Die Kunst, mit sich allein zu sein
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Die Kunst, mit sich allein zu sein

  1. 207 Seiten
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Die Kunst, mit sich allein zu sein

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

In seinem Buch dokumentiert Batchelor seine Erkundungen in Form einer literarischen Collage. Inspirierende Geschichten über Menschen, für die das Mit-sich-Alleinsein eine zentrale Bedeutung hatte, um ihre eigene Stimme, ihren Selbstausdruck zu finden, von Buddha bis Montaigne, von Vermeer bis Agnes Martin, mischen sich mit persönlichen Erzählungen. Er berichtet von seinen Erfahrungen an abgelegenen Orten, schildert, wie sich für ihn Mit-sich-Alleinsein in der Wahrnehmung und im Schaffen von Kunst ausdrückt. Und er beschreibt, wie ihn meditative Praxis aber auch die Einnahme psychoaktiver Substanzen zu einer tieferen Vertrautheit mit dieser Dimension unseres Menschseins geführt haben.Als Menschen sind wir immer und unausweichlich allein und mit anderen zutiefst verbunden. Dieses Spannungsfeld ist in unserer hyperverbundenen Welt, die gleichzeitig von sozialer Isolation geplagt ist, mehr als deutlich erfahrbar.Stephen Batchelors Buch bietet inspirierende Denkanstöße und Anregungen, wie wir in Frieden mit uns allein sein können und uns aus diesem Raum heraus kreativ und in empathischer Zugeneigtheit auf die Anderen, auf die Welt beziehen können.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783942085748
Die Kunst,
mit sich
allein zu sein
1
Selbst an langen Sommertagen im ländlichen England, wenn es nicht vor 22 Uhr dunkel wurde, bestand meine Mutter darauf, ihre zwei Söhne früh ins Bett zu schicken, was ich sowohl für unfair als auch für sinnlos hielt. Da ich nicht schlafen konnte, pflegte ich meine Augen zu schließen und mir vorzustellen, wie mein liegender Körper sich im Schlafanzug die Wände des Schlafzimmers hinauf und hinab bewegte, gegen die Decke glitt und dann an einem Punkt meiner Wahl verharrte. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass ich mich tatsächlich an diesen unmöglichen Orten befand und nicht in meinem Bett. Ich führte diese Manöver Abend für Abend durch. Ich habe sie sehr ernst genommen. Ich habe nie mit jemand darüber gesprochen, was ich tat. Es waren Übungen in reinem Mit-mir-Alleinsein.
Eine weitere Kontemplation während dieser schlaflosen Abende bestand darin, unbeirrbar bei einem Geschmack zu verweilen, der mir nicht von dieser Welt schien. Dieser Geschmack war weder angenehm noch unangenehm, nur völlig anders als alle Geschmäcker, die ich kannte. Er war mir zutiefst vertraut, obwohl ich keine Ahnung hatte, woher er kam. Jetzt kann ich gerade noch einen entfernten, mehr und mehr schwindenden Hauch davon wiederaufleben lassen.
Ich hatte immer wieder Träume vom Fliegen. Mit minimalem Aufwand schwebte ich dann durch die Luft, stieß hinab und stieg hinauf, wie ich wollte. Die Landschaften unter mir waren in Sonnenlicht getaucht, reich an Details und Farben. Als Träumender war mir bewusst, dass diese Träume realer waren als andere Träume. Sobald ein Flugtraum begann, frohlockte mein träumendes Selbst. Wieder wach erinnerte ich mich an diese Flüge mit der Sehnsucht eines Menschen, der in ein bleiernes Reich verbannt worden war.
Manchmal gab ich mir größte Mühe, mein Denken zum Stillstand zu bringen. Mein ständiges Scheitern dabei beunruhigte mich. Ich war machtlos gegenüber dem unerbittlichen Gedankenstrom, der sich fortwährend in mir ergoss. Oder ich verfolgte meinen Weg sorgfältig zurück durch die wachen Stunden des Tages auf der Suche nach Momenten, in denen ich frei von Sorgen gewesen war. Wenn ich mich für »glücklich« hielt, war ich mir stets eines blassen Schattens von Angst bewusst, der in der Nähe lauerte. Etwas konnte immer schiefgehen.
Dies waren meine ersten, naiven, nicht angeleiteten Versuche in dem, was ich heutzutage als Meditation bezeichnen würde. Durch die Erforschung der Texturen und Konturen meines Innenlebens gelang es mir, der Langeweile und Einsamkeit eines schlaflosen Kindes zu entkommen, und ich entdeckte die zufriedene Selbstgenügsamkeit des Mit-sich-Alleinseins. Thomas de Quincy sprach von »dieser inneren Welt, jener Welt geheimen Selbstbewusstseins, in der jeder von uns ein zweites Leben für sich und mit sich allein führt, parallel zu seinem anderen Leben, das er gemeinsam mit anderen führt«. In der Schule grübelte ich darüber, warum keiner der Lehrer die Existenz dieses inneren Lebens zur Kenntnis nahm, geschweige denn thematisierte. Erst als ich buddhistische Mönche traf, begegnete ich zum ersten Mal Menschen, die mit diesem Bereich vertraut waren und offen darüber sprachen, ohne Verlegenheit oder Zurückhaltung.
2
Nimm an, was du erkennst, und überquer die Fluten.
Der Weise ist nicht an Besitz gebunden –
Bleib wachsam, nachdem du den Pfeil herausgezogen –
sehn dich weder nach dieser noch nach der nächsten Welt.
VIER ACHTER, 1:8
Im Jahr 1570 verkaufte Michel de Montaigne im Alter von 37 Jahren sein Amt als Gerichtsrat in Bordeaux, das er dreizehn Jahre lang innegehabt hatte, um sich einem Leben in Abgeschiedenheit zu widmen. Er baute einen dreistöckigen Wehrturm auf seinem Gutshof in einen Rückzugsort um. Das Erdgeschoss diente als Kapelle, das Mittelgeschoss als sein Wohnbereich und das Obergeschoss als Bibliothek. Das Dachgeschoss über der Bibliothek beherbergte die Glocke des Anwesens. »Jeden Tag, bei Tagesanbruch und Sonnenuntergang«, schrieb er, »lässt eine große Glocke das Ave Maria erklingen. Dieses Getöse lässt meinen Turm erzittern.«
An einer Wand schrieb Montaigne seine Absicht auf: »mich zurückziehen und meinen Kopf in den Schoß der Weisen Jungfrauen legen, wo ich in Ruhe und Gleichmut den Rest meiner Tage verbringen werde.« Entbunden vom Druck eines öffentlichen Amtes wollte er sich der Freiheit, Beschaulichkeit und Muße widmen. Das war leichter gesagt als getan. »Der größte Dienst, den ich meinem Geist erweisen könnte«, hatte er gedacht, »wäre, ihn in völligem Nichtstun zu belassen, damit er sich um sich selbst kümmerte, sich zum Stillstand brächte und zur Ruhe käme.« Stattdessen
brachte er, wie ein entlaufenes Pferd, das durch den ganzen Ort galoppiert, seltsame fantastische Monster hervor, eins nach dem anderen, ohne Ordnung oder Plan.
Nicht in der Lage, mit diesen Turbulenzen umzugehen, verfiel Montaigne in eine tiefe Depression. Er zog sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf, indem er eine genaue Beobachtung und Analyse seines Innenlebens vornahm, die er in der Hoffnung niederschrieb, »meinen Geist dazu zu bringen, sich seiner selbst zu schämen«. Auf diese Weise begann seine Karriere als Philosoph und Essayist.
Der Tumult beschränkte sich nicht nur auf seinen Geist. Er tobte überall in seiner Umgebung. Acht Jahre zuvor, 1562, war in ganz Frankreich ein blutiger Bürgerkrieg zwischen Katholiken und Protestanten ausgebrochen. Die Provinz Guyenne, in der er lebte, war ein bedeutendes Zentrum dieser Religionskriege, die, mit Unterbrechungen, für den Rest seines Lebens wüten sollten. Im Laufe des ersten Jahres der Gewalt wurde die nahe gelegene Kirche von Montcaret durch katholische Truppen bei dem Versuch, sie von den Protestanten zurückzuerobern, zerstört. Die nur fünf Gehminuten von seinem Haus entfernte Kirche Saint Michel de Montaigne wurde bis auf die Grundmauern niedergebrannt. »Der Ort, an dem ich wohne«, schrieb er, »wird immer als Erstes und Letztes von unseren Wirren heimgesucht.« Er erzählt, dass er häufig zu Bett gegangen sei und sich dabei ausgemalt habe, er würde »noch in dieser Nacht verraten und zu Tode geprügelt « werden.
Während Montaignes ersten Sommers in seinem Turm initiierten König Karl IX und dessen Mutter, Katharina von Medici, das Bartholomäusnacht-Massaker. Aus Rache für den versuchten Mord am protestantischen Admiral de Coligny befahlen sie die Ermordung aller führenden Protestanten in Paris. Es kam zu Gewalttätigkeiten seitens des Mobs; Katholiken zogen randalierend durch die Straßen und griffen Protestanten an. Das Blutvergießen breitete sich auf zwölf weitere Städte Frankreichs aus, darunter auch Bordeaux. Rund zehntausend Protestanten wurden abgeschlachtet.
Montaigne räumte ein, dass er, wäre er jünger gewesen, hätte versucht sein können, »sich an den Wagnissen und Herausforderungen« der Reformation »zu beteiligen«. Inspiriert von Persönlichen wie dem christlichen Humanisten Erasmus, begrüßte er mit offenen Armen das Wiederaufleben der Vernunft und der klassischen Philosophie, das die Renaissance prägte. Sein engster Freund, Étienne de la Boétie, war der Autor der Abhandlung Von der freiwilligen Knechtschaft [Discours de la servitude volontaire] über das tyrannische Wesen von Regierungen. Auf Wunsch seines Vaters hatte Montaigne Das Buch der Geschöpfe [Theologia naturalis] übersetzt, ein lateinisches Werk des katalanischen Arztes und Philosophen Raimundus Sabundus aus dem 15. Jahrhundert. Sabundus plädierte für ein Gottesverständnis, das sich aus Beobachtungen der natürlichen Welt ableitet und so die Erfordernisse von Glauben und Vernunft, Religion und Wissenschaft in Einklang bringt.
Ein Jahr nach Ausbruch des Bürgerkriegs starb Étienne de la Boétie im Alter von 33 Jahren an der Ruhr. Montaigne war am Boden zerstört. Seine innige Verbundenheit mit Étienne war ein intellektueller und emotionaler Eckpfeiler seines Lebens. Er beschreibt ihre Freundschaft als eine, in der »Seelen miteinander vermischt und in so perfekter Verbindung miteinander verschmolzen sind, dass die Naht, die sie verbindet, sich aufgelöst hat und nicht mehr gefunden werden kann«. La Boétie vermachte seine Bücher Montaigne und diese bildeten das Herzstück der Bibliothek im Turm. La Boétie blieb für immer, stelle ich mir vor, der implizite Leser der Essais.
Um seines Freundes Andenken in Ehren zu halten, beabsichtigte Montaigne, Von der freiwilligen Knechtschaft in den ersten Band seiner Essais aufzunehmen. Er verwarf diese Idee jedoch, als er entdeckte, dass dieser Text bereits veröffentlicht worden war »zu einem üblen Zweck, von jenen, die versuchen, den Zustand unseres politischen Systems umzustürzen und zu verändern, ohne sich darum zu scheren, ob es zu einer Verbesserung führen wird«. Ein ähnliches Schicksal ereilte seine Übersetzung von Raimundus Sabundus’ Das Buch der Geschöpfe, die auch unter protestantischen Denkern Anklang gefunden hatte. Dies führte zu Montaignes längstem Essai, einem Mea culpa in Buchlänge mit dem Titel Apologie des Raimundus Sabundus [Apologie de Raimond Sebond], in dem er Sabundus’ Glauben an die erlösende Kraft der Vernunft zurückweist und durch eine Philosophie radikaler Unwissenheit und bedingungslosen Glaubens ersetzt.
Zehn Jahre lang studierte, sinnierte und schrieb er in seinem Turm. Die erste Ausgabe der Essais in zwei Bänden erschien 1580 in Bordeaux. Montaigne war da 48 Jahre alt. Wie es sich für einen treuen Seigneur gehörte, machte er sich unverzüglich auf den Weg nach Paris, um dem neuen König, Heinrich III., ein Exemplar zu überreichen. Nachdem er bei Hof einen guten Eindruck hinterlassen hatte, begab er sich auf eine Reise, die ihn durch die Schweiz, Deutschland, Österreich und weite Teile Italiens führte. Ende November kam er in Rom an.
Montaigne ging nach Rom, um sich als Nachfolger des scheidenden französischen Botschafters am Hof von Papst Gregor XIII. zur Verfügung zu stellen. Als Kammerherr des Königs von Frankreich, gläubiger Katholik, fließend Latein sprechender Gelehrter und inzwischen auch Philosoph und Literat, war er für diese Position gut geeignet. Da er ebenfalls ein Kammerherr des jungen protestantischen Königs Heinrich von Navarra war (der auch Gouverneur von Guyenne war und zweiter in der französischen Thronfolge), wäre Montaigne ein Verhandlungspartner von unschätzbarem Wert für die beiden Konfliktparteien in den Religionskriegen gewesen. Er mietete ein geräumiges möbliertes Zimmer an, besichtigte die historischen Stätten, hatte eine Audienz beim Papst und reichte die Essais bei den päpstlichen Behörden zur Genehmigung ein. Dann wartete er geduldig auf den Brief aus Paris, der über sein Schicksal entscheiden würde.
»Ehrgeiz«, hatte er in seinem Essai »Über die Einsamkeit« geschrieben, das in dem Buch enthalten ist, welches gerade im Apostolischen Palast einer genauen Überprüfung unterzogen wurde, »ist die Laune, die am stärksten im Widerspruch zum Rückzug steht. Ruhm und Ruhe können sich nicht dieselbe Behausung teilen.« Er kritisierte die römischen Staatsmänner Plinius und Cicero dafür, dass sie die Abgeschiedenheit als einen besonnenen Karriereschritt betrachteten, als ein Mittel, um andere mit ihrer Gelehrsamkeit und philosophischen Finesse zu beeindrucken. Diese Herren, stellte er fest, »haben lediglich ihre Arme und Beine außerhalb der Gesellschaft: ihre Seelen und Gedanken bleiben mehr denn je mit ihr beschäftigt. Sie sind nur einen Schritt zurückgetreten, um zu einem noch gewaltigeren Sprung anzusetzen.« Weltlicher Ruhm, erklärte er, »ist weit abseits meiner Überlegungen«.
3
Drei Monate nachdem ich Mönch geworden war, brach ich ins Vorgebirge des Himalaya hinter Dharamsala auf. Ich war 21 Jahre alt. Mein Rucksack enthielt einen Schlafsack, eine Bodenplane, ein Handtuch, einen Wasserkocher, eine Schale, einen Becher, zwei Bücher, einige Äpfel, Trockennahrung und einen Fünf-Liter-Kanister mit Wasser. Der Monsun war gerade zu Ende gegangen: Der Himmel war kristallklar, die Luft rein, das Laubwerk üppig. Nach drei oder vier Stunden verließ ich den ausgetretenen Fußweg und stieg auf Wildpfaden einen steilen, spärlich bewaldeten Hang hinauf, bis ich den durch Felsbrocken verborgenen und von Zweigen überdachten grasbewachsenen Felsvorsprung erreichte, den ich bei einem früheren Streifzug ausfindig gemacht hatte.
Inspiriert von Erzählungen über indische und tibetische Einsiedler wollte ich herausfinden, wie es ist, von jeglichem menschlichen Kontakt abgeschnitten zu sein, allein und schutzlos. Ich wollte so lange hierbleiben, wie meine spärlichen Nahrungs- und Wasservorräte dies zuließen. Niemand wusste, wo ich war. Wenn ich stürzen und mir ein Bein brechen, von einer Kobra gebissen oder von einem Bären zerfleischt würde, wäre es unwahrscheinlich, dass man mich fände. Hoch in diesem Horst konnte ich noch die fernen Hornstöße und die knirschenden Getriebe von Bussen und Lastwagen weiter unten hören, was ich als einen Affront empfand.
Ich wachte in meinem taubedeckten Schlafsack auf. Nach dem Pinkeln und Meditieren zündete ich ein Feuer an, kochte Wasser, bereitete Tee zu, mischte ihn dann mit geröstetem Gerstenmehl und Milchpulver, um daraus einen Teigklumpen zu formen. Das war Frühstück und Mittagessen – gemäß der Ordensregel aß ich abends nicht.
Zu meinen Meditationen gehörten die Sādhanās, in die ich eingeweiht worden war, wobei ich mich entweder als zornvollen, büffelköpfigen, phallischen Yamāntaka visualisierte oder als nackte, menstruierende, rote Göttin Vajrayoginī. Ich führte diese tantrischen Praktiken im Wechsel mit einer Stunde achtsamen »Fegens« durch meinen Körper von Kopf bis Fuß durch und nahm dabei mit großer Sorgfalt all die flüchtigen Empfindungen und Gefühle wahr, die ihn durchströmten. Wenn ich nicht aß oder meditierte, intonierte ich eine Übersetzung von Śāntidevas Kompendium des Übens, einer Sanskrit-Anthologie über Lehrreden des Mahāyāna-Buddhismus aus dem achten Jahrhundert, die ich in ihrer Gesamtheit zu rezitieren gelobt hatte, während ich hier oben war.
»Es gab nie zuvor einen Buddha«, erklärte der Text in seinem viktorianischen Englisch, »noch wird es ihn in der Zukunft geben, noch gibt es ihn jetzt, der jene höchste Weisheit erlangen könnte, während er im Leben eines Haushälters verbliebe. Dem Königtum entsagend, als wäre es Nasenschleim, sollte man im Wald leben, nur der Einsamkeit zugewandt … Wie die Kräuter und Sträucher, die Pflanzen und Bäume sich weder fürchten noch bange sind oder ängstlich zittern, so muss der Bodhisattva, der im Wald weilt, seinen Körper als den Kräutern und Sträuchern, Pflanzen und Bäumen gleich betrachten, wie Gehölz, wie Gips an einer Wand, wie eine Erscheinung …«
Das Kompendium des Übens enthält Anleitungen zur eigenständigen Umsetzung. Sobald der Mönch sich im Wald niedergelassen hat, soll er »das, was er zuvor gelesen hat, dreimal in der Nacht und dreimal am Tag rezitieren, und zwar in einer Tonlage, die nicht zu hoch und nicht zu tief ist, nicht mit unruhigen Sinnen, nicht mit umherwande...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Einleitung
  6. Die Kunst, mit sich allein zu sein
  7. Anhang
  8. Die Vier Achter
  9. Glossar
  10. Bibliografie
  11. Danksagungen
  12. Über den Autor