1. Kapitel:
Im Paradies, im Land zum Leben, gleich hinter Adamshoffnung
Irgendwann schlägt die Autobahn Richtung Hamburg einen Bogen nach links, nachdem sie sich teilte. Die eine Spur geht geradeaus Richtung Rostock. Auf der bleibe ich. Ich drehe nicht ab in den Westen. Ich fahre geradlinig weiter. Irgendwann taucht am Rand ein Schild auf: »Willkommen im Land zum Leben«. Die Landschaft beginnt sich leicht zu wellen, erntereife Felder und grüne Inseln säumen die Piste, alles überspannt von einem wolkenlosen Himmel. Vor einigen tausend Jahren zog dickes Eis darüber, beim Rückzug hinterließ es Hügel und Seen und Steine, die man Findlinge nennt. Die Gegend heißt Mecklenburgische Seenplatte. Hier machen andere Menschen Urlaub. Ich lebe hier.
Im Radio verrauschen die Berliner Sender, ihre Reichweite ist erschöpft. Auch akustisch verschwindet die Region, die ich Kampfgebiet nenne. Schon immer. In Berlin und Potsdam fanden seinerzeit heftige politische Auseinandersetzungen statt, später trug ich dort juristische Verfahren aus, in der brandenburgischen Landeshauptstadt führte ich eine Kanzlei. Die habe ich vor Jahren aufgegeben und an den Plauer See verlegt. Zu mir kommen jetzt die Mandanten. Ich muss sie nicht mehr suchen und zu ihnen gehen. Diesen Luxus weiß ich zu schätzen.
Ich weiß, dass die Mehrheit meiner Kollegen nicht in einer derart komfortablen Situation ist. Es gibt deren zu viele und wohl auch mehr Spreu denn Weizen. Mancher fährt Taxi, andere flüchten sich in ein politisches Mandat. Das sichert dem Einzelnen die Existenz, rettet aber nicht die Politik. Mehr als zwanzig Prozent der Bundestagsabgeordneten sind Juristen. Damit wird die kühne These, dass der Deutsche Bundestag der Spiegel der Gesellschaft sei, deutlich widerlegt. Leben vielleicht von den rund achtzig Millionen Bundesbürgern sechzehn Millionen etwa von der Juristerei? Es gibt, auch wenn’s erheblich weniger sind, von ihnen dennoch einfach zu viele – im Land wie im Parlament. Im Wald sorgt der Waidmann für das Gleichgewicht und gesunde Verhältnisse. Wer besorgt es in der Gesellschaft? Der Souverän, das Volk, an der Urne? Herrliche Einfalt!
Wenn die Politik als Gewerbe betrieben wird, dann gelten dort auch die Gesetze des Marktes. Nicht der Bessere setzt sich durch, sondern der Stärkere. Und worauf gründet sich diese Stärke? Wenn es allein Intelligenz und Rhetorik wären, würde zum Beispiel mein Freund Gregor – jaja, auch ein Jurist – nicht als Hinterbänkler sein Parteidasein fristen. Zählten allein ethisch-moralische Qualitäten, machten sie diese Stärke aus, blieben viele Reihen leer. Gewiss, mancher musste seinen Hut nehmen, weil er bei seiner Doktorarbeit geschummelt hatte, aber wie viele behaupten sich dennoch, obgleich sie Millionen und Milliarden durch den Schornstein schickten? Doch auch andere Schwachmaten und Moralprediger bleiben. Mithin: Die uns bekannten Regeln sind in der Politik verabschiedet, es gelten nicht einmal die Gesetze der natürlichen Auslese, würde ich als Jäger meinen. Ja, natürlich, es gibt unter den Politikern auch anständige und ehrliche, ich schlage sie nicht alle über einen Leisten, eine pauschale Verurteilung der Zunft, wie sie Mode geworden ist, geht mir gegen den Strich. Ich anerkenne, was gewürdigt werden muss, lobe, wer oder was Zustimmung verdient. Wenn die Anlässe selten sind, muss das nicht an mir liegen.
Im Kampfgebiet bin ich heute meist als Anwalt unterwegs. Und wenn Jahrestage anstehen, bei denen ich als Zeitzeuge gefragt bin. Der Kreis jener, die 1989/90 aufgrund der obwaltenden Umstände in die Politik gerieten oder in diese drängten, schrumpft von Jubiläum zu Jubiläum. Das ist nun einmal so. Damit schwindet aber auch die Zahl jener, die die Vergangenheit berichten und erklären können. Die Deutung wird Domäne von Historikern, die so unabhängig und frei im Urteil sind wie ein Astronaut nach dem Start der Rakete. Der Schriftsteller Stefan Heym, der mir freundschaftlich zugetan war, hinterließ ein wunderbares Werk, das er den »König David Bericht« nannte. Darin ist eine Kommission hochrangiger Staatsvertreter unablässig damit beschäftigt, den »Einen und Einzigen Wahren und Autoritativen, Historisch Genauen und Amtlich Anerkannten Bericht über den Erstaunlichen Aufstieg, das Gottesfürchtige Leben, sowie die Heroischen Taten und Wunderbaren Leistungen des David ben Jesse, Königs von Juda« zu erarbeiten. Natürlich war dies ein Gleichnis auf die insbesondere zu Lebzeiten Stalins übliche Praxis, die Geschichte so umzuschreiben und zu deuten, dass sie gleichsam als ein fortwährender Aufstieg und triumphaler Siegeszug des Einen erschien. Von dieser Neigung scheint keine Generation frei zu sein, wenn sie die Vergangenheit aufschreibt und interpretiert. Und die Expertise ist umso freier, wenn kein Zeuge mehr widerspricht, weil keiner mehr lebt, und die Geschichtsdeutung sich in Übereinstimmung mit den politisch gesetzten Bildern befindet.
Obgleich selbst ein Freund absoluter Aussagen, teile ich den Satz »Sieger schreiben Geschichte« nicht uneingeschränkt. Wäre es so, gäbe es keine Auseinandersetzung um die Geschichte. Wenn die »Sieger« das Feld so eindeutig beherrschten, würden sie nicht den Vorwurf des »Geschichtsrevisionismus« erheben können, vorzugsweise gerichtet an jene, die ihren Darstellungen widersprechen. Die Vorhaltung kann sanft geäußert werden, wie dies der Honecker-Biograf Martin Sabrow tut, indem von einer »schleichenden Entmachtung der Historikerzunft« durch Zeitzeugen spricht, oder direkter, wie es sein Kollege Wolfgang Kraushaar formulierte. Für den ist der Zeitzeuge der Feind des Historikers.
Ich reklamiere für mich Zeitzeugenschaft und bekenne mich zu solcher Feindschaft. Und ich bin auch ein Geschichtsrevisionist in dem Sinne, dass ich die seit dreißig Jahren überwiegend verbreiteten Bilder von der DDR zu revidieren oder zu differenzieren versuche. Wenn ich angerufen werde, erklingen statt des Klingeltons die ersten Takte der wunderbaren DDR-Nationalhymne. Natürlich ist das in den Ohren der meisten, die das hören, eine Provokation. Ich gebe zu: Auch darum habe ich diese Musik aufs Handy gespielt. Vornehmlich aber geschah das deshalb, um einige Dutzend Male am Tag daran erinnert zu werden, woher ich komme, was mich geprägt hat und wozu ich stehe. Das wirkt der Geschichtsvergessenheit – ein anderer Zug unserer Zeit – akustisch entgegen.
Ich war der letzte Innenminister der DDR und deren erster hieß Carl Steinhoff. Mein Vorgänger und Kollege, seit 1923 Sozialdemokrat, arbeitete zuvor als erster Ministerpräsident des Landes Brandenburg, ehe er unmittelbar nach Konstituierung der DDR am 7. Oktober 1949 nach Berlin gerufen wurde. Carl Steinhoff war ein linksliberaler Verwaltungsbeamter, den die Nazis mit Berufsverbot belegten und die Russen im Mai 1945 an die Spitze der brandenburgischen Nachkriegsverwaltung stellten. Vermutlich kannten sie ihn aus Ostpreußen, wo er in den frühen dreißiger Jahren tätig war. Bei den ersten demokratischen Wahlen im Oktober 1946 wurde Steinhoff der erste Ministerpräsident des Landes. Für sein Porträt, 1979 geschaffen vom Potsdamer Maler und Grafiker Kurt-Hermann Kühn, findet sich bis heute weder in der Staatskanzlei noch im Landtag ein Platz. (Überflüssig zu erwähnen, dass ich von Kühn ein Bild besitze.) Ein Ehrengrab für Steinhoff auf dem Friedhof in Wilhelmshorst bei Potsdam erlaube die Landessatzung nicht, wie es auf konkrete Nachfrage hieß … Dabei hat sich dieser MP um die deutsche Einheit wahrhaft verdient gemacht. Woher diese Ressentiments? Diese Vergessenheit? Auf der anderen Seite werden, angeblich um der historischen Gerechtigkeit willen, Jahr um Jahr Millionen ausgegeben, um die Schnipsel in der Stasi-Unterlagenbehörde zusammenzuleimen, nur um in Erfahrung zu bringen, wie der Speiseplan in der Betriebskantine in der Berliner Normannenstraße oder die Anweisung zum Entfernen von Hundescheiße an der Protokollstrecke ausschaute.
Nur zur Nachhilfe: Im Frühsommer 1947 lud der bayerische Ministerpräsident Hans Ehard alle deutschen Ministerpräsidenten nach München. Er wollte die – maßgeblich von den Großmächten forcierte – Spaltung Deutschlands aufhalten. Bayerns Ministerpräsident glaubte nämlich, dass es möglich sei, »durch diese Tagung den Weg zu ebnen für eine Zusammenarbeit aller Länder Deutschlands im Sinne wirtschaftlicher Einheit und künftiger politischer Zusammenfassung«. Aus dem Osten reisten fünf Ministerpräsidenten an, ihr Sprecher hieß Steinhoff. Die Franzosen untersagten zunächst die Teilnahme der in ihrer Besatzungszone regierenden Länderchefs, stimmten dann in letzter Minute jedoch zu und ließen sie nach München reisen. Gegen diese Konferenz war auch die SPD. Kurt Schumacher erklärte am 31. Mai 1947 in Frankfurt am Main vor Spitzenfunktionären, die Länderchefs, am wenigsten die der Ostzone, seien überhaupt nicht legitimiert, über politische Fragen zu reden. Wenn schon eine Konferenz stattfinden müsse, dann sollten in München allenfalls wirtschaftliche Detailfragen erörtert werden. Aus Furcht, die SPD-Ministerpräsidenten könnten mit dieser Ansage einen Rückzieher machen, machte Ehard einen Rückzieher und setzte ausschließlich die Behandlung wirtschaftlicher und sozialer Einzelfragen auf die Tagesordnung. Die ostdeutschen Ministerpräsidenten hingegen verständigten sich darauf, auf der Münchner Tagesordnung auch den Punkt unterzubringen: »Bildung einer deutschen Zentralverwaltung durch Verständigung der demokratischen deutschen Parteien und Gewerkschaften zur Schaffung eines deutschen Einheitsstaates«. Sofern dieser Antrag von den anderen Tagungsteilnehmern nicht akzeptiert werden würde, wollte man die Konferenz verlassen, sagten sich die fünf. Denn das war die aktuelle Gretchenfrage: Wie hältst du es mit der deutschen Einheit?
Es war – zur Erinnerung – zwei Jahre nach dem Ende des Krieges. Deutschland lag in Trümmern und litt extreme Not. Die vier Besatzungsmächte jedoch hatten begonnen, gegeneinander einen Kalten Krieg zu führen. In diesen wurden zunehmend die von ihnen besetzten Zonen eingebunden. Während also ganz offensichtlich die fünf Ministerpräsidenten der sowjetischen Besatzungszone einen deutschen Einheitsstaat wollten, verfolgten die anderen Besatzungsmächte in und mit ihren Zonen andere Pläne. Und so wurden auch die West-Ministerpräsidenten für die Konferenz gebrieft.
Folgerichtig kam es zum Eklat.
Ehards Stellvertreter, der SPD-Politiker Wilhelm Hoegner, schrieb 1959 in seinen Memoiren, der Vorschlag der Ostzonenvertreter »sei nicht unbescheiden gewesen«. Die meisten Konferenzteilnehmer hätten jedoch nicht über die deutsche Einheit sprechen wollen. Ja, warum wohl nicht?
Ein allgemeines Bekenntnis zur deutschen Einheit am Ende der Konferenz, das Ehard in Aussicht stellte, genügte den ostdeutschen Länderchefs nicht. Steinhoff schrieb zwanzig Jahre nach der Konferenz, dass ein »unverbindliches und abstraktes ›ausdrückliches‹ und feierliches Bekenntnis zur deutschen Einheit natürlich kein Ersatz für unseren konkreten Antrag« dargestellt habe. Er hätte sich nicht des Eindrucks erwehren können, dass es sich beim Streit um die Tagesordnung um ein »abgekartetes Spiel« gehandelt habe. »Wir fühlten uns hinters Licht geführt, hier wird mit gezinkten Karten gespielt.«
Drei Stunden nach Beginn der Konferenz verließen die ostdeutschen Politiker grußlos die Bayerische Staatskanzlei. »Nicht wenige aus dem Kreis der westdeutschen Delegierten atmeten auf«, erinnerte sich 1964 Reinhold Maier, der erste Ministerp...