Freiheit kommt von innen
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Freiheit kommt von innen

In der Lebensschule der Jesuiten

  1. 240 Seiten
  2. German
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Freiheit kommt von innen

In der Lebensschule der Jesuiten

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Wie gewinnt der Mensch wirkliche, innere Freiheit? Auf den Spuren seines Ordensvaters Ignatius von Loyola bahnt Christian Rutishauser den Weg von der Oberfläche hin zu einem Leben, das in sich selbst ruht und darum frei ist. Dem Rhythmus ignatianischer Exerzitien entlang führt der langjährige Chef der Schweizer Jesuiten seine Leser ins Innere, in die Gegenwart Gottes im Leben, zu sich selbst. Eine faszinierende Reise mit Abgründen, Hindernissen – und einem Ziel, das jede Anstrengung lohnt.

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Information

Jahr
2021
ISBN
9783451824234

Auf dem Weg


Rabbi Sussja lehrte: Gott sprach zu Abraham: »Geh aus deinem Land, aus deinem Geburtsort, aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde.« Gott spricht zum Menschen: Zuvorderst geh aus deinem Land – aus der Trübung, die du selbst dir angetan hast. Sodann aus deinem Geburtsort – aus der Trübung, die deine Mutter dir angetan hat. Danach aus deinem Vaterhaus – aus der Trübung, die dein Vater dir angetan hat. Nun erst vermagst du in das Land zu gehen, das ich dir zeigen werde.
Eine Erzählung der Chassidim

Radikale Selbsterkenntnis

Der junge baskische Adelsmann Íñigo López de Loyola, der später seinen Namen zu Ignatius latinisieren sollte, war 1521 mit einer Kriegsverletzung ans Bett gebunden. Diagnose: schwere Verwundung am Bein; lebensbedrohende Komplikationen. Da Ritterromane fehlten, liest er in der Zeit der Genesung die Legenda aurea und die Vita Christi des Ludolf von Sachsen. Bei der Lektüre der Heiligenleben und des Lebens Christi widerfährt ihm eine Bekehrung. Ein unumkehrbarer Prozess bahnt sich an. Eine innere Transformation vollzieht sich an ihm. Voll Eifer, wenn auch noch hinkend, bricht er nach der Gesundung zum Kloster Montserrat auf. Nun will er sein Leben ganz in den Dienst Gottes stellen. Unterwegs begegnet er einem Muslim. Sie reiten miteinander und kommen auf Glaubensfragen zu sprechen. Wie könnte es bei Íñigo anders sein, der gerade Christus neu entdeckt hatte. Sie diskutieren über Maria, die Mutter Jesu. Sogleich geraten sie sich in die Haare. Für den Muslim ist Maria eine große Frau aus dem Koran. Für Íñigo ist sei eine Jungfrau und Mutter Gottes. Der Streit entbrennt heftig. Zerstritten trennen sie sich. Jeder geht seines Weges. Íñigo wird sofort von Skrupeln gepackt. Nicht weil er gestritten hätte, sondern weil er den Muslim nicht von der Jungfräulichkeit Mariens überzeugen konnte. Er reitet dem Muslim nach, will ihn von seiner eigenen Glaubenswahrheit überzeugen. Falls dies nicht geht, ist er bereit, den Muslim zu erstechen. Er kann ihn aber nicht mehr finden. So zieht er seine Wege zum Montserrat, überzeugt, dass Gott ihn so geführt hat. So weit die spätere Aufzeichnung des Ignatius über den Übereifer seiner Bekehrungszeit.
Die Reaktion des Íñigo erscheint aus heutiger Perspektive übertrieben und lächerlich. Einen Muslim umbringen, nur weil er nicht an die Jungfräulichkeit Mariens glaubt? Bedenkt man jedoch, dass wir im Spanien des 16. Jahrhunderts sind, wo Männer sich um die Jungfräulichkeit ihrer Frauen duellieren, wird klar, dass Íñigo patriarchalen gesellschaftlichen Gepflogenheiten folgte. Seine Wertvorstellung prägt auch seinen neu gefundenen Glauben. Wenn schon Kampf bis zum Tod für die weltlichen Frauen gilt, wie viel mehr für die Mutter Gottes. So religiös der Neubekehrte äußerlich erscheint, sein Reaktionsmuster ist das alte. Tiefer geblickt, geht es ihm nicht um einen Glaubenskampf, sondern um einen patriarchalen Machtkampf, der in den Glauben hineingetragen wird. Denn auch wenn es um einen Glaubensinhalt geht, so ist der Umgang damit doch meilenweit von einem christlichen Verhalten entfernt.
Der Vorfall zeigt exemplarisch auf, worum es Ignatius später geht. Es braucht nach ihm nicht nur eine äußere Bekehrung, in der sich der Mensch Glaubensinhalten zuwendet. Es braucht eine tiefere, eine zweite Bekehrung. Eine Transformation der psychischen Reaktionsmuster sowie der mentalen Prägung ist notwendig. Sie ist auch heute aktueller denn je. Religiöse Erziehung hat ihr Ziel nicht erreicht, wenn Glaubensinhalte vermittelt sind. Es braucht eine innere Verwandlung, ansonsten bleiben Christen getaufte Heiden. Dies steht hinter dem Vorwurf an die Christen heute: Sie würden nicht ethischer handeln als die anderen Zeitgenossen. Sie würden sich im Alltag verhalten wie sie, würden einfach auch noch den Gottesdienst besuchen. Selbstverständlich haben die Christen die Gesellschaft sehr wohl mit höheren ethischen Standards geprägt. Viele der sozialen, pädagogischen und medizinischen Institutionen des Westens zeugen davon. Doch die Wahrheit der Kritik besteht darin, dass viele Christinnen und Christen bei einer ersten Bekehrung stehen bleiben. Die Transformation geht innerlich nicht tief genug. Sie erfasst die vorbewussten und unterbewussten Schichten der Psyche kaum. Wie aber kann Transformation gelingen? Was heißt Umkehr wirklich? Die tiefere Verwandlung des Menschen ist Ziel jesuitischer Bildung.

