Traumasensitive Achtsamkeit
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Traumasensitive Achtsamkeit

Posttraumatischen Stress erkennen und vermindern | Sicherheit und Stabilität vermitteln | Mit 36 konkreten Modifikationen für die Praxis

  1. 324 Seiten
  2. German
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Traumasensitive Achtsamkeit

Posttraumatischen Stress erkennen und vermindern | Sicherheit und Stabilität vermitteln | Mit 36 konkreten Modifikationen für die Praxis

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Über dieses Buch

Die 5 Prinzipien traumasensitiver AchtsamkeitVon Grundschulen über MBSR-Kurse bis hin zu psychotherapeutischen Praxen - Achtsamkeitsmeditation hat sich in vielen Bereichen der Gesellschaft etabliert. Gleichzeitig ist Trauma eine Tatsache in unserem Leben: Fast jeder Mensch ist irgendwann einmal mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert. Das bedeutet, dass es überall dort, wo Achtsamkeit praktiziert wird, jemanden geben wird, der oder die mit Trauma zu kämpfen hat.David Treleaven ist Psychotherapeut und forscht seit vielen Jahren zu Achtsamkeit und Trauma. Auf dieser Basis formuliert er fünf Prinzipien, mit deren Hilfe Traumaüberlebende von der positiven Wirkung eines Achtsamkeitstrainings profitieren können. Er zeigt 36 spezifische Modifikationen für die Achtsamkeitspraxis, die dazu dienen, die Sicherheit und Stabilität von Traumaüberlebenden zu unterstützen.Ein wegweisender und praktischer Ansatz und eine enorm hilfreiche Lektüre für alle Achtsamkeitslehrenden und Traumatherapeuten.Stimmen zum Buch: "Eine seltene Mischung aus fundierter Wissenschaft, hilfreichen praktischen Anregungen und engagierter Fürsprache für all die Menschen, die Traumata erlitten haben."Rick Hanson, Autor von Das Gehirn eines Buddha

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Information

TEIL I
Grundlagen
traumasensitiver Achtsamkeit
KAPITEL 1
Die Allgegenwärtigkeit von Trauma:
sichtbare und unsichtbare Formen
Die Dinge verschlechtern sich nicht, sie werden aufgedeckt.
Wir müssen uns gegenseitig stützen und damit fortfahren, den Vorhang wegzuziehen.
Adrienne Maree Brown
Manchmal erleben wir Dinge, die unserem Bedürfnis nach Sicherheit, einer verlässlichen Ordnung, nach Berechenbarkeit und Rechtmäßigkeit so sehr zuwiderlaufen, dass wir damit nicht mehr fertigwerden – dass wir nicht mehr in der Lage sind, Dinge zu integrieren, und schlicht und einfach unfähig, so weiterzumachen wie bisher. Unfähig, die Realität zu ertragen. Diese Art von Erlebnissen, die uns zutiefst erschüttern, nennen wir Traumata. Niemand von uns ist gegen sie immun.
Stephen Cope
„Der Schaden, den ich erlitten habe, ist innerlich, unsichtbar. Ich trage ihn mit mir. Du hast mir meinen Wert genommen, meine Privatsphäre, meine Energie, meine Zeit, meine Sicherheit, meine Intimsphäre, mein Selbstvertrauen, meine eigene Stimme, bis heute.“
Diese Worte sagte eine 23-jährige Frau in einem Gerichtssaal in Kalifornien am 2. Juni 2016.11 Sie richteten sich vor der Urteilsverkündung an Brock Turner, einen Studenten der Stanford University, der in drei Anklagepunkten sexueller Nötigung vor Gericht stand. In der Nacht der Attacke war Turner – damals 19 und Mitglied des Stanford-Schwimmteams – von zwei ausländischen Studierenden gestellt worden. Sie waren Zeugen geworden, wie Turner eine halbnackte, bewusstlose Frau am Rande einer Campusparty angegriffen hatte – dieselbe Frau, die nun hier vor ihm im Gerichtssaal stand.
„Ich stand da und betrachtete meinen Körper unter dem Wasserstrahl“, führte die Frau ihre Erfahrungen in der Notaufnahme weiter aus, „und ich beschloss, dass ich meinen Körper nicht länger haben wollte. Er erschreckte mich … Ich wollte meinen Körper wie eine Jacke ablegen und ihn mit allem anderen im Krankenhaus zurücklassen.“
Turner konnte nicht wissen, dass das Statement, das man ihm da vorlas, in der folgenden Woche 14 Millionen Mal online abgerufen werden würde.12 Darüber hinaus wurde es live und ohne Unterbrechung 25 Minuten lang auf CNN vorgelesen. Die Menschen waren geschockt und verstört, als die Frau – deren Identität der Öffentlichkeit nicht bekannt ist – den seelischen Schiffbruch darlegte, den sie als Nachwirkung der Attacke erlitt: schlimmste Angstzustände, ein überwältigendes Gefühl der Scham und chronische Albträume von Übergriffen, ohne aufwachen zu können.
Ebenso schrecklich war für viele die milde Strafe, die Turner erhielt: sechs Monate in einem Bezirksgefängnis statt bis zu 14 Jahre in einem Staatsgefängnis. Der Richter, der über diesen Fall entschied, selbst ein Stanfordabsolvent, hatte die Befürchtung, dass ein längerer Gefängnisaufenthalt einen „schwerwiegenden Effekt“ auf Turner haben und sich negativ auf seine Olympiahoffnungen auswirken könnte – ein Thema, das während der Gerichtsverhandlung wiederholt aufkam. In einem Brief, in dem Turners Vater als Leumundszeuge auftrat, schrieb er, dass Brock zu hart für eine „20 minütige Tat“ bestraft würde und dass er „zuvor noch nie anderen gegenüber gewalttätig gewesen“ sei, und auch in der Nacht der Attacke sei er es nicht gewesen.13
Am Tag nach der Urteilsverkündung war ich mit meiner engsten Freundin in einem Café und beobachtete sie dabei, wie sie das Statement des Opfers las. Es war quälend, mit ansehen zu müssen, wie sie die Worte in sich aufnahm. Dies war eine Freundin, von der ich viel über Sexismus gelernt hatte, die mein Bewusstsein für die sozialen Normen, die sie als Frau zum Objekt herabwürdigen und Männer wie Turner schützen, erweitert hatte. Ich mochte diese Freundin sehr. Ihr dabei zusehen zu müssen, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, erfüllte mich mit einer Mischung aus Wut und Hilflosigkeit. Praktisch alle Frauen in meinem Leben – meine Freundin eingeschlossen – sind Opfer sexueller Gewalt geworden. Instinktiv verstand sie daher den inneren Aufruhr, die Flashbacks, die Isolation, die Turners Opfer beschrieb.
Später am gleichen Morgen erfuhren wir, dass ein vierter Polizeibeamter aus Baltimore für den Totschlag an Freddie Gray – einem 25 jährigen afro-amerikanischen Mann, der im vorausgegangenen Jahr in Polizeigewahrsam gestorben war – freigesprochen worden war.14 Es war einer aus einer Reihe von Vorfällen – Michael Brown in Ferguson, Missouri; Rekia Boyd in Chicago, Illinois; Tamir Rice in Cleveland, Ohio –, bei denen ein unbewaffneter schwarzer Mensch durch die Hand eines Polizisten gewaltsam zu Tode kam. Meine Freundin und ich hatten den Prozess in Teilen verfolgt, und wir waren ziemlich verzweifelt. Wir hätten beide gerne daran geglaubt, dass diese Fälle, von denen wir an diesem Tag gelesen hatten, Ausnahmen waren.
Aber sie waren es nicht. In den Vereinigten Staaten wird nahezu eine von fünf Frauen im Laufe ihres Lebens vergewaltigt15, und Schätzungen zufolge wird alle 28 Stunden ein schwarzer Mensch von der Polizei, Sicherheitspersonal oder durch vom Staat geduldete Bürgerwehren ermordet.16 An diesem Tag wurden wir lediglich an diese Tatsache erinnert, konfrontiert mit einer Form von traumatisierender Gewalt, die, obwohl sie so vielen vertraut ist, oft unterdrückt und außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung gehalten wird.17
An diesem Abend besuchten meine Freundin und ich eine Achtsamkeitsgruppe. Die Meditation half mir, mich von meinen Grübeleien freizumachen, Verbindung mit meinem Körper aufzunehmen und Empathie für mich selbst und für andere herzustellen. Mir als weißem, heterosexuellem Mann mit politischer Urteilsfähigkeit half Achtsamkeit dabei, meine Fähigkeit auszubauen, mich Formen unterdrückender Gewalt zuzuwenden, statt mich reflexartig von ihnen abzuwenden. Kurz nachdem wir zwei frei Plätze im Meditationsraum gefunden und es uns bequem gemacht hatten, erklang die Glocke, um die halbstündige Schweigemeditation einzuläuten. Meine Freundin griff nach meiner Hand und drückte sie leicht.
Nach der Hälfte der Zeit wurde es für meine Freundin schwierig. Ich merkte, wie sie neben mir unruhig wurde, und als ich meine Augen öffnete, sah ich, dass ihr Gesicht angespannt war und ihre Schultern zitterten. Einige Minuten später stand sie leise auf und ging.
Während der Pause fand ich sie zitternd in der Kälte. Sie war von Bildern der Gewalterfahrungen aus ihrer Vergangenheit überwältigt worden – Erinnerungen, die durch das Lesen der Schilderungen von Brock Turners Opfer an diesem Morgen ausgelöst worden waren. Ihre Herzfrequenz war während der Meditation hochgeschnellt, und das Gewahrsein ihres Pulses hatte ihre Anspannung nur noch intensiviert. Normalerweise war Meditation meiner Freundin eine Zuflucht, aber an diesem Abend hatte sie in ihr ein Gefühl des In-der-Falle-Sitzens ausgelöst, verbunden mit dem Gefühl, kurz vor einer Panikattacke zu stehen.
Als wir ins Foyer zurückgingen, trat eine Frau mittleren Alters zu uns. Sie machte sich Sorgen, denn sie hatte meine Freundin während der Meditation fortgehen sehen und wollte wissen, ob sie helfen konnte. Durch die freundliche Geste getröstet – und durch das Wissen, dass diese Frau über viel Meditationserfahrung verfügte –, beschloss meine Freundin, zu erzählen, was mit ihr während der Meditation geschehen war. Die Frau nicke empathisch, offensichtlich berührt von dem, was sie zu hören bekam. Nach ihrer Erfahrung, so sagte sie sanft, könne Meditation diese Form von Schmerz hervorrufen. Es sei keine Praxis für schwache Nerven. Aber sie war auch überzeugt, dass Durchhaltevermögen der Schlüssel zum Erfolg war. Wenn meine Freundin über genug Entschlusskraft verfügte, würde sich der eiserne Griff der Erinnerungen lösen. Die Frau war sich sicher – beruhend auf ihrer eigenen Erfahrung –, dass Achtsamkeit jeden Schmerz heilen konnte.
Meine Freundin und ich dankten ihr. Im Stillen jedoch hoffte ich, ich könnte ihre Überzeugung teilen.
TRAUMASENSITIVE ACHTSAMKEIT
Wenn Menschen erfahren, dass ich über Trauma und Achtsamkeit schreibe, erwarten sie oft, dass ich mich ausschließlich zu Möglichkeiten äußere, wie Achtsamkeit die Traumaheilung unterstützen kann. Tatsächlich kann sie das auch: Achtsamkeit kann das Bewusstsein für den gegenwärtigen Augenblick erhöhen, unser Selbstmitgefühl steigern und die Fähigkeit zur Selbstregulation bei Menschen, die von posttraumatischem Stress betroffen sind, verbessern.18,19 Achtsamkeit kann aber eben auch Probleme für Menschen schaffen, die mit traumatischem Stress zu kämpfen haben.20 Wenn wir jemanden, der ein Trauma erlitten hat, auffordern, seiner inneren Welt genaue und ausdauernde Aufmerksamkeit zu schenken, fordern wir ihn zum Kontakt mit traumatischen Stimuli auf – Gedanken, Bilder, Erinnerungen und physische Sinneseindrücke, die mit dem traumatischen Ereignis in Verbindung stehen. Dies kann, wie meine Freundin erfahren musste, Symptome von traumatischem Stress verstärken und intensivieren und in manchen Fällen sogar zu einer Retraumatisierung führen – einem Rückfall in einen zutiefst traumatisierten Zustand.
Dies wirft entscheidende Fragen für diejenigen von uns auf, die Achtsamkeitsübungen anleiten. Welche Verantwortung tragen wir Menschen gegenüber, die Trauma erleben? Ist ein gewisses Maß an Schmerz beim Üben von Achtsamkeit zu erwarten? Wie können wir wissen, ob ein Traumaüberlebender meditieren sollte oder eher nicht? Und wie können wir unsere eigenen Grenzen beim Verstehen der Traumata anderer Menschen zu einem Mittel machen, um diese Menschen bestmöglich zu unterstützen? Zusammengefasst: Wie können wir Achtsamkeitsübungen auf eine traumasensitive Art anbieten?
Ob traumasensitiv oder trauma-bedacht, in der Praxis bedeutet das, dass wir über ein grundsätzliches Verständnis von Trauma im Kontext unserer Arbeit verfügen müssen. Zum Beispiel kann ein traumabewusster Arzt Patienten um Erlaubnis bitten, bevor er sie berührt. Oder ein trauma-kundiger Schulpsychologe könnte einen Schüler fragen, ob er die Tür während der Sitzung lieber offen oder geschlossen halten möchte und sich nach einer angenehmen Sitzentfernung erkundigen. Mit trauma-kundiger Achtsamkeit wenden wir dieses Konzept in der Achtsamkeitsanleitung an. Wir verpflichten uns, Trauma zu erkennen, angemessen darauf zu reagieren und vorbeugende Schritte zu unternehmen, damit sich Menschen, die sich von uns anleiten lassen, nicht selbst retraumatisieren.21
Der Bedarf an traumasensitiver Achtsamkeit wird klar, wenn man einen Blick auf die Statistik wirft. Währen des letzten Jahrzehnts ist die Popularität von Achtsamkeit explosionsartig angestiegen.22 Sie wird heute an einer Vielzahl nicht-religiöser Orte angeboten, etwa an Grund- und weiterführenden Schulen, in Unternehmen und Krankenhäusern23. Eine Vielzahl an Workshops, Retreats, Konferenzen, Seminaren und Instituten bieten Achtsamkeitsübungen an. Bücher und Artikel zu diesem Thema haben den Markt geradezu überschwemmt24. Gleichzeitig ist Trauma sehr weitverbreitet. Die Mehrheit von uns – wie ich in Kürze detaillierter beschreiben werde – wird im Verlauf unseres Lebens mindestens einer Art von traumatischem Erlebnis ausgesetzt sein, und einige von uns werden in der Folge beeinträchtigende Symptome entwickeln. Wenn wir Ziel systemischer Unterdrückung sind25 – wie etwa jemand, der arm ist, der Arbeiterschicht entstammt, behindert, eine „Person of color“, Transgender oder eine Frau ist –, sind wir einer weitaus größeren Wahrscheinlichkeit ausgesetzt, im Laufe unseres Lebens zwischenmenschliches Trauma zu erfahren und jeden Tag unter traumatisierenden Umständen leben zu müssen.26
Dies bedeutet, dass, wo auch immer Achtsamkeit praktiziert wird, die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass jemand der Anwesenden mit traumatischem Stress zu kämpfen hat. Vom Schüler, der Zeuge häuslicher Gewalt wurde, bis zum älteren Menschen, der kürzlich seinen Partner durch einen Sturz verloren hat, Trauma wird oft präsent sein. Und obwohl nicht jeder, der ein Trauma erfahren hat, notwendigerweise negativ auf Achtsamkeit reagieren wird, müssen wir auf diese Eventualität vorbereitet sein.
Ich werde in jedem Kapitel ein Beispiel präsentieren, um das Konzept, das ich vorstelle, zu verdeutlichen. Jeder dieser Fälle wird sich aus Erfahrungen mit verschiedenen Menschen, mit denen ich gearbeitet habe, zusammensetzen, wobei jedoch alle identifizierenden Merkmale geändert wurden. Dies vorausgeschickt, lassen Sie mich RJ vorstellen – ein Schüler, der sich an der Schnittstelle von Meditation und traumatischem Stress wiederfand.
RJ: IN STILLE LEIDEN
RJs Magen verkrampfte sich, als der Achtsamkeitslehrer den Klassenraum betrat. Es war Dienstagnachmittag, und er hatte vergessen, dass dies die Unterrichtstunde war, in der die Meditationsübungen stattfanden. Ihm brach der Schweiß aus, und er sah sich im Klassenraum um, nur um seine Klassenkameraden entspannt und gut gelaunt vorzufinden – ein Anblick, der seine eigene Not noch verstärkte. Plötzlich fühlte er sich,
als müsste er sich übergeben.
Seit drei Wochen lernte RJ an seiner Schule Achtsamkeitsmeditation. Ursprünglich war er der Idee gegenüber sehr offen gewesen – dankbar für die willkommene Ablenkung vom regulären Unterricht. Allerdings empfand er die Praxis schnell als quälend. Während der Meditationsübungen überlagerte sich die Stimme seines Lehrers mit dem Geräusch seines Herzschlags. Er konnte sich nicht auf seinen Atem konzentrieren und bemerkte, dass er jede Meditation extrem aufgewühlt verließ und dieser Zustand für den Rest des Tages anhielt. Nachdem er um Erlaubnis gefragt hatte, der Stunde an diesem Nachmittag fernzubleiben, lief RJ zügig zu den Toiletten, schloss sich in einer der Kabinen ein und nahm sein Telefon heraus. Er hielt es nicht aus, von Menschen umgeben zu sein und musste flüchten, um sich beruhigen zu können.
Vor vier Monaten hatte RJ seine ältere Schwester Michelle durch einen Autounfall verloren. Sie war beim Joggen in der Nachbarschaft von einem Autofahrer erfasst worden, der übersehen hatte, dass sie bereits in die Kreuzung gelaufen war. RJ war nach dem Fußballtraining nach Hause gekommen, um seine Eltern, beide im Schockzustand, mit einem Polizisten am Tisch sitzend vorzufinden. Er erfuhr, dass Michelle seine neuen Kopfhörer getragen hatte – diese waren vermutlich der Grund dafür gewesen, dass sie das nahende Auto nicht gehört hatte. Er litt sehr darunter, sich für den Tod seiner Schwester verantwortlich zu fühlen, und für den Rest der Woche war ihm, als befände er sich im freien Fall.
Die folgenden Monate waren grauenvoll. Seine Lehrer sahen ihn oft allein im Flur sitzen, desolat und verloren. Die Essenspakete, die ihm seine trauernde Mutter für die Mittagspause mitgab, blieben unberührt27, RJ gab das Basketballtraining auf und begann die Schule zu schwänzen, um im nahegelegenen Park Drogen zu konsumieren. Darüber hinaus entwickelte er Albträume über den Unfall und bekam Panikattacken, sobald er Jogger in seiner Nachbarschaft sah. Emotional abwesend und taub, fühlte sich RJ gefangen in einem Vakuum zwischen seinem jetzigen Leben und dem Tag, an dem er seine Schwester verloren hatte.
Stille fiel RJ am schwersten. Nachts lag er wach in seinem Zimmer und wartete darauf, seine nach Hause kommende Schwester zu hören. Er erinnerte sich an die Art, wie sie ihren Schlüssel auf den Tisch gelegt hatte und dann leise zum Kühlschrank geschlichen war. In der Hoffnung, dass der Unfall nur ein Albtraum gewesen war, wartete er auf das Geräusch ihrer Schritte vor der Tür seines Zimmers. Aber sie kam nie mehr zurück.
Dies machte RJ die Achtsamkeitsmeditation unmöglich. Sobald er seine Augen schloss, fühlte er sich von der Stille und Dunkelheit überwältigt. Er versuchte seine Aufmerksamkeit auf seinen Atem zu konzentrieren,...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort von Willoughby Britton
  6. Einführung: Warum traumasensitive Achtsamkeit?
  7. Teil 1: Grundlagen traumasensitiver achtsamkeit
  8. Teil 2: Die fünf prinzipien traumasensitiver achtsamkeit
  9. Fazit: Trauma transformieren
  10. Dank
  11. Literaturverzeichnis
  12. Anmerkungen
  13. Über den Autor