Die große Freiheit ist es nicht geworden
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Die große Freiheit ist es nicht geworden

Was sich für die Ostdeutschen seit der Wende verschlechtert hat

  1. 256 Seiten
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Die große Freiheit ist es nicht geworden

Was sich für die Ostdeutschen seit der Wende verschlechtert hat

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Über dieses Buch

Was geschah nach dem Einigungsvertrag? Ostdeutschland in der AnalyseStets ein Medienthema: ein ernstes die politische Lage und die Lebensverhältnisse im Osten heute, ein heiteres die Erinnerungen an die DDR-Unterhaltungskunst, ein kurioses die zahllosen Eigentümlichkeiten im DDR-Alltag. Matthias Krauß hat sich mit allem, was Vergangenheit und Gegenwart auf DDR-Gebiet betrifft, gründlich befasst und versteht Nostalgie von Analyse zu trennen.In Euphorie wegen der Wiedervereinigung mag er nicht ausbrechen. Nach dem Einigungsvertrag wurde der Osten zum Armenhaus Deutschlands, das bis heute alimentiert werden muss, das hoch verschuldet ist und selbst nach der Konjunktur der vergangenen zehn Jahre wenig mehr als die Hälfte dessen erwirtschaftet, was es verbraucht. In den zehn Jahren vor der Wende wurden in Ostdeutschland mehr als eine Million Kinder mehr geboren als in den zehn Jahren danach. Das und der Wegzug der Jugend versetzte der Sozialstruktur Ostdeutschlands Schläge, von denen sie sich bis heute nicht erholt hat. Der Nachteil des "Ossis" vererbt sich auf seine Kinder, sie haben erwiesenermaßen geringere Chancen im Berufsleben als Gleichaltrige aus den alten Bundesländern. Die ausgezahlte Durchschnittsrente liegt unterhalb der gültigen Armutsgrenze. Die bedeutenden Massenmedien reagieren auf all dies - wenn überhaupt - relativierend, abstrakt oder formelhaft. Zweifelhafte Umfragen, die suggestiv den Optimismus trimmen, tragen zur Verdrossenheit und einem sich weiter verbreitenden Gefühl der Ungleichheit, der Ungerechtigkeit bei, das sich auch im Hass auf Migranten entlädt.Allgemein wird im Jubel- und Jubiläumsjahr 2019 an die Errungenschaften gedacht. Krauß fragt nach den Einbußen, die die DDR-Bürger hinnehmen mussten: bei Gleichstellung, Rechtsverhältnissen, auf Gebieten wie Gesundheit, Arbeit, Sozialverhalten, Bildung …

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783360501608
Die Deutschen leiden unter einer kollektiven ­Verfolgungspsychose, nicht, dass sie sich verfolgt fühlten, nein, sie verfolgen gern. Und sie schießen seit Jahrhunderten über das Ziel hinaus.
Als notorische Klassenbeste tendieren sie noch heute zur Übertreibung,
gerade wenn ihr moralisches Empfinden berührt ist.
Dann verrennen sie sich in Verfolgungsideen.
Gordon Alexander Craig, britischer Historiker
Hexe, Jude, Stasi-IM
Drei deutsche Verfolgungsphänomene im Vergleich –
zehn essenzielle Gemeinsamkeiten
»Wegjagen den Mann« – in seiner Einschätzung, die er dem Internet anvertraute, war ein beliebter, jovialer rbb-Fernsehjournalist kurz angebunden. Er bezog sich auf den Berliner LINKEN-Staatssekretär Andrej Holm. Dass der mit seiner »Stasi-Vergangenheit« kein Staatssekretär sein oder bleiben darf, versteht sich schließlich von selbst. Ebenfalls mehr als ein Vierteljahrhundert liegt die kurze IM-Tätigkeit eines hochrangigen brandenburgischen Gerichtsmediziners zurück, der bei seiner Überführung auf der Stelle entlassen wurde. Ein Kollege von mir rief in der Diskussion dieses Falles erregt, den müsse man erschießen. Dass ein bekannter Berliner Gedenkstätten-Direktor die Amtsübertragung an Holm eine »Zumutung« und ein fatales Signal nannte, wundert vielleicht nicht. Für eine hochrangige brandenburgische Behördenchefin ­waren diese Ereignisse Anlass, erneut die Entfristung der Stasi-Überprüfung zu fordern. Ist es ausreichend, hier die rhetorische Frage zu stellen: Was ist in diesem Land los? Welchen Weg hat es genommen und wird es künftig nehmen? Noch im April 1990 hatte der SPD-Pressedienst festgestellt, dass jeder DDR-Bürger, der für einen Nachrichtendienst seines Staates tätig war, rechtmäßig gehandelt hat. Ihm sei so zu begegnen wie Bürgern der BRD, die für den BND tätig gewesen seien.
Aus dem Amt gejagt wurden Holm und der Gerichtsmediziner nicht, weil sie in der Jugend einige Wochen lang mit der Stasi zu tun hatten. Sondern – das gilt jedenfalls für den Gerichtsmediziner – weil er das nicht angegeben hatte, auch auf mehrfache Nachfrage nicht. Natürlich ist das ziemlich pharisäerhaft, denn hätte er es angegeben, wäre er keine Sekunde länger Gerichtsmediziner geblieben. Also ist es am Ende doch diese V-Mann-Tätigkeit, die ihm zum Verhängnis wird. Bemerkenswert in beiden Fällen: Geurteilt und verdammt wurde von Menschen, die kein einziges Mal nach der Substanz, nach konkreten Umständen dessen fragen, was geschehen war. Also was die beiden eigentlich verbrochen haben sollen. Es läuft eine reine Mechanik ab.
Zweifellos echt, das heißt keineswegs gespielt, sind die bei diesem Thema ausbrechenden Gefühle. Es betrifft nicht Emotionen, die in einer sonst gerne »coolen« Welt versteckt werden, sondern auf die sich ihre Träger etwas zugutehalten. Es handelt sich also nicht einfach um die Haltung, wonach ein Missetäter eben abgeurteilt gehört und gut. Dort kann man in unserem Land und auch beim zitierten Fernsehjournalisten, bei der genannten Behörden­chefin und bei dem namentlich natürlich nicht genannten Kollegen eine rechtsstaatliche, menschliche und vielleicht sogar großzügige Grundhaltung voraussetzen. Alle drei wissen, es existieren Felder, auf denen sollte man ganz bewusst Emotionen nicht auch noch schüren. Das gilt nicht beim DDR-Staatssicherheit. Bei diesem Thema ist der Wutausbruch Bürgerpflicht. Hier fließt Herzblut. Natürlich hat der Kollege das mit dem Erschießen nicht wörtlich gemeint. Aber fällt ein solcher Satz einfach so?
Deshalb und weil die Protagonisten seit dreißig Jahren jegliche Debatte über die ethischen oder juristischen Grundlagen ihres endlosen Verfolgungsmarathons gegen einstige Mitarbeiter des DDR-Staatssicherheitsdienstes verweigern und weil ferner ein Grundeinverständnis vor allem in den wichtigsten Medien das alles stützt, bestätigt und beständig antreibt, muss der Blick ganz besonders darauf ruhen. Denn worauf man sich verlassen kann: Es ist mal wieder äußerst problematisch, worin sich die Deutschen mehrheitlich einig sind. Daher liegt es also auf der Hand, dieses Phänomen im gesellschaftlichen Leben Deutschlands mit früheren deutschen Verfolgungsaktionen zu vergleichen, Verfolgungen, die mit ähnlicher Inbrunst vonstatten gingen: mit der Hexen- wie auch mit der Judenverfolgung. Herauszuarbeiten wären dabei Ähnlichkeiten wie auch Unterschiede. Vor allem aber muss interessieren: Was ist hieran spezifisch deutsch?
Zwingend muss an dieser Stelle ein erklärendes Wort fallen, denn die geltenden bundesdeutschen Denk- und Untersuchungstabus sind berührt. Genauso wenig, wie in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren jemals die Verbrechen des Westens denen der DDR gegenübergestellt wurden – warum wohl nicht? –, gilt auch hier, dass sich im Bereich Hexe-Jude-Stasi-IM jeglicher Unter­suchungs­impuls verbietet und – dies als Ergebnis meiner Gespräche – dieser Versuch, ja diese Aufreihung allein schon, als geradezu obszön eingestuft wird. Ein Vergleich ist aber niemals für sich genommen falsch, dieses Verdikt kann allenfalls auf sein Ergebnis gemünzt sein. Es ist also keineswegs illegitim, bestürzende Parallelen herauszuarbeiten und gleichzeitig die völlige Verschiedenheit in ihren Auswirkungen herauszustellen. Zumal – dies sei als Ergebnis vorweggenommen – die sozialpsychologische Funktion der jeweiligen Verfolgung in allen drei Fällen die gleiche ist. Aus diesem Grund werden diese Parallelen in der Verfolgung von Hexen, Juden und Stasi-IMs nachfolgend zunächst einfach nur aufgezählt.
Alle drei verfolgten Gruppen werden beziehungsweise wurden (1.) nicht als Straftäter verfolgt, was sie ja auch nicht sind und übrigens auch in den Augen ihrer Verfolger nicht sind. Der Verfolgungsimpuls ist (2.) also in allen drei Fällen seinem Kern nach nicht strafrechtlicher, sondern moralischer Natur. In allen drei Fällen handelt es sich (3.) dem Selbstverständnis der Verfolger nach um den Kampf des Ur-Guten gegen das Ur-Böse, hier will sich das Gute im Sieg über das Böse bestätigen. Für alle drei Gruppen entwickelte der deutsche Staat (4.) ein Sonder-Recht mit dem Ziel der spezifischen Wehrlosmachung. Die Verfolgung findet (5.) unbeirrt statt, obwohl keine dieser drei Gruppen eine Gefahr für den Staat oder die Sozialität als solche darstellte oder auch nur die Absicht hatte, dies zu sein. Alle drei Verfolgungsaktionen sind (6.) ihrem Wesen nach Reinigungsaktionen, das deutsche Bedürfnis nach Reinheit und Reinigung findet hier in der Abrechnung mit dem Sündenbock Bestätigung, wobei Ost- und Westdeutschland unterschiedliche Reinigungsbedürfnisse verspüren. In der Auswirkung ist jede dieser drei Verfolgungsaktionen (7.) eine Warnung und Disziplinierung der Gesellschaft und dient als Ablenkung dazu, die Gesellschaft in ihren sonstigen Facetten weniger kritisch zu sehen. In allen drei betrachteten Fällen lohnt sich ferner (8.) die Verfolgung für die Verfolger auch finanziell. (Bei einer lediglich strafrechtlichen Verfolgung gibt es das nicht.) Jegliche Begnadigung ist (9.) sowohl bei Hexen als auch bei Juden und IMs vollkommen ausgeschlossen, Gnade und Barmherzigkeit dürfen bei derartig fundamentalen Abrechnungsritualen keine Chance bekommen, und darin sehen die Verfolger einen Wert. Und schließlich (10.) ist Deutschland in allen drei Fällen Quelle der Verbreitung dieserart Verfolgung im europäischen Umland gewesen.
Bevor wir in die Einzelheiten gehen, erkläre ich angesichts der zu erwartenden Reaktionen – nämlich dass ich die Hexenverfolgung, die Judenverfolgung und die IM-Verfolgung »gleichgesetzt hätte« – ausdrücklich: Nein, ich setze diese Dinge keineswegs gleich, die abgrundtiefen Unterschiede sind mir bewusst.
Halten wir zunächst diese Unterschiede fest: Es handelt sich beispielsweise um Verfolgungsphänomene völlig unterschiedlicher Dimension. Die Hexenverfolgung erstreckte sich auf die Jahrhunderte des Mittelalters, tastete sich aber gleichsam auch in die Neuzeit vor. Den Juden wurde in der Antike ihr angeblicher Hochmut zum Verhängnis, in den anderthalb Jahrtausenden der Kirchenherrschaft ihre »Schuld« am Kreuzestod des Rabbis Joshua, den die Griechen später Jesus Christus nannten. Die schrecklichste Ausprägung des Judenhasses fand in der Nazizeit mit der industriell betriebenen Vernichtung von sechs Millionen Juden statt. Was die zeitliche Länge und Auswirkungen auf Leib und Leben betrifft, sind diese deutschen Verfolgungsaktionen tatsächlich nicht vergleichbar. IMs der Staatssicherheit werden nicht auf Scheiterhaufen verbrannt oder in Vernichtungslagern vergast. Sie werden aus den Positionen geworfen, gedemütigt, öffentlich an den Pranger gestellt und gelegentlich in den Selbstmord getrieben. Und wenn ihre Kinder in der Schule zusammengeschlagen wurden, dann müssen »diese Leute«, einem einstigen sächsischen Justizminister zufolge »ein Stück weit damit leben«. Das ist als Unterschied zu werten, IMs werden nicht direkt getötet, aber man kann auch moralisch töten. Sie stehen, um ein Wort von Karl Kraus zu verwenden, am »desinfizierten Marterpfahl«. Das Vorgehen gegen sie beschränkte sich zunächst auf ihre Entfernung aus dem öffentlichen Dienst und ihre öffentliche Demütigung. Sie haben also – in etwa – das zu ertragen, was die Juden im Jahr 1933 ertragen mussten. Bemerkenswerter Unterschiede weiterhin: Es sind durchaus Handlungen, die den IMs zur Last gelegt werden, den Hexen wurden vermeintliche Handlungen unterstellt, bei der Verfolgung der Juden ging es in der Regel um überhaupt keine Handlungen.
Wenn das zu den Unterschieden gerechnet wird, dann mit gewichtiger Ergänzung: IMs werden endlos für Handlungen verfolgt, die keine Straftat darstellen. Es kann nicht verboten sein, den Geheimdienst seines Vaterlands zu unterstützen, zumal dies in allen westlichen Ländern mit Billigung der Behörden und Parlamente geschieht. Als Verfolgungsgrund dient das allein und ausschließlich, wenn es ein DDR-Bürger beging. Wollte man das Bild, das Deutschland heute an dieser Stelle bietet, auf das Mittelalter übertragen, dann entspräche es etwa der Situation, dass eine »Hexe« in Sachsen und Brandenburg verbrannt worden wäre, die in Bayern und Baden-Württemberg für das gleiche Delikt belohnt und gefeiert würde.
Was die Frage der Handlungen betrifft, müssten auch die Hexen einen Sonderstatus beanspruchen können. Sicherlich war es im Mittelalter verboten, »mit dem Satan Unzucht zu treiben«, Seuchen zu erzeugen, die Geburt missgebildeter Kinder zu veranlassen oder was sonst man diesen armen Frauen vorgeworfen hat. Diesen Anklagen lagen eben keine Handlungen zugrunde, sondern – wie erwähnt – vermeintliche Handlungen. Zu denen wären diese Frauen nicht einmal dann in der Lage gewesen, wenn sie es gewollt und beabsichtigt hätten – was wir heute wissen, wusste mit tödlicher Sicherheit ein Teil der damaligen Richter ebenfalls.
Die nazistische, mörderische Wut auf die Juden wurde nach 1945 in Westdeutschland durch eine verbreitete Juden-Anhimmelei ersetzt, aber die Juden sollten sich darüber nicht freuen. Denn kann das etwas anderes sein als die andere Seite der Medaille, auf deren Vorderseite der Antisemitismus steht? Was bleibt den Juden anderes übrig, als im kapitalistischen Lebenskampf ihre Gönner zu enttäuschen? Das ist der Humus, auf dem irgendwann wieder der deutsche Selbsthass gedeihen könnte – mit bekannten Folgen. Er existierte schon lange dieser deutsche Zwiespalt, von dessen Amplituden Ludwig Börne seine Ahnung übermittelte: Was sein Judentum betraf, klagte er genervt: »Der eine lobt mich dafür, der andere tadelt mich dafür. Aber alle denken daran!«
Somit gilt es, nach den festgestellten gleichgearteten Emotionsschüben als erste wesentliche inhaltliche Gemeinsamkeit festzuhalten: Hexen, Juden und Stasi-IM sind keine Straftäter, ihnen wurden beziehungsweise werden keine Straftaten zur Last gelegt, zumindest nicht im gewöhnlichen Sinne.
Den Geheimdienst seines Vaterlands zu unterstützen ist nicht strafbar, und wenn – übrigens zu Recht – auf die enorme Ausweitung und -dehnung der Apparatur der Staatssicherheit in der DDR hingewiesen wird, dann ist das wahr, aber eben dem einzelnen inoffiziellen Mitarbeiter nicht vorzuwerfen. Dergleichen Fragen hat sein Führungsoffizier mit ihm nicht diskutiert.
Natürlich wissen alle, dass eine endlose Verfolgung kein menschlicher Zustand ist, sondern ein teuflischer. Einwände gegen diese, dem Rechtsstaat Hohn sprechenden Aktionen werden dennoch mit jenem Gestus vom Tisch gefegt, mit dem Lessing im »Nathan« den christlichen Patriarchen ausstattete: Wie eine Maschine antwortete der auf alle Bedenken: »Egal, der Jude wird verbrannt.«
Die Juden wurden im Dritten Reich nicht verfolgt, weil sie Straftäter gewesen wären, sondern weil sie auf der Welt waren. Was die Nazis ihre Weltanschauung nannten, erklärte den »Arier« zum Repräsentanten des Heldisch-­Germanischen, zur allein kulturschöpfenden Rasse, andere Völker konnten nach diesen Vorstellungen äußerstenfalls »kulturtragend« sein, dem Juden aber wurde die Rolle des Zerstörers angedichtet und die, das Gegen- und Antiprinzip zum Menschen schlechthin zu sein. Alles sei durch »rassische Urelemente« bestimmt. Die gesamte Argumentationskette beruht auf dogmatischen Voraussetzungen, die jeglicher Nachprüfbarkeit entzogen sind.
Wenn festgehalten werden muss, dass Hexen, Juden und Stasi-IMs von den Verfolgern nicht als gewöhnliche Straftäter verfolgt wurden, dann muss es hier einen anderen Antrieb geben. Und der heißt in allen Fällen Moral mit mindestens religiösem Beigeschmack. Oder Religion mit moralischem Beigeschmack. Die Verfolger, die Jäger, fühlen sich moralisch inspiriert, das ist die zweite wesentliche Gemeinsamkeit dieser drei Verfolgungsphänomene. Das ist auch der Grund, weshalb die heutigen Verfolger die untersuchende oder auch nur prüfende Debatte verweigern, denn im moralisch-religiösen Bereich sind die letzten Dinge berührt, über die man nicht streiten kann oder will oder müsste. Erfüllt sind also die Merkmale der dogmatischen Voraussetzung.
Aber entsteht das von ungefähr? Nein, das hängt mit der dritten wesentlichen Gemeinsamkeit zusammen: Sowohl bei den Hexen als auch bei den Juden und den Stasi-IM sowieso findet etwas Größeres statt als das Bekämpfen von Abweichung von der gesellschaftlichen Norm. Es handelt sich in allen drei Fällen um das Zelebrieren des Kampfes Ur-Gut gegen Ur-Böse. An dieser Stelle gilt es, einem höheren Prinzip zum Sieg zu verhelfen. Und das ist es, was die Deutschen immer wieder nötig haben. Sie müssen kämpferisch auf der Seite der Guten und der Edlen stehen, koste es, was es wolle.
Im profanen juristischen Sinne liegt – wie gesehen – in allen drei betrachteten Fällen gegen diese Menschen nichts vor. Dass sie verfolgt werden müssen, ist eine Glaubensfrage. Die Verfolgungsgründe gegenüber den Hexen waren ein geistiges Abfallprodukt der Religion, ein blankes Hirnerzeugnis. Bezogen auf die Judenfeindschaft lässt Friedrich Wolf in seinem Drama »Professor Mamlock« den Nazi-Arzt Hellpach ganz deutlich sagen: Es handle sich um Dinge, um die sich juristisch oder intellektuell nicht streiten lasse, weil hier das »Blut« spreche.
Dass ein IM in schändlichster Weise seine Freunde, Kollegen und Verwandten bespitzelt haben soll, obwohl erwiesenermaßen die Mehrheit von ihnen damit überhaupt nicht befasst war, rettet ihn nicht. Sie dienten einem Staat, der keine Kriege vom Zaun brach und der eine glückliche Phase der deutschen Geschichte zeitlich abdeckte. Kein Staat der Welt war dem Zugriff feindlicher Geheimdienste in solchem Umfang ausgesetzt wie die DDR. Natürlich rechtfertigt das nicht alles und jeden Zug der Stasi. Aber der Staat, dem dieser Geheimdienst diente, war auf Gedeih und Verderb dazu gezwungen, sich zur Wehr zu setzen gegen Spionage, Sabotage, Abwerbung. Die DDR war Hauptbetätigungsbereich für den Bundesnachrichtendienst. Aus den seit 1972 über die DDR erschienenen Berichten von Amnesty International kann nicht auf einen »Unrechtsstaat« geschlossen werden, was auch die 1990 einsetzende juristische Aufarbeitung von DDR-Unrecht bestätigte. Und dennoch dieser Strudel. Mit dieser Verfolgung war Deutschland schon Jahrzehnte vor US-Präsident Trump im »postfaktischen Zeitalter« angekommen. Wenn das Recht nicht weiterbringt, hilft der Glaube über die Schwelle. Endlose Verfolgung funktioniert so nur, wenn sie sich gleichsam als Dienst an einer höheren Sache ausgeben kann.
An dieser Stelle wäre auch festzuhalten, dass es eben der Pfarrer Joachim Gauck und die Katechetin Marianne ­Birthler waren, die als Vorkämpfer des Verfolgungsprinzips und nicht des Versöhnungsprinzips antraten. Beide sind Erben der gnadenlosen Seite des Christentums. Damit stehen sie in einer Tradition. Und einmal mehr ist Otto von Bismarck gerechtfertigt mit seiner Grundhaltung, wonach Pfarrer in der Politik nichts zu suchen haben.
Die Hexen galten als Gehilfinnen des Teufels, die Juden als zerstörerische Urmacht, und ebenso ist der Endloskampf gegen die DDR-Staatssicherheit der Triumph des Guten, Idealen über die Verderbtheit schlechthin. Dafür gibt es ja Ämter, fragwürdige ideologische Behörden, die sich mit den »Folgen der kommunistischen Diktatur« befassen. Aber Ämter, die sich mit den katastrophalen Folgen der Demokratisierung befassen würden, gibt es nicht. Die aber würden tatsächlich gebraucht. Heute, dreißig Jahre nach der Wende, ist davon auszugehen, dass die damals begonnene Stasi-Verfolgung mehr Existenzen zerstört hat als die Stasi selbst. Man kann es getrost als Credo der deutschen Aufarbeitungsindustrie betrachten, dass sie die Grundwahrheiten nicht ans Licht bringen, sondern verdecken will: Menschliche Schlechtigkeit wurde durch die Wende nicht beendet oder auch nur verringert. Sie hat lediglich das Kostüm gewechselt.
Vierte Gemeinsamkeit: Da es in allen drei betrachteten Bereiche...

Inhaltsverzeichnis

  1. Impressum
  2. Über dieses Buch
  3. Die große Freiheit ist es nicht geworden
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. In eigener Sache
  6. Mehr vereinigt – weniger vereint
  7. »Missionen«, »Einsätze« – aber kein Krieg
  8. Ein altes Lied, ein schlechteres Lied
  9. Entleert, überfüllt, gespalten und prüde
  10. Mit Stalins freundlicher Genehmigung
  11. Von der Wiege bis zur Bahre
  12. Standort -Ostdeutschland
  13. Die kapitalistische Lektion
  14. Nicht nur die Wiesen und Felder …
  15. Bauboom und -Wohnungsnot
  16. Verschuldet bis über beide Ohren
  17. Schlechte Noten
  18. Rechtsstaat und Recht
  19. Um Epochen voraus
  20. Klassen per Gesetz
  21. Wieder eine Art Agnes
  22. Rentenlüge neuen Typs
  23. Von der Vielfalt zur Einfalt
  24. Die Phase im Rausch
  25. Das Kind und das Über-Kind
  26. Im Gleichschritt und im Laufschritt
  27. Hexe, Jude, Stasi-IM
  28. Zeitgeschichte als Problemfall
  29. Wenn am 13. August 1961 die Wende stattgefunden hätte