Tiefenbekehrung

Im ältesten Evangelium tritt Jesus gleich zu Beginn als jüdischer Wanderprediger auf. Er ruft seinen Mitmenschen zu: »Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!« (Mk 1,15). Jesus beginnt sein Wirken mit einer Zeitansage. Kurz und klar qualifiziert er seine Zeit: Sie ist erfüllt. Fülle der Zeit bedeutet Fülle des Seins. Die Zeit ist nicht leer. Sie plätschert nicht langweilig dahin. Im Gegenteil, sie ist dicht und bedeutungsstark. Sie ist voll von Leben und Qualität. Jesus charakterisiert dieses aufgeladene Jetzt dahingehend, dass die Königsherrschaft Gottes angebrochen sei. Gottes Gesetzmäßigkeiten prägen von nun an das Geschehen. Seine schöpferische Dynamik formt. Seine heilende Kraft bricht an. Der Mensch soll sich dieser Zeit anvertrauen, in sie einschwingen. Der Imperativ »Kehrt um!« ist eine Abwendung von gegenteiligen Kräften. Weder die Logik dieser Welt noch die Gesetze der Natur sollen bestimmen. Destruktive Bewegungen haben keinen Platz mehr. Krank machende Strukturen sind zu überwinden. Ein neuer Weg ist zu gehen. Gott kann endlich Gott sein, und der Mensch partizipiert an seinem schöpferischen Tun. Gott ist nicht mehr, wie so oft im religiösen Vollzug, nur Instrument eigener Selbstbehauptung. Vielmehr ist die Perspektive umgekehrt: Alles ist auf Gott hin ausgerichtet, denn seine Königsherrschaft ist angebrochen. »Kehrt um!« heißt auf Griechisch metanoiete. Das Wort meta – jenseits, über, darüber hinaus – und das Wort nous – Denken, Vernunft, Verstand, Bewusstsein – sind darin enthalten. Umkehren heißt also dem wortwörtlichen Sinn nach darüber hinausdenken, anderes denken. Jesus fordert zu einem neuen Bewusstsein auf. Dieses Umdenken führt zu einem Handeln, das der nahenden Gottesherrschaft entspricht.
Jesus fordert eine zweite Bekehrung. Seine jüdischen Volksgenossen verstehen sich als Söhne und Töchter Abrahams, als Volk, das aus der Sklaverei Ägyptens zu einer Alternativkultur befreit wurde. Jude zu sein ist eine erste Bekehrung. Doch nun gilt es, sich innerlich verwandeln zu lassen. Das äußere Wort Gottes, auf Tafeln von Stein geschrieben, wie es bei Jeremia heißt, soll auf das Herz aus Fleisch geschrieben werden (Jer 31,31–34). Jeremia spricht dabei von einem erneuerten Bund, den Gott mit seinem Volk eingehen will. Diese Erneuerung besteht in einem Weg aus kleinen Schritten. Gott selbst scheint dabei in seiner Pädagogik gegenüber dem Menschen gleichsam gelernt zu haben. Die Bibel erzählt nämlich, Gott habe die Welt gut geschaffen. Angesichts von Gewalt und Unrecht, Mord und Totschlag flutete er sie aber in den Tagen des Noach. Die Sintflut sollte tabula rasa machen. Nur Noach, seine Familie und Tiere überlebten in der Arche. Danach wollte Gott neu anfangen. Doch der mythologische Text lässt Gott am Ende der Erzählung sagen: »Nie mehr soll alles Fleisch durch das Wasser der Flut vertilgt werden« (Gen 9,11). Zu viel Leben wurde bei der Sintflut zerstört. Zu vielen Geschöpfen geschah Unrecht. Keinen Weltuntergang mehr, um neu anzufangen. Apokalyptisches Denken mag faszinieren. Gott aber gibt dieser Versuchung nicht mehr nach. Er weiß, wer vom bedingungslosen Neuanfang träumt, findet auch Gefallen an der Zerstörung. Daher erzählt die Bibel, dass Gott mit allen Menschen und Lebewesen einen Bund schließt. Gott begegnet der Ambivalenz der Welt, die gut geschaffen und doch so verdorben ist, mit Bundesschlüssen. In Gen 17 schließt er mit Abraham einen Bund, später mit dem Volk Israel am Sinai (Ex 20 ff.), schließlich mit dem von Jeremia verheißenen Bund, auf den sich Jesus aus Nazareth bezieht.
Der Aufklärer Gotthold Ephraim Lessing nimmt diese biblische Logik zu Beginn der Moderne wieder auf. Er ist nicht mehr der unkritische Bibelleser. Doch seine Vision der »Erziehung des Menschengeschlechts« schreibt in säkularer Form die biblische Pädagogik fort. Erziehung wurde zu einem Hauptanliegen der Aufklärung. Bildung heißt zuerst, den eigenen Verstand gebrauchen zu können. Urteilsfähig werden. Selbstständig voranschreiten. Der Mensch muss von innen her sich bilden und formen lassen, damit er wirklich Mensch wird. Bildung, wie sie der Humanismus versteht, ist nicht einfach nur Wissens- und Kompetenzvermittlung. Vielmehr besteht sie in der Entwicklung der Urteilsbildung, des freien und kritischen Denkens. Sie ist kulturell umfassend. Daher hat sie auch Sinn für das, was Religion ist. Humanistischer Bildung wissen sich die Jesuiten verpflichtet, setzen dabei aber eigene Schwerpunkte: Sie sehen den Menschen von Anfang an radikal in Beziehung und nicht als isoliertes Individuum. Sie wissen darum, dass die spirituelle Beziehung zu Gott eine Priorität hat und Arbeit an der Innerlichkeit erfordert. Sonst gelingt Tiefentransformation nicht. Sie rechnen mit der Ambivalenz des Menschen, die sich allzu oft in destruktiven und bösen Kräften zeigt. Also kein naiver Humanismus, der nicht wüsste, wie dünn die kulturelle Decke ist, unter der sich Barbarei verbergen kann.
Ignatius ruft zuerst zu Einkehr und Umkehr, weil der Mensch an sich selbst verfallen ist. Einkehr: die Ambivalenz des menschlichen Daseins tiefer zu erkennen. Umkehr bedeutet, die persönliche Schuld, die daraus erwachsen ist, zu bekennen. Möglich erscheint ihm dieser Prozess nur in einem geschützten Rahmen. Es braucht innere Arbeit. Ohne Biografiearbeit ist Selbsterkenntnis nicht zu haben. Dabei ist der unerlöste und verworrene Anteil besonders achtsam ins Auge zu fassen. Wer an der eigenen Schattenseite zu arbeiten beginnt, um Licht in sie zu bringen, darf widerständige Kräfte nicht unterschätzen. Der Mensch ist von Natur aus nämlich nicht einfach gut, wie dies ein Jean-Jacques Rousseau proklamierte und glaubte, das Böse im Menschen würde nur durch die Erziehung entstehen. Kein unschuldig aus sich rollendes Rad ist das Kind, wie Friedrich Nietzsche meinte. Er verklärte romantisch. Von Anfang ist der Mensch durch Angst und Selbstbehauptung geprägt. Kinder können grausam sein. Diese dunkle Seite gehört zum Menschen, auch wenn er in seinem Sein voll bejaht und geliebt wird. Ambivalenz prägt den Menschen von Natur aus. Davon ist er als Kulturwesen nicht zu trennen. Diese Diagnose lässt sich doppelt beschreiben: existenzialistisch-individualpsychologisch wie auch dramatisch-sozialpsychologisch.

Geworfen und geprägt

Der Zugang zum Menschenbild, wie ihn Jesuiten heute ­haben, kann man als gläubigen Existenzialismus bezeichnen. Der Mensch ist in die Welt hineingeworfen. Er findet sich in einer Welt vor. Sie ist rau, vom Überlebenskampf gezeichnet. Bedrohlich ist die Welt mit ihren Mechanismen der Gewalt, die Natur mit ihren Launen. Von sich aus nehmen Evolution und Naturentwicklung auf den einzelnen Menschen keine Rücksicht. Kalt ist das Universum, durch das der Planet Erde rast. Der Mensch ist in der Natur des blauen Planeten zwar eingebettet, doch findet er darin – gerade im Gegensatz zum Tier –nicht ein wirkliches Zuhause. Er gehört einem Familienverband an, ist aber dennoch vereinzelt und verwundbar. Er findet in dieser Welt nicht einfach Heimat. Diese muss mühsam geschaffen werden. Zusammengezimmert, ist sie dennoch brüchig. Daher ist die Angst sein Begleiter von Anfang an. Angst nicht nur vor einzelnen Bedrohungen. Angst vielmehr angesichts des brüchigen Seins an sich. Der Tod ist immer an seiner Seite, wenn auch nicht bewusst wahrgenommen. Leiden, Scheitern und Sterben gehören unabdingbar zum Leben.
Bevor sich der Erwachsene mit seiner conditio humana auseinanderzusetzen beginnt, hat er als Kind und Jugendlicher bereits intuitiv Reaktionen auf sie entwickelt. Er verdrängt die Angst. Er entwickelte Reaktionsmuster zum Überleben, zur Selbstbehauptung. Er kann nicht anders, als sich selbst zu setzen, sich zu verteidigen und zu schützen. Geistige Setzung und leiblich-materielle Absicherung sind prägend, um ein eigenständiges Wesen zu werden. Er muss von seiner subjektiven Wahrnehmung ausgehen und sich auf sie verlassen. Die Absetzung von seiner Umgebung macht ihm aber auch Angst. Er muss sich schützen und ist um Unversehrtheit besorgt.
Was der Existenzialismus erkannt hat, wurde auch entwicklungspsychologisch beschrieben. Pränatal entwickeln sich erste Reaktionsmuster. Vom genetischen Erbmaterial abgesehen, wird das Kind schon im Mutterschoß geprägt. Mit der Geburt beginnt das Geworfensein im engeren Sinne. Die Durchschneidung der Nabelschnur symbolisiert die Trennung von der Mutter. Der Schrei nach ihrer Brust steht für die leiblich-seelischen Bedürfnisse. Der Ruf nach ihr und dem Vater drückt die Schutzbedürftigkeit aus. Das einmalige Werden zeigt sich in der Pubertät nochmals besonders. Der junge Mensch stößt sich von einem Milieu ab und hat doch noch nicht in einem neuen Milieu Fuß gefasst. In einem oft schmerzhaften Hin und Her zeigt sich ein Ablösungsprozess. Von Unsicherheit ist er geprägt. Der junge Mensch muss ausprobieren, was zu ihm gehört, wird mitgeformt durch Menschen und Milieus, die ihn umgeben. Langsam erst findet er die angemessene Distanz und Nähe zu sich und anderen. Jeder Mensch verstrickt sich auf diesem Prozess. Paradoxerweise auch dort, wo Kindheit und Jugend so ideal wie möglich verlaufen. Menschen verletzen sich, auch wo sie lieben. Elterliche Fürsorge schützt das Kind nicht nur, sie vereinnahmt es auch. In der Berührung übertragen sich Energien. Jugendliche aber wollen unabhängig und frei werden, sich aus der Symbiose lösen. Ohne Verletzung ist dies nicht möglich. Wenn eigenständige Persönlichkeiten gefördert werden sollen, muss sogar ein »Elternmord« bejaht werden. Noch im Erwachsenenalter müssen sich viele Männer und Frauen von ihren Eltern innerlich lossagen. Nur wenn auch die emotionale und psychische Nabelschnur durchschnitten ist, werden neue Beziehungen auf Augenhöhe und in Freiheit möglich.
Was mit den Eltern eingeübt wird, ereignet sich in jeder Biografie ein zweites Mal. Die romantische Liebe lässt Männer und Frauen sich gegenseitig begehren. Wieder verschmelzen sie. In der Liebe von Paaren greifen psychische Strukturen und seelische Zustände erneut ineinander. Sie durchdringen sich gegenseitig. Sie affizieren sich bis zur Verschmelzung. Doch auch der erwachsene Mensch will eigenständig sein. Verliebtheit muss sich in Liebe wandeln. Gelingt dies nicht, kann Liebe in Hass umschlagen. So wie Zuneigung verbindet, kann dann auch Feindschaft ineinander verkrallen. Verschmelzung und Abgrenzung wogen hin und her. Es braucht auch unter Erwachsenen Zeit, eine Symbiose zu lösen. Auf einer freieren Ebene sich versöhnt und erneut zu begegnen, ist ein Prozess, der viele Jahre dauern kann. Menschwerdung ist nicht ohne diese Konflikte zu haben. Ohne ein Ringen miteinander gibt es keine Reife. Nicht nur Wunden aus Rivalität und Streit, auch aus Liebe und Nähe wollen daher geheilt werden. Liebe ist nicht umsonst zu haben. Allein wer seinen intimsten Beziehungen bis zu einem gewissen Grad gegenübertreten kann, gewinnt tiefere Freiheit. Dabei kann der Mensch sein Inneres ein Stück mitformen.
Will der Mensch wachsen, ist er gezwungen, sich mit der Prägung aus Kindheit und Jugend wie auch mit all seinen Intimbeziehungen auseinanderzusetzen. Dieser Lernprozess gehört zu jeder Individuation. Kein Mensch kann sich ihm entziehen. Wer sich ihm verweigert, läuft in eine Lebenslüge hinein. Er wird von anderen gelebt. Er lebt sein eigenes Leben nicht. Psychische Krisen und körperliche Krankheiten sind die Folge.
Den Prozess der Individuation in der Gegenwart Gottes zu gehen und ihn spirituell auszurichten, ist das, was Jesuiten in den Exerzitien heute anbieten. Dabei gibt es keine Berührungsängste zwischen geistlicher Seelenführung und psychotherapeutischen Methoden. Bereits im Exerzitienbuch des Ignatius sind spirituelle, mentale und leibliche Übungen eng aufeinander bezogen. Für die Gegenwart hat zum Beispiel Monika Renz in ihrem Buch Erlösung aus Prägung eine Synthese aus psychologischen Erkenntnissen und der Botschaft Jesu geschaffen, um sich aus frühkindlicher und jugendlicher Verstrickung zu befreien. Sie beschreibt, wie die Urbefindlichkeit Angst zu einem brüchigen Vertrauen führe, das sich einers...

Inhaltsverzeichnis

  1. Freiheit kommt von innen
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Bibelzitat
  6. Gedicht
  7. Vorwort
  8. In die Welt geworfen
  9. Auf dem Weg
  10. Dem Geheimnis nahe
  11. Anhang I: Der vierwöchige Übungsweg
  12. Anhang II: Lebensdaten des Ignatius von Loyola
  13. Über den Autor