Selbstgespräche
eBook - ePub

Selbstgespräche

Von der Wissenschaft und Geschichte unserer inneren Stimme

  1. 400 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Selbstgespräche

Von der Wissenschaft und Geschichte unserer inneren Stimme

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Wenn jemand sagt "Ich höre Stimmen", denken wir zunächst an eine Geisteskrankheit. Tatsächlich verbringen wir aber ein Viertel unserer Zeit mit lautlosen Debatten und Monologen im Kopf. Wir alle reden mit uns selbst, die ganze Zeit. Unsere inneren Stimmen sind da - ob wir wollen oder nicht. Sie können selbstbewusst, lustig, zögernd oder gemein sein; Sie können in verschiedenen Akzenten und sogar in Gebärdensprache erscheinen. Wir alle hören sie - und wir brauchen sie nicht zu fürchten. Im Gegenteil: Das Geplapper im Kopf kann sogar sehr hilfreich sein. Aber wann ist ein Selbstgespräch noch normal - und wann wird es zum Problem? Der Psychologe Charles Fernyhough nähert sich in seinem Buch "Selbstgespräche" dem Thema unter kulturellen und zeitgeschichtlichen Aspekten und erklärt, dass diese inneren Stimmen eines der Hauptmerkmale des menschlichen Denkens sind.

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Selbstgespräche von Charles Fernyhough im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Psychology & Applied Psychology. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Jahr
2018
ISBN
9783831269525
KAPITEL 1
LUSTIGE KÄSESCHEIBEN
Es ist ein Herbsttag in Westlondon. Ich bin auf dem Weg zu einem Arbeitsessen und sitze in der U-Bahn Central Line. Der mittägliche Hochbetrieb hat noch nicht eingesetzt, und ich habe es geschafft, einen Platz in einem jener Waggons zu ergattern, in denen man sich in zwei Reihen gegenübersitzt, nahe genug, um die Titelseiten der Zeitungen zu überfliegen, die das Gegenüber liest. Die U-Bahn hat zwischen zwei Stationen angehalten, und wir warten auf eine Durchsage. Die Leute lesen Taschenbücher, die Klatschblätter, jene seltsamen technischen Bedienungsanleitungen, die allem Anschein nach nur in der U-Bahn studiert werden. Alle Übrigen starren auf die rätselhaft farbig gekennzeichneten Kabel, die im Tunnel direkt vor dem Abteilfenster entlangführen. Holland Park ist vermutlich noch 400 Meter entfernt. Ich tue nichts Ungewöhnliches, genau genommen tue ich überhaupt nichts. Es ist ein Moment der nur schwach bewussten Beschaulichkeit. Ich bin ein ganz normaler Mann Ende vierzig in gesunder mentaler und körperlicher Verfassung. Ich habe ein klein wenig zu lange geschlafen, ein bisschen zu wenig gegessen und freue mich mit einem guten, noch nicht befriedigten Appetit auf das Mittagessen in Notting Hill.
Auf einmal lache ich los. Noch einen Augenblick zuvor war ich ein anonymer Fahrgast mit elektronischer Oyster-Fahrkarte. Jetzt gebe ich meine Tarnung mit einem mehr als hörbaren Gekicher auf. Ich komme häufig nach London, aber ich bin es nicht gewohnt, dass mich so viele Fremde gleichzeitig anstarren. Ich besitze genügend Geistesgegenwart und bin mir meines Publikums ausreichend bewusst, um mein Gelächter in Schach zu halten, bevor ein privater Witz in allgemeine Verlegenheit ausartet. Interessant ist dabei nicht, worüber ich lache, sondern die Tatsache, dass ich überhaupt lache. Ich habe weder dem Witz eines anderen gelauscht noch einen lustigen Gesprächsfetzen aufgeschnappt. Ich habe etwas viel Banaleres getan. Man könnte sagen, dass ich gerade die allernormalste Erfahrung gemacht habe, die ein Mensch in einer U-Bahn erleben kann: Mir ist ein Gedanke durch den Kopf gegangen.
Es handelte sich um einen ziemlich bedeutungslosen Gedanken, der mich an jenem Tag loslachen ließ. Es war keiner jener Momente, in denen ein Denker endlich auf die Lösung eines wichtigen Problems stößt, eine Idee hervorbringt, die die Industrie revolutionieren wird, oder die Anfangsverse eines großartigen Gedichts vollendet. Gedanken können Geschichte schreiben, doch das ist gewöhnlich nicht der Fall. Damals dachte ich zwischen den zwei U-Bahn-Stationen an eine Kurzgeschichte, an der ich gerade arbeitete. Es ging um die Geschichte einer ländlichen Gemeinde und um Zwietracht im post-agrarwirtschaftlichen Zeitalter, und ich wollte, dass mein Held, ein ehemaliger Bauer, eine außereheliche Beziehung führt. Ich hatte die Möglichkeiten erwogen, dass er eine Affäre mit der Frau eingeht, die den mobilen Postlaster fährt, und diese Affäre spielt sich hinter den geschlossenen Jalousien eines speziell umgebauten Ford Transit ab. Die beiden treffen sich jeden Donnerstagnachmittag nach den wöchentlichen Geschäftszeiten im Dorf. Die Türen werden verschlossen, das Sprechfunkgerät ausgeschaltet, und die beiden erkunden einander auf der von Hunderten von Kleingeldtransaktionen verkratzten Schaltertheke. Während ich die Szene in Gedanken konstruierte, hatte ich das Bild eines am Rand der Landstraße geparkten leuchtend roten Postlasters vor Augen, der auf mögliche Passanten wie stillgelegt und leer wirkt, dann aber mit einem hartnäckigen Quietschen der Federung zu schaukeln beginnt, als die Körper im Inneren anfangen, Reibung zu suchen …
Genau an diesem Punkt musste ich laut loslachen. Diese Wörter gingen mir durch den Kopf und amüsierten mich. Auf keinen der anderen Fahrgäste zeigten sie diese Wirkung, weil keiner die Pointe hörte. Aber meine Mitfahrenden wussten, dass es eine Pointe gab. Sie lachten nicht über meinen privaten Spaß (weil sie ihn nicht hören konnten), aber sie lachten mich auch nicht aus. Sie wussten, dass ich, wie die meisten Menschen in diesem U-Bahn-Wagen, mit Gedanken beschäftigt war, und sie verstanden, dass Gedanken – wilde Gedanken, banale Gedanken, heilige oder profane Überlegungen – gelegentlich Gelächter hervorrufen können. Selbstgespräche zu führen ist etwas ganz Normales, und die Menschen erkennen es, wenn sie es sehen. Nicht nur das, sie erkennen auch deren Privatheit an. Ihre Gedanken gehören nur Ihnen, und was immer sich dort auch abspielt, es findet in einem Bereich statt, zu dem andere Menschen keinen Zugang haben.
Ich bin jedes Mal über dieses Bewusstsein erstaunt. Unsere Erfahrung ist nicht nur für uns selbst faszinierend und lebhaft, sie ist es ausschließlich für uns. In der Sekunde oder in den zwei Sekunden nach meinem Lachanfall wurde mir klar, dass ich versuchte, soziale Signale auszusenden, die mein Verhalten entschuldigten. Man lacht in einem beinahe voll besetzten Zugabteil nicht laut los, ohne zumindest ein wenig Verlegenheit zu empfinden. Ich wollte nicht so tun, als hätte ich nicht gelacht, vielleicht indem ich versucht hätte, mein Lachen mit einem Hustenanfall zu kaschieren, aber ich bemühte mich dennoch, gewisse Botschaften auszusenden: Dass ich nicht verrückt bin, dass ich mich schnell wieder unter Kontrolle hatte, ja, dass es tatsächlich schon vorbei war – dass der Augenblick der Erheiterung jetzt vorüber war. Ich ertappte mich dabei, dass ich eine Miene aufsetzte, die so etwas wie ein Lächeln und eine Mischung aus Klugheit, Komplizenschaft und Verlegenheit ausdrückte. Ein anderer Gedanke ging mir durch den Kopf, eine Stimme, die sagte: »Die glauben doch nicht etwa, dass ich über sie lache, oder?« Lachen ist ein soziales Signal, aber dieser Spaß war privat. Ich hatte eine der Regeln des menschlichen Miteinanders verletzt und musste diese Tatsache durch irgendeine Bekundung einräumen.
Ich brauchte mir keine Sorgen zu machen. Die Menschen in dem Abteil würden das verstehen, es sei denn, es handelte sich um kleine Kinder, Außerirdische oder eine bestimmte Art von Psychiatriepatienten. Unsere Überzeugung, dass unser Innenleben privat ist, ist so ausgeprägt, dass Alternativen dazu – Gedankenlesen, Telepathie und Gedankeninvasion – Anlass für Erheiterung oder Entsetzen bieten können. Fremde in einem U-Bahn-Wagen werden die Auswirkungen dieses Merkmals von Gedanken rasch erkennen. Schließlich werden sie selbst ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Ich wurde lediglich verblüffend an die Privatheit meiner Gedanken erinnert und mir ihrer direkten Wirkung auf mich deutlich bewusst. In diesem Augenblick war mein Gehirn in jedem Fall aktiv – anders hätte ich das Bild des schaukelnden Postlastwagens nicht heraufbeschwören können –, aber ich war mir darüber hinaus des inneren Ideenfeuerwerks bewusst. Und genau das bietet Ihnen das Gehirn: einen Logenplatz für eine Show nur für Sie allein.
Es war diese lebhafte innere Vorstellung, die mich hatte laut loslachen lassen. Zwar läuft ein großer Teil unserer mentalen Aktivität unterhalb der Bewusstseinsschwelle ab, doch vieles wird der Person bewusst, in der es sich abspielt. Wenn wir mit einem Problem zu kämpfen haben, uns eine Telefonnummer ins Gedächtnis rufen oder an eine romantische Begegnung zurückdenken, ist uns klar, dass wir dies tun. Es ist unwahrscheinlich, dass es sich dabei um ein komplettes oder korrektes Bild der daran beteiligten kognitiven Mechanismen handelt – wir sind bei Weitem keine verlässlichen Zeugen dessen, was unser Gehirn vollbringt –, aber es führt zumindest zu einer stimmigen Erfahrung. In der von Philosophen bevorzugten Sprache ist »etwas vorhanden, dem es ähnelt«2, wenn man sich des arbeitenden Gehirns bewusst ist. Sich mit einer Gedankenfolge zu beschäftigen ist ein Erlebnis, das spezielle Qualitäten besitzt, wie das Eintauchen in einen Swimmingpool oder die Trauer um einen geliebten Angehörigen.
Aber wir können noch etwas anderes Wichtiges über unsere innere Erfahrung3 sagen. In zahlreichen populärwissenschaftlichen Büchern wurde – häufig mit bewundernswerter Klarheit – dargestellt, was wir über das Funktionieren des Bewusstseins wissen. Allerdings neigen die Autoren dazu, sich auf das Wunder der perzeptuellen und affektiven Erfahrung zu konzentrieren: warum diese weiße Lilie diesen charakteristischen Duft verströmen kann; warum die Nachwirkungen eines Familienstreits so viele bittersüße emotionale Möglichkeiten eröffnen können. Mit anderen Worten: Die Betrachtung der mentalen Erfahrung konzentriert sich in diesen Büchern gewöhnlich auf die Reaktion des Gehirns auf Ereignisse der Außenwelt. Wenn wir anfangen, über das Denken nachzudenken, müssen wir erklären, wie das Bewusstsein seine eigene Show aufführen kann. Wir sind für unsere Gedanken verantