Grass und Indien / Hinduismus
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Grass und Indien / Hinduismus

Theologie der Kultur

  1. 14 Seiten
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Grass und Indien / Hinduismus

Theologie der Kultur

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Drei Indien-Reisen im Zeitraum von 1975 bis 1986 haben im Werk von GĂŒnther Grass Spuren hinterlassen. Er bricht dabei entschieden mit einem Indien-Bild der deutschen Literatur, das von der Romantik inspiriert und von Hermann Hesse verfestigt wurde ("indische Dichtung" "Siddhartha"). Dem stellt Grass seine radikale politische Kritik an den sozialen ZustĂ€nden in Indien entgegen: Massenarmut, Überbevölkerung, verelendete StĂ€dte. SpĂ€testens mit seinem wichtigsten Indien-Buch "Zunge zeigen" (1988) gewinnt Grass ein komplexes Bild von Indien. Die geistige Mitte des Buches bildet die Göttin Kali. Sie steht fĂŒr die zerstörerische Seite des Göttlichen. Die "schreckliche Mutter", ist aber auch eine Kraft der VerĂ€nderung, bei der die MachtverhĂ€ltnisse und sozialen ZustĂ€nde nicht so bleiben können wie sie sind.

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Information

Jahr
2011
ISBN
9783831256594

I. DIE ERSTE INDIEN-REISE: TRAUM ODER TRAUMA?

In der deutschen Literatur ist Indien unlösbar mit dem Namen Hermann Hesse verbunden. Nicht zufĂ€llig trĂ€gt Hesses bekanntestes, bis heute populĂ€rstes Buch „Siddhartha“ (1922) als Untertitel die Bezeichnung „Eine indische Dichtung“. Mehr als andere hat Hesse dafĂŒr gesorgt, dass indische Geistigkeit in der deutschen Literatur eine Heimat fand. Deshalb ist es seltsam zu denken: Eines der letzten schriftlichen Zeugnisse, die wir von Hesses Hand haben, berichtet von einem Traum mit indischem Inhalt. Im Mai 1962, wenige Wochen vor seinem Tod, veröffentlicht Hesse noch einmal einen Text unter dem Titel „Brief im Mai“ (Neue ZĂŒricher Zeitung 26. Mai 1962) und erzĂ€hlt von einer im Schlaf traumartig völlig verwandelten Szene. Überraschend hoher Besuch ist zu Hesse in Schweizerische Montagnola gekommen: AndrĂ© Gide. Dieser große französische Schriftsteller will Hesse noch einmal sehen. Gide aber ist wortkarg, schlechter Laune, zieht sich bald ins Gastzimmer zurĂŒck. Dann tritt er mit dem Gastgeber vor die HaustĂŒr, vermutlich zu einem Spaziergang entschlossen, bleibt aber dicht vor dem Haus stehen, zögert, wie im Nachdenken versunken, und: vollfĂŒhrt dann eine tiefe Kniebeuge. Mehr noch: Aus dieser ohnehin schon mĂŒhsamen Stellung streckt er ein Bein nach vorn in die Luft, etwa wie slawische TĂ€nze es verlangen, nur viel langsamer und feierlicher. Es ist ein unverkennbarer religiöser, sakraler Akt, dessen Bedeutung der TrĂ€umende nicht erraten kann. Als Gide sich aufrichtet, gibt er dem Gastgeber eine ErklĂ€rung ab mit den Worten: „Alles ist. Alles ist nicht. Es ist indisch.