1 | Eine klare Intention entwickeln |
Das unübertreffliche Bodhichitta |
Das erste Kapitel des Bodhicharyavatara ist ein ausführliches Loblied auf Bodhichitta. Shantideva beginnt mit etwas Positivem: Wir können mit dem Allerbesten in uns anfangen und anderen helfen, das Gleiche zu tun. Bodhichitta ist eine fundamentale menschliche Weisheit, die den Kummer der Welt vertreiben kann.
Bodhi heißt „erwacht“: frei von gewöhnlichem verwirrtem Denken, frei von der Illusion, dass wir voneinander getrennt seien. Chitta heißt „Herz“ oder „Geist“. Shantideva sowie dem Buddha, der vor ihm kam, zufolge liegt im unparteiischen Geist2 und im guten Herzen von Bodhi der Schlüssel zu Glück und Frieden.
Shantideva beginnt seine Unterweisung mit einer traditionellen vierteiligen Eröffnung. Zuerst drückt er seine Dankbarkeit und seinen Respekt aus. Zweitens verpflichtet er sich, seine Präsentation auch zu Ende zu bringen. Drittens bekennt er sich zur Demut, und in Strophe 3 ermuntert er zur Zuversicht. Dieser formelle Beginn war den Mönchen in Nalanda sehr vertraut, aber seine persönliche Note und seine Frische machten ihn einzigartig.
1.1
Vor denen, die im Glück verweilen, dem Dharma, den sie gemeistert haben, und vor all ihren Erben,
vor all denen, die Verehrung verdienen, verneige ich mich.
gemäß der Tradition will ich nun in Kürze beschreiben,
wie man in die Disziplin eines Bodhisattva eintritt.
Diese Anfangszeilen zollen den „Drei Juwelen“ Tribut: dem Buddha, dem Dharma und dem Sangha. In der klassischen Formel wird der historische Buddha als Beispiel oder Vorbild betrachtet. Der Dharma bezeichnet seine Lehre und der Sangha die praktizierenden Mönche und fortgeschrittenen Bodhisattvas. Shantideva vertieft hier jedoch unser Verständnis davon ein wenig.
Die, „die im Glück verweilen“ schließt natürlich die Buddhas ein, aber es bezieht sich auch auf unser Potential. Auch wir können uns von den Hoffnungen und Ängsten unserer Ichbezogenheit freimachen. Das Glück, die Wirklichkeit ohne diese Begrenzungen wahrzunehmen, ist unser Geburtsrecht. Somit verneigt sich Shantideva nicht vor irgendetwas außerhalb Liegendem, sondern vor seiner eigenen Fähigkeit zur Erleuchtung. Er verehrt diejenigen, die verwirklicht haben, was für uns alle möglich bleibt.
Der „Dharma, den sie gemeistert haben“, bezieht sich nicht nur auf schriftliche und mündliche Unterweisungen, sondern auch auf die Wahrheit direkter Erfahrung, auf das unmittelbare, unzensierte Leben, wie es ist. Was immer wir erleben – gut, schlecht, glücklich, traurig –, kann uns aus unserer Ichbezogenheit befreien. Wenn wir diese sich ständig bietenden Gelegenheiten nutzen, dann ist alles, was uns begegnet, Dharma.
„All ihre Erben“ bezieht sich auf den gereiften Sangha voll großer Vernunft3 und großem Mitgefühl, aber es schließt auch Bodhisattvas in spe ein. Jede(r) von uns, der bereit ist, die eigene Selbstherrlichkeit hintanzustellen und Wege zu finden, sich um andere zu kümmern, wird als Buddhas Erbe betrachtet.
Um seine Dankbarkeit auszudrücken, verneigt er sich zum Schluss vor den Lehrern und Freunden, die ihm auf seinem Weg geholfen haben.
Als zweiten Schritt in seiner traditionellen Eröffnung präsentiert Shantideva sein Thema und verpflichtet sich, es vollständig und ohne Unterbrechungen abzuhandeln. Außerdem will er das „gemäß der Tradition“ tun und präsentieren, was er vom Buddha, dem Dharma und dem Sangha und auch seinen anderen Lehrern gelernt und verstanden hat.
Die Kraft solcher Selbstverpflichtung ist kaum zu überschätzen. Bis wir uns definitiv entschließen, eine Aufgabe anzugehen und sie auch zu Ende zu bringen, ist immer Zögern und Zaudern im Spiel. Erinnern wir uns, dass Shantideva zu seinem Vortrag von Mönchen eingeladen worden war, die ihn demütigen wollten. In Anbetracht dieses Publikums war ihm wahrscheinlich ein wenig mulmig. Deshalb ruft er einen nicht vom Ego abhängigen Mut zu Hilfe, der sich nicht so leicht einschüchtern lässt, sondern nach vorn schaut.
1.2
Was ich zu sagen habe, ist alles schon einmal gesagt worden,
und ich bin nicht sehr gebildet oder rhetorisch gewandt.
Ich meine deshalb nicht, anderen damit nützen zu können;
ich schreibe es nur, um mein Verständnis zu stabilisieren.
Indem er eine Bescheidenheit beschwört, die gleichfalls traditionell ist, bringt Shantideva klar zum Ausdruck, dass er sich der Gefahr der Arroganz bewusst ist. Er weiß: Hätte er nur seinen Stolz im Kopf, würde es ihm nicht einmal etwas nützen, wenn der Buddha persönlich vor ihm säße.
