Original Mind - Anfängergeist und Bildung
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Original Mind - Anfängergeist und Bildung

Was wir aus der Entwicklung des kindlichen Gehirns lernen können

  1. 281 Seiten
  2. German
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Original Mind - Anfängergeist und Bildung

Was wir aus der Entwicklung des kindlichen Gehirns lernen können

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Über dieses Buch

Wie verändert sich unser Bewusstsein von unserer Geburt bis zu unserem Erwachsenenalter? Wie unterscheidet sich die Wahrnehmung der Naturvölker von der des modernen gebildeten Menschen? Die Neurowissenschaftlerin und Sonderpädagogin Dee Joy Coulter zeigt anhand faszinierender wissenschaftlicher Erkenntnisse, welch enorme Schätze der individuelle und kollektive "Anfängergeist" birgt. Sie führt ihre Leser unterhaltsam und leicht verständlich zu einer neuen Sicht auf die Entwicklung des menschlichen Geistes und fächert gleichzeitig eine Fülle von Anregungen für die pädagogische Begleitung von Kindern und für die Erweiterung des Lern- und Wahrnehmungsvermögens von Erwachsenen auf.

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Information

1. ZURÜCK ZUM ANFÄNGERGEIST
Ist euer Geist leer, so ist er für alles bereit,
ist für alles offen.
Der Anfängergeist hat viele Möglichkeiten,
der des Experten nur wenige.
Shunryu Suzuki
Zen-Geist, Anfänger-Geist
Unser Weg beginnt mit einer großen Herausforderung. Wir müssen alles, was wir wissen, beiseite stellen, um die Welt so unbefangen wie ein Neugeborenes zu erfahren. Wir neigen dazu zu sehen, was wir zu sehen erwarten. Wir machen eine Art Bestandsaufnahme, indem wir die Elemente in unserer Umgebung erkennen und im Stillen benennen. Unser Geist liebt Ordnung, und dieses Benennen schenkt uns eine gewisse Geborgenheit. Besonders kreative Denker sind jedoch fähig, auch das zu sehen, was sie nicht benennen können, mit einem frischen Blick, der auch Verwirrendes wahrnimmt und die Verblüffung genießt, die daraus entsteht. Diese Ungewissheit ist ein idealer Nährboden für neue Ideen. Solche Menschen haben den unbefangenen Blick eines Neugeborenen wieder gefunden.
Wir können das auch lernen. Genauer gesagt ist es ein Prozess des Verlernens, bei dem wir müssen zunächst das Benennen der Dinge weglassen, um sie ohne das innere Geplapper wahrzunehmen. Dann gilt es, auch die Assoziationen abzulegen, die von der Wahrnehmung ausgelöst werden, um den reinen Sinneseindruck zurückzugewinnen, der allem Wissen vorausgeht.
Diese reinen Sinneseindrücke können sich nur in Augenblicken zeigen, in denen wir der Welt ganz frisch und neu begegnen.
Wir beginnen dieses Kapitel mit einer Begegnung mit einem praktizierenden Mönch. Dann werden wir schauen, was wir von Säuglingen und von ehemals Blinden lernen können, die nach einer Operation zum ersten Mal sehen. Wir werden das Kapitel mit Ideen, Geschichten und Übungen beschließen, die Ihnen helfen, selbst auf diese unglaublich wertvolle Weise frisch und neu die Welt zu sehen.
ZHANGI ZHINGI
1993 lehrte ich bereits seit zehn Jahren an der Naropa Universität in Boulder, Colorado. Diese buddhistisch inspirierte Universität wurde von Chögyam Trungpa Rinpoche gegründet, einem tibetischen Mönch, der eine Hauptrolle dabei spielte, den Buddhismus in den Westen zu bringen. Es begann sich ein Interesse für die Zusammenhänge zwischen buddhistischem Gedankengut und neurologischen Erkenntnissen zu entwickeln. Die in diesem Jahr zum sechsten Mal stattfindenden Mind and Life-Dialoge zwischen Wissenschaftlern, Mönchen und seiner Heiligkeit des Dalai Lama hatten einen jungen tibetischen Mönch für einen kurzen Besuch nach Boulder geführt. Er wollte etwas über den menschlichen Geist wissen, und da ich zu dieser Zeit den besten neurologischen Hintergrund hatte, wurde ich zu einem Gespräch mit ihm gebeten.
Nach einer kurzen Begrüßung durch seinen Übersetzer wurde ich aufgefordert, mich neben ihn zu setzen, damit er mir seine Frage stellen konnte. Er sprach auf Tibetisch, wandte den Kopf ab und schaute dabei quer durch den leeren Raum auf ein imaginäres Objekt. »Ich schaue.« Er hielt kurz inne und fuhr dann fort: »Ich sehe eine Blume. Erstes Mal. Was passiert?« Ich begann zu erklären, wie die Information von den Augen zum visuellen Cortex übertragen wird, doch als der Übersetzer meine Worte weitergab, wurde schnell deutlich, dass es ihm in seiner Frage nicht darum ging.
Der Mönch unterbrach ihn, schüttelte den Kopf und versuchte es aufs Neue. »Ich schaue.« Pause. »Ich sehe eine Blume. Erstes Mal.« Er bewegte den Kopf wie zuvor, doch dieses Mal fuhr er fort, indem er den Kopf nochmal in derselben Weise bewegte und wiederholte: »Ich schaue« Pause. »Ich sehe eine Blume. Erstes Mal. Was passiert?« Ich war verblüfft! (Ich werde noch auf die verschiedenen Dinge eingehen, die mir in diesem Augenblick klar wurden, aber ich will zunächst die Geschichte fertig erzählen.)
Er erklärte mir, dass, wenn er auf eine Blume schaut, sie zuerst nicht sieht, und sie erst dann Form annimmt. Er schien sich dessen bewusst zu sein, dass sein Geist aus den Lichtwellen, die von der Blume ausgehen, ein Signal bildet. In der Wissenschaft nennen wir das feature binding. (= Die Integration von Einzelmerkmalen eines wahrgenommenen Objekts zu einer kohärenten Gestalt.) Jeder von uns tut es, aber es passiert so schnell, dass uns in der Regel dieser Prozess überhaupt nicht bewusst ist. Ich dachte, er würde vielleicht wissen wollen, wie dieser Strukturierungsprozess erfolgt, also erklärte ich, wie das Gehirn diese Signale aus der allgemeinen neurologischen Reizflut herausfiltert. Die Zellen plappern sozusagen ständig vor sich hin, doch wenn sich eine Gruppe von ihnen in Reaktion auf einen bestimmten Reiz zusammenschließt, entsteht ein Signal, welches diesen »Hintergrundlärm« übertönt. Dieses Signal besteht aus kohärenten Informationen, es bildet ein bestimmtes Wellenmuster, welches sich von dem Geplapper abhebt. Dieses neurologische »Geplapper« bildet eine Art chaotischen Hintergrund, vor dem selbst das zarteste kohärente Signal deutlich herausragt.
Diese Erklärung gefiel ihm offensichtlich. Er schaute mich aufmerksam an, während der Übersetzer ihm meine Worte vermittelte. Doch bei dem Wort chaotisch blieb der Übersetzer stecken. Es schien kein tibetisches Wort dafür zu geben. Dem Mönch war klar, dass dieses Wort von zentraler Bedeutung war. Nach einer Weile sagte er erfreut: »Ah, Zhangi Zhingi, Zhangi Zhingi.«
»Ja«, antwortete ich, in dem festen Glauben, dass Worte mit so vielen Z bestimmt irgendwie das Chaos beschreiben. Damit war das Interview zu Ende. Man dankte mir und verabschiedete mich.
Vier Jahre später saß ich bei einem Retreat der Naropa Fakultät neben Sarah Harding, einer hervorragenden Gelehrten und Kennerin der tibetischen Sprache, und erzählte ihr diese Geschichte. »Was bedeutet ›Zhangi, Zhingi‹?«, fragte ich sie.
»Es bedeutet ›verfilztes Haar‹«, erklärte sie.
Was für ein passendes Bild für Chaos! Und was für eine wunderbare Frage, die er gestellt hatte! An ihr wird deutlich, wie sehr sich sein durch jahrelange Meditation geschulter Geist von den Begrenzungen des westlichen Denkens unterscheidet, die ihm merkwürdig erschienen sein müssen. Der westlich konditionierte Geist lässt gewöhnlich nicht zu, dass sich Bilder auflösen. Er arbeitet hart daran, sich ein verständliches Weltbild aufzubauen, und hängt an dem Wissen und der Fachkenntnis, die er sich erworben hat. So werden die Bilder festgeschrieben, und eine Blume wird beim zweiten Blick automatisch als dieselbe Blume eingeordnet.
Diese Geschichte wirft zwei wichtige Fragen auf. Wenn der Mönch zuerst keine Blume sieht, was sieht er dann, bevor das Bild der Blume auftaucht? Und zum Zweiten: Wie kann er das Bild der Blume auslöschen, um die Blume beim zweiten Mal wieder »zum ersten Mal« zu sehen? Merken Sie sich diese zwei Fragen bitte, während Sie weiterlesen. Sie gehören zu dem Muster, welches ich erkannte, als ich die Frage des Mönches verstanden hatte.
Diese Geschichte beschreibt eine relative hohe geistige Kompetenz. Doch Sie können ganz einfach anfangen, diese Perspektive einzuüben. Unterbrechen Sie ein bis zwei Mal am Tag ihre gewohnten Aktivitäten und verändern Sie Ihren Fokus. Probieren Sie, einen Moment lang einfach das Licht, die Farben und die Bewegungen um sich herum wahrzunehmen, bevor die Stimme in Ihrem Kopf anfängt, das Gesehene zu benennen. Vielleicht denken Sie jetzt, Sie müssten dafür einen Spaziergang in der Natur machen, doch es geht genauso gut im Supermarkt, im Büro oder in Ihrer Wohnung. Diese isolierten Sinneseindrücke bieten sich überall an! Die folgenden Abschnitte werden Ihnen helfen, diese Fähigkeit zurückzugewinnen.
SEHEN WIE EIN SÄUGLING
Betrachte Dinge, wie es ein Säugling tut, ohne Vorwissen … lass diese Sicht in dich einsinken
und erfahre sie ganz und gar,
ohne zu verstehen.
Murshid Fazal Inayat-Khan
bedeutender Sufi-Lehrer, ehemaliger Leiter der internationalen Sufi-Bewegung
Säuglinge sehen die Dinge nicht, wie wir sie kennen, sondern die Bewegungsspuren, die sie hinterlassen. Vor allem biologische Bewegungsspuren sind faszinierend für sie. Woher wir das wissen? Ein paar clevere Forscher haben folgendes geniale Experiment durchgeführt: Sie haben eine Person ganz in Schwarz gekleidet, ihr auch Gesicht und Hände geschwärzt und an den wichtigsten Gelenken – Ellenbogen, Handgelenke, Schultern, Hüften und so weiter – kleine LED-Leuchten befestigt. Dann haben sie gefilmt, wie sich diese Person vor einem schwarzen Hintergrund durch einen abgedunkelten Raum bewegt. Den Film, auf dem nur die Bewegungsspuren der Gelenke zu sehen waren, führten sie Säuglingen vor. Die Babys liebten es offenbar, diesen Film zu sehen, denn sie schauten lange Zeit unverwandt hin. Dann veränderten die Forscher den Film ein wenig, indem sie die Bewegungsspur eines Ellenbogenlichts so veränderten, dass sie unzusammenhängend vor- und zurücksprang. Die Babys waren von diesem Anblick offenkundig verstört und wandten schnell den Blick ab. Der veränderte Film brach mit dem natürlichen Fluss menschlicher Bewegungsspuren. Die Säuglinge konnten das offenbar wahrnehmen, obwohl auf den Bildern kein Mensch zu sehen war. Aus dem Hinschauen oder Abwenden des Blicks ziehen die Forscher Rückschlüsse darüber, was Säuglingen angenehm oder unangenehm ist.