“ – „Coincidencia Oppositorum“, antwortet der Gastgeber im Traum. Da starrt Gide ihn verloren an, ĂŒberlegt offrenbar, ob er zustimmen soll. Plötzlich ist noch ein dritter Mann prĂ€sent, ein französisch aussehender Herr. Gide beginnt mit seinem Landsmann zu plaudern und geht im lebhaften GesprĂ€ch fort ohne ErklĂ€rung, ohne Abschied (GB IV, Frankfurt/M. 1986, S. 418–424).
Indisches im Traum. Was könnte charakteristischer fĂŒr Hesses VerhĂ€ltnis zu diesem gewaltigen Kontinent sein? Er verabschiedet sich aus seinem 85 Jahre dauernden Leben mit diesem merkwĂŒrdigen Luftgespinnst: „Alles ist. Alles ist nicht. Es ist indisch“. Kryptisch, rĂ€tselhaft das Ganze, wie Indien, von dem er zehrte. Typisch fĂŒr ihn auch der Inhalt des Traums: das Changieren zwischen Sein und Nichtsein. Alles und Nichts. Typisch auch die Form, in der er von Indien berichtet: die Botschaft aus dem Innen, das Signal aus der Tiefe, dem Unbewussten, Vorsprachlichen. So hat er Indien immer gesehen, so hat er es geliebt, sein „geistiges Indien“, nachdem die Reise in das real existierende Indien einst 1911 gescheitert war.
Am 9. August 1962 war Hermann Hesse gestorben. 13 Jahre spĂ€ter reist ein anderer, fĂŒr die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts nicht weniger reprĂ€sentativer Schriftsteller ins real existierende Indien. Er findet ein radikal anderes Indien als Hesse. Am 3. Februar 1975 hĂ€lt er in Neu Delhi vor dem Council of Cultural Relations eine Rede unter dem Titel „Nach grober SchĂ€tzung“ und vollzieht spĂ€testens jetzt öffentliche sichtbar einen Bruch mit dem traditionellen deutschen Indien-Bild als Erbe der Romantik:
„Von Europa aus gesehen ist Indien ein Land, das sich nicht mehr romantisch verklĂ€ren oder als ‚geheimnisvollunbegreiflich’ verdrĂ€ngen lĂ€sst. Man spricht vom indischen Trauma. Indien? Erschreckend gegenwĂ€rtig. Wir kennen die Zahl der wachsenden Bevölkerung. Sind es 570 oder schon 600 Millionen? Wir hören von sog. Unruhen in den Bundesstaaten Bihar und Utta Pradesch. Grobe SchĂ€tzungen variieren mehrstellige Zahlen. Bei uns gibt es junge Leute, die vom Hare-Krischna-Kult und vom Nirwana schwĂ€rmen. Bei uns sind gut ausgestattete BildbĂ€nde kĂ€uflich, in denen die Kultur Indiens schön ist. In unseren Zeitungen, voll von eigenen Skandalen, haben indische Korruptionsskandale mittleren Stellenwert. Bei uns ist man satt und möchte nicht mit schlechtem Gewissen satt sein 

Ist – so frage ich mich und Sie – das indische Elend schier unabĂ€nderlich, weil es als Fatum, Schicksal, Karma verhĂ€ngt ist? Dann werde ich mit bitterer Erkenntnis heimkehren. Oder ist das indische Elend, wie anderes Elend auch, nur Ergebnis der Kasten und Kastenherrschaft, Misswirtschaft und Korruption? Dann sollte es aufzuheben sein, dieses Elend, weil es Menschenwerk ist.“ (Essays und Reden Bd. II, 1970–1979, Göttingen 1997, S. 392–401, Zitat S. 401)
Schlagworte wie „romantisch verklĂ€ren“ oder „geheimnisvoll-unbegreiflich“ signalisieren den Bruch mit einem von der deutschen Romantik ausgehenden Indien-Bild. Statt „indischer Traum“ bei Grass „indisches Trauma“! Dem europĂ€ischen, deutschen Phantasiebild von Indien – ob in Form eines Abklatsches im Hare-Krischna-Kult einiger Jugendlicher oder in Form opulenter Indien-BildbĂ€nde, die sich ohnehin nur die Ober- und Mittelschicht leisten können: dem Phantasiebild hĂ€lt Grass ein Indien-Bild entgegen im Zeichen von Bevölkerungsexplosion, Korruptionsskandalen, Massenelend, Klassen- und Kastenherrschaft. Statt Aufsaugen indischer Meditationstechniken oder indischer Philosophie – AufzĂ€hlen von Statistiken ĂŒber soziale und ökonomische ZustĂ€nde. Statt Flucht in eine Gegenreligion zum europĂ€ischen Christentum oder zum europĂ€ischen SĂ€kularismus die harte Frage nach dem, was Religion zur Verbesserung des Massenelends leistet.
Nur das eine interessiert diesen Indien-Reisenden noch an Religion: Fatum, Schicksal, Karma? Oder Menschenwerk? Diese schlichte Alternative macht Grass auf. Er ist offensichtlich – wie alle GlĂ€ubigen seiner politischen Coleur – von der Vorstellung durchdrungen, dass die Durchschauung eines gesellschaftlichen Zustands als „Menschenwerk“ dessen VerĂ€nderung und Verbesserung eher möglich mache als die Betrachtung durch Religion. Auch dies ein Bruch mit der bisherigen europĂ€ischen Wahrnehmung Indiens: die ausschließlich funktionale Betrachtung der Religion, der reine Funktionstest auf die Beförderung gesellschaftlichen Wohls. Grass wörtlich:
„Dabei sind alle großen religiösen Ideen Heilsbotschaften des Friedens. Hinduismus und Buddhismus lehren Toleranz. Die christliche Bergpredigt fordert zur NĂ€chstenliebe auf. Und auch die sĂ€kularisierten Religionen – Kapitalismus und Kommunismus – verstanden sich einst als Kinder der europĂ€ischen AufklĂ€rung. Sie wollten die Menschheit beglĂŒcken und die Freiheit verallgemeinern. Nichts ist davon geblieben. Toleranz schlug um in Unduldsamkeit. Die NĂ€chstenliebe verkam zu bigotter Frömmelei. Das Kapital zahlt sich in Machtmissbrauch aus. Im Kommunismus ĂŒberlebte einzig die revolutionĂ€re Phrase. Und ĂŒberall das Leid glĂ€ubiger, betrogener Menschen, namenlos auf engen Raum gepfercht, rechtlos gehalten, der Furcht, dem Hunger, wenn nicht dem religiösen Aberglauben, dann der Hoffnungslosigkeit ĂŒberantwortet, begreifen sie nicht, was ihnen geschieht.“ (S. 398)
Nichts davon geblieben? Wir erkennen den politischen Agitator Grass, der hier, 1975, in seiner Neu-Delhi-Rede nicht an Differenzierung interessiert ist, sondern an AufrĂŒttelung. Mit Grass tritt erstmals ein deutscher Indien-Reisender auf den Plan, der Indien nicht mehr mit den Upanishaden und der Bhavagadgita in der Hand betrachtet, sondern durch die Brille des Weltreports des „Club of Rome“. Das ist die neue, sĂ€kulare Offenbarungsschrift: „Menschheit am Wendepunkt“. Von hierher bezieht Grass sein kĂŒnftig stĂ€ndig wiederholtes Mantra: Überbevölkerung, Ressourcenverknappung, Zerstörung der natĂŒrlichen Lebensgrundlagen. Indien also nicht mehr lĂ€nger betrachtet von der Erfahrung der großen „Einheit“ her, sondern von der Erfahrung der großen Entfremdung. Nicht das Kamasutra interessiert diesen Indien-Reisenden, sondern die Kindersterblichkeit, nicht das Mahabarata, sondern die medizinische Versorgung, nicht die Upanishaden, sondern die UnterernĂ€hrung.
Adressat dieser Grass’schen Rede in Neu-Delhi ist die indische Mittel- und Oberschicht. Adressat aber sind auch EuropĂ€er, Angehörige der Ersten Welt. FĂŒr Grass ist die Diskrepanz zwischen den Welten grotesk. Hier, in eben dieser Ersten Welt, technologische Spitzenleistungen, dort Massenhunger; hier Energieverschwendung, dort Wasser- und Stromknappheit; hier Wohlstandsgesellschaften, dort Massenelend. Hier Weltraumfahrten, dort WeltĂŒberbevölkerung. Hier Massensattheit, dort Massenhunger. Dem wird eine Parole Willy Brandts entgegengehalten: Hunger ist Krieg, gesprochen vom damaligen deutschen Bundeskanzler in seiner Antrittsrede 1973 vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen, deren Zeuge Grass ist. Spricht hier jemand, der die Welt zu erklĂ€ren weiß? Dessen politische Raster intakt sind, die nun flugs auf die sog. „Dritte Welt“ ĂŒbertragen werden können?
Gewiss: Im Verlaufe seiner Rede macht Grass durchaus relativierende Vorbehalte. Er habe sich â€žĂŒber Indien unterrichtet“, ĂŒber Indiens „Kultur, Religionen, Geschichte, Verfassung“, vermeldet er. Einzelheiten nennt er nicht, hĂ€ngt im Gegenteil an diese summarische AufzĂ€hlung gleich sein Mantra: unterrichtet auch ĂŒber „Arbeitslosigkeit, Korruption, Auslandsverschuldung“. Er sei gekommen, „um zu sehen und vielleicht zu lernen“, sagt er, fĂŒgt dem aber sofort selbstironisch hinzu: „obwohl wir ja alles zu wissen meinen und die Daten zuhauf liegen“. Er erklĂ€rt scheinbar bescheiden: „Keine Botschaft, meine Ratlosigkeit habe ich mitgebracht“, um dann aber die soziale Lage Indiens auf klare Botschaften zu reduzieren. Er ĂŒbt Selbstkritik am deutschen „Völkermord an sechs Millionen Juden“, um gleich aber eine kritische Gegenwartspointe gegen Indien zu gewinnen: Die Mehrheit des deutschen Volkes habe – so Grass – „nichts von der bĂŒrokratisch organisierten Endlösung in den Konzentrationslagern gewusst“. Heute aber? „Heute wissen wir alles. Ein lĂŒckenloses Informationsnetz sorgt dafĂŒr, dass wir zwischen den gemischten Tagesnachrichten jeweils pĂŒnktlich erfahren, wo gehungert und gestorben wird. Die grob geschĂ€tzten Zahlen lassen sich am Jahresende addieren. Unerschrocken hĂ€lt das Fernsehen drauf. Illustrierte Zeitungen verbreiten in hoher Auflage gutphotographierte Elendsberichte. Die Not ist telegen, photogen geworden.“ (400)
Die Neu-Delhi-Rede 1975 war vor der ersten Reise von Grass nach Indien entworfen worden, am deutschen Schreibtisch gewissermaßen, mit lĂ€ngst feststehenden deutschen politischen Rastern, jetzt nur noch einmal angewandt auf den „Fall Indien“. Ökonomisch-sozialistische Weltbetrachtung. Godesberger Programm kombiniert mit dem Weltreport des „Club of Rome“. Entsprechend selbstbewusst tritt Grass in Indien auf. Doch die Reise selber? Die Reise selber hatte Grass offensichtlich dann doch die ganze ZwiespĂ€ltigkeit seiner Rolle in einem solchen Land vor Augen gefĂŒhrt. Als er nach Kalkutta kommt, wird er behandelt wie ein Staatsgast. Der politisch links stehende deutsche Autor, der soeben noch ĂŒber Kindersterblichkeit und Massenhunger gesprochen hatte, muss ausgerechnet im ehemaligen Gouverneurspalast in Kalkutta wohnen, im Raj Bhavan, umschwĂ€nzelt von livrierten Dienern, abgeschlossen von der Welt der Massen wie in einem goldenen KĂ€fig. Ausgerechnet in Kalkutta! Mit einem Regierungsauto wird er herumgefahren, literarische Salons laden ihn ein, so der „Writers Workshop“ des in Kalkutta berĂŒhmten Dichters Purushottama Lal. Er spĂŒrt, in welche Rolle er eingezwĂ€ngt ist. Die ZwĂ€nge mĂŒssen literarisch verarbeitet werden. Wie?

II. DIE ZWEITE INDIENREISE – UND DIE FOLGEN: „KOPFGEBURTEN“

1978 nutzt Grass eine weitere Asienreise, um in Bombay Station zu machen. Das German Department der University of Bombay lĂ€dt ihn zu einer Lesung aus seinem Roman „Der Butt“ ein, der im Jahr zuvor, im Jahr 1977, erschienen war. Das örtliche GoetheInstitut, in Indien Max MĂŒller Bhavan genannt, veranstaltet eine Podiumsdiskussion zum Thema „Aspekte sozialen Bewusstseins in der zeitgenössischen Literatur“. Zu ihr strömt alles, was in Bombay kulturell Rang und Namen hat. Es ist ein Umbruchsjahr in der indischen nationalen Politik. Die damalige Premierministerin Indira Ghandi hatte in nur zwei Jahren ab 1975 durch scharfe Zensurmaßnahmen, durch Verhaftungen von Intellektuellen und Verfolgungen politisch Andersdenkender eine AtmosphĂ€re des Schreckens hinterlassen. 1977 war sie abgewĂ€hlt worden. Aber immer noch steht Indien unter dem Eindruck dieser Schreckensherrschaft.
Grass’ negative Äußerungen ĂŒber Indien sind Indern nicht verborgen geblieben. Entsprechend bekommt er kritische RĂŒckfragen: Warum hatte er einseitig nur das Elend und die Armut Indiens hervorgehoben? Wo blieb der kulturelle und spirituelle Reichtum des Landes? Grass lĂ€sst sich in der Diskussion nicht beirren. Die Schönheit Indiens? Die „Postkarten-Schönheit“? Sie sei, meinte er, ein Privileg der Wohlhabenden und GesĂ€ttigten. Hunger sei die tagtĂ€gliche RealitĂ€t der Mehrheit der Menschen. Und dem sozialen Elend könne der Subkontinent nur durch radikale Reformen beikommen. Die Schönheit der Armut freilich habe ihn zugleich irritiert und fasziniert. Die Diskussion bleibt unbefriedigend, entfaltet aber offensichtlich unter den indischen Zuhörern selbst eine bemerkenswerte Eigendynamik. Die anwesenden indischen Intellektuellen beginnen untereinander zu diskutieren und zum ersten Mal nach den Zeiten der Repression frei ĂŒber ihre Erfahrungen wĂ€hrend der politischen Notstandsjahre unter Indira Ghandi zu sprechen. Zumindest diesen Erfolg kann Grass fĂŒr sich verbuchen.
Er selber verarbeitet seinen zweiten Indien-Aufenthalt literarisch, und zwar in seinem schmalen ErzĂ€hlbĂ€ndchen „Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus“. Es erscheint im Jahr 1980. Der neue Band ist erstmals eine Mischung aus Indien-Kritik und Deutschland-Kritik. Ausgangspunkt ist eine schrille interkontinentale Diskrepanz: Überbevölkerung in Asien, GeburtenrĂŒckgang in Deutschland. UnbekĂŒmmerter Geburtenzuwachs dort, ideologisch motivierte skrupulöse Geburtenverweigerung hier. ErzĂ€hlt wird die Geschichte eines fiktiven Lehrer-Ehepaares namens Harm und Dörte aus Itzehoe. Sie begeben sich mit einem Reiseveranstalter unter dem bezeichnenden Namen „Sisyphos“ auf Asienreise. Dörte und Harm waren einst aktive 68er, jetzt sind sie bĂŒrgerlich geworden. Harm ist Mitglied der SPD und Dörte Mitglied der FDP. Eine Ehe gewordene sozialliberale Koalition. Politisch korrekt aber sind beide gegen Atomkraft und Umweltverschmutzung und fĂŒr die Dritte Welt. Ihre Weltanalyse lĂ€sst sie zweifeln, ob sie angesichts der weltweiten Überbevölkerung ĂŒberhaupt noch ein Kind „verantworten“ können.
Diese fiktive Handlung rund um das Lehrerehepaar baut Grass ein in einen Bericht ĂŒber seine eigene Asienreise, die er zusammen mit seiner Frau Ute und den Filmemachern Volker Schlöndorff und Margarete von Trotta durchgefĂŒhrt hatte. Mit ihnen wird die Möglichkeit erörtert, ĂŒber die Asienreise eine...

Inhaltsverzeichnis

  1. I. DIE ERSTE INDIEN-REISE: TRAUM ODER TRAUMA?