Bescheidenheit sollte allerdings nicht mit mangelndem Selbstwertgefühl verwechselt werden. Wenn Shantideva sagt, er sei „nicht sehr gebildet oder rhetorisch gewandt“, dann ist das keine Selbsterniedrigung. Das mangelnde Selbstwertgefühl, das im Westen so weit verbreitet ist, beruht auf einer festen Vorstellung individueller Unfähigkeit. Shantideva ist fest entschlossen, solch einengenden Identitäten nicht in die Falle zu gehen. Er ist einfach bescheiden genug zu wissen, wo er selber nicht weiterkommt, und intelligent genug zu erkennen, dass er die Mittel zu seiner Befreiung selber besitzt.
In den letzten Versen dieser Strophe erläutert Shantideva, dass er dieses Werk ursprünglich zur persönlichen Ermutigung verfasst habe und sich nie hätte träumen lassen, es mit anderen zu teilen.
1.3
So wird meine Zuversicht für kurze Zeit gestärkt,
damit ich mich an diesen Pfad der Tugend gewöhne.
Wenn aber andere nun zufällig auf meine Worte stoßen,
mögen sie, vom Glück begünstigt wie ich, davon ebenfalls profitieren.
In Strophe 3 vervollständigt Shantideva die traditionelle Eröffnung, indem er Zuversicht weckt. Diesen Text zu verfassen und ihm gemäß zu leben macht ihm große Freude. Der Gedanke, dass nun auch andere von seiner Selbstreflexion profitieren könnten, macht ihn noch glücklicher.
In diesem Geist der Freude und Dankbarkeit beginnt Shantideva dann mit dem Hauptteil seiner Präsentation.
1.4
So schwer zu finden, diese Annehmlichkeiten, dieser Reichtum,
die uns helfen, dem Dasein als Mensch Sinn zu geben!
Wenn ich es jetzt nicht schaffe, daraus Nutzen zu ziehen,
wie soll ich jemals eine zweite Chance dazu bekommen?
Vom buddhistischen Standpunkt aus gesehen ist das menschliche Leben sehr wertvoll. Shantideva geht davon aus, dass wir den hohen Wert dieser vergleichsweise großen „Annehmlichkeiten“ und dieses „Reichtums“ verstehen. Er drängt uns, uns unsere gute Situation vor Augen zu führen und die Gelegenheit, etwas Sinnvolles mit dem Leben anzufangen, nicht zu verpassen.
Dieses Leben ist jedoch nur ein momentanes und dann wieder entschwindendes Fenster der Möglichkeiten. Keiner von uns weiß, was kommt. Während ich mit meinen Sangha-Brüdern und -Schwestern älter geworden bin, habe ich viele Freunde sterben sehen oder erlebt, wie sich ihre Gesundheit oder ihre seelische Stabilität dramatisch verschlechterte. Genau jetzt, im Moment, ist unsere Situation exzellent, auch wenn wir unser Leben bei weitem nicht als vollkommen empfinden. Wir sind intelligent, wir haben Lehrer und die Lehren zur Verfügung und zumindest eine gewisse Neigung, zu studieren und zu meditieren. Aber einige von uns werden sterben, noch bevor dieses Jahr um ist; und in den nächsten fünf Jahren werden einige von uns zu krank oder zu schmerzgeplagt sein, um sich auf einen buddhistischen Text zu konzentrieren, geschweige denn danach zu leben.
Außerdem werden viele von uns sich von weltlichen Angelegenheiten ablenken lassen – zwei, zehn, zwanzig Jahre lang oder den Rest des Lebens – und keinen Freiraum mehr haben, sich von den Zwängen der Ichbezogenheit freizumachen.
In der Zukunft könnten auch äußere Umstände wie Krieg oder Gewalt so allgegenwärtig werden, dass wir keine Zeit mehr haben, uns selbst ehrlich zu hinterfragen. Das könnte sehr leicht passieren. Oder wir gehen in die Bequemlichkeitsfalle: Wenn das Leben sehr angenehm, so luxuriös und behaglich ist, ist der Leidensdruck zu gering, um uns von weltlichen Ablenkungen abzubringen. Wir lassen uns selbstgefällig einlullen und werden gleichgültig gegenüber dem Leiden unserer Mitwesen.
Der Buddha versichert uns, dass unsere menschliche Geburt ideal ist, mit genau der richtigen Mischung aus Freude und Schmerz. Wichtig ist, dass wir diese günstige Gelegenheit nicht vertun.
1.5
Wie wenn ein Blitz das Dunkel der Nacht zerreißt
und in gleißendem Licht enthüllt, was düstere Wolken verbargen,
genauso steigen manchmal, durch die Macht der Buddhas,
heilsame Gedanken auf in der Welt, kurzlebig und flüchtig.
1.6
Sieh doch diese ohnmächtige Schwäche des Guten!
Gäbe es nicht das vollkommene Bodhichitta,
so könnte nichts auf der Welt der großen
und überwältigenden Macht des Bösen standhalten.
In Strophe 5 und 6 wird das anfängliche Aufschimmern von Bodhichitta als flüchtig und zerbrechlich geschildert. Normalerweise heißt es in den Mahayana-Lehren, dass die Neurose flüchtig und substanzlos ist, wie Wolken im klaren blauen Himmel. Wenn unsere Emotionen mit uns durchgehen, betrachten uns die Buddhas nicht als dumm oder als h...