Auch die Reaktion eines Säuglings auf Schönheit hat vielleicht nicht mit dem zu tun, was wir auf einem Bild wahrnehmen. Forscher baten eine Gruppe von College-Studenten, aus je einhundert Fotos von Studentinnen und Studenten jeweils die zehn attraktivsten und die zehn unattraktivsten herauszusuchen. Dann zeigten sie diese Bilder nacheinander einer großen Anzahl von sechs Wochen alten Babys. Bei jenen, die von den Studenten als attraktiv eingestuft worden waren, schauten die Babys lange hin, und bei den unattraktiven wandten sie den Blick ab oder zeigten Anzeichen von Unbehagen. Porträtmaler sagen, der Unterschied zwischen einem als schön und einem als hässlich empfundenen Gesicht sei vor allem eine Frage der Proportionen. Wenn ein Aspekt nur ein wenig verändert wird, kann ein Gesicht plötzlich seine Schönheit verlieren, als ob es eine mathematische Formel oder eine Schablone für »schöne Gesichter« gäbe. Was sahen diese Kinder also? Babys lernen rasch, das Gesicht ihrer Mutter zu erkennen, doch sie brauchen Monate, um andere Gesichter so weit zu fokussieren, dass sie sie erkennen können. Die Kinder in dieser Studie waren dafür noch zu jung, sie haben also keine Gesichter in unserem Sinne gesehen. Ihre Reaktion scheint vielmehr von der Harmonie oder Disharmonie der Proportionen abzuhängen.
Mit unserem bewussten Verstand können wir diese Bewegungsspuren nur noch schwer wahrnehmen. Woran das liegt? Als kleine Kinder waren wir von den Bewegungsspuren um uns herum fasziniert und verbrachten unsere gesamte wache Zeit damit, verschiedenen Kombinationen von Sinneswahrnehmungen nachzuspüren. Allmählich lernten wir, die Dinge hinter diesen Bewegungsspuren zu erkennen. Wir lernten, wie sie klingen, wie sie sich anfühlen, wie sie aussehen, vielleicht auch wie sie schmecken und riechen. Unser Gehirn hat ein neuronales Programm entwickelt, um Bewegungsspuren und Wellen in Dinge zu übersetzen. Wenn wir im Alter von etwa sechs Jahren in die Schule kommen, übersetzt das Gehirn diese Wellen bereits so schnell in Dinge, dass wir diese Vorstufe nicht mehr bemerken. Das stellt uns vor ein Rätsel. Wie können wir wissen, was unsere Augen sehen würden, wenn unser Gehirn kein derartiges Übersetzungsprogramm entwickelt hätte?
Vielleicht können uns die Erfahrungen jener besonderen Menschen weiterhelfen, die erst als Jugendliche oder Erwachsene sehen lernten. Viele von ihnen haben davon berichtet, was ihre Augen wahrnahmen, als sie zum ersten Mal etwas sahen und versuchten, der Welt einen visuellen Sinn abzugewinnen. Sie beschreiben eine faszinierende Erfahrung.
Wenn ihnen der Verband abgenommen wurde, sahen sie zunächst kein Gesicht, das sie begrüßte. Wenn sie in Richtung der vertrauten Stimme schauten, zeigte sich etwas Verschwommenes. Wochenlang fesselte sie vor allem der Farbeindruck, denn darauf waren sie durch Berührung und Hören nicht vorbereitet. Manchmal waren sie von der Flut der visuellen Stimulation, dieser verwirrenden Mischung aus Licht, Farbe und Bewegung, schier überwältigt. Es ist offenbar ziemlich schwierig, das Ertastete in Sichtbares zu übersetzen. Das Erspüren der Form eines Elefantes ist offenbar keine ausreichende Vorbereitung auf den Anblick einer ganzen Elefantenstatue. Ihr Verstand hatte sich daran gewöhnt, die Dinge in zeitlich versetzten Teilabschnitten zu erfassen. Das Sehen ermöglichte es ihnen, alle Teile gleichzeitig räumlich wahrzunehmen. Doch wenn sie mühsam gelernt hatten, den Elefanten allein durch das Sehen zu erkennen und sich die Statue dann aus einem anderen Blickwinkel zeigte, war es wieder ein völlig neuer, unbekannter Eindruck. Ihr Gehirn hatten noch kein visuelles Programm entwickelt, die Drehung von Dingen spontan nachzuvollziehen.
Auch konnten sie räumliche Tiefe nur wahrnehmen, wenn sich etwas bewegte. Bis dahin hatten sie Entfernungen immer an der Größe eines Objektes gemessen. Treppenstufen erschienen ihnen zunächst als flache Oberfläche mit Streifen. Eine Person beschrieb, wie sie sich mit Hilfe innerlich gezogener Linien und Pfade zwischen den Zimmern und den wichtigsten Möbelstücken durch ihre Wohnung bewegte. Wenn sie diese Pfade verließ, verlor sie leicht die Orientierung. Die visuelle Welt dieser Menschen war zunächst völlig von Farben, Licht und Bewegungen dominiert. Nur mit viel Übung lernten sie, diese Eindrücke zu verbinden und somit Dinge zu erkennen. Die Übungen in diesen ersten zwei Kapiteln können Ihnen helfen, wieder auf diese ursprüngliche Weise Wellen und Bewegungen wahrzunehmen. Die erste Übung ist, aufmerksam sehr kleine Kinder zu beobachten. Bemerken Sie, wie oft sie sich mehr für Licht, Geräusche, Bewegungen und Luftzüge interessieren als für die Dinge um sich herum.
Solche Übungen sind in diesem ganzen Buch verteilt. Manche sind am Ende eines Abschnitts deutlich gekennzeichnet, andere sind im Text eingestreut. Bestimmte Kapitel, wie zum Beispiel das sechste, sind vollgepackt mit solchen Anregungen.
LERNEN, SICH ANZUGLEICHEN
Ein Kind ging hin, Tag um Tag,
und wurde zu dem ersten Ding, was es erblickte.
Und dieses Ding wurde Teil von ihm,
für jenen Tag oder einen Teil des Tages.
Oder für viele Jahre oder über ganze Zyklen von Jahren hinweg.
Walt Whitman
Leaves of Grass
Wenn Sie üben, die Welt mit frischem, unverstelltem Blick zu betrachten, bemerken Sie vielleicht, wie Sie mit dem Geschauten manchmal eins werden. Das ist herrlich! Wir bezeichnen es hier in unserem Zusammenhang als Matching ( = angleichen, zueinander passen, passend machen, übereinstimmen, zusammen führen). Wenn wir im weiteren Verlauf zu den Spiegelneuronen kommen, werden wir dieses Thema noch vertiefen.
Diese Fähigkeit zum Matching ist uns angeboren. In den ersten Lebensjahren gebrauchen wir sie intensiv, doch im Laufe der Zeit entwickeln wir andere kognitive Fähigkeiten und verlernen es ein Stück weit wieder. Manches davon bleibt uns jedoch erhalten. Wenn wir bei Sportereignissen oder Tanzaufführungen zuschauen, vollziehen wir die Sprünge, Drehungen, Würfe und Läufe innerlich nach. Manchmal spüren wir richtiggehend die Anstrengung dieser inneren körperlichen Angleichung. Die daraus erfolgende Befriedigung trägt dazu bei, uns zur nächsten Veranstaltung zu locken. Auch auf der emotionalen Ebene findet Matching statt. Wenn wir jemandem in seinem Leiden beistehen oder mit Freunden etwas feiern, können sich unsere Gefühle weitgehend denen der anderen anpassen. Dann können wir wirklich sagen: Ich fühle Schmerz beziehungsweise Freude mit dir.
Mit etwas Übung und Geschick können wir uns sogar dem Geist eines anderen anpassen. Ironischerweise ist selbst das nicht mit Hilfe des Intellekts möglich, so...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Inhalt
  6. Vorwort: Willkommen zu den Wundern Ihres Geistes
  7. 1. Zurück zum Anfängergeist
  8. 2. Vom Sinneseindruck zur Wahrnehmung und zurück
  9. 3. Stufen der Charakterbildung
  10. 4. Ein selten gewordener Weg: Lehren aus oralen Kulturen
  11. 5. Das Aufkommen des Lesens und Schreibens
  12. 6. Neue Betrachtung des geschulten Geistes
  13. 7. Auf der Suche nach Weisheit: Von der Komplexität zur Leere
  14. Epilog: Die Segnungen eines leeren Geistes
  15. Danksagung
  16. Über die Autorin