Ländern fand das Freitagsgebet einst in der Zentralmoschee des jeweiligen Stadtteils bzw. der jeweiligen Stadt statt. Im Zuge der Urbanisierung, Landflucht und Bevölkerungsexpansion existieren heute in Großstädten wie Istanbul oder Kairo mehrere Freitagsmoscheen. In Deutschland gibt es dagegen keine Zentralmoscheen, da jede islamische Organisation ihre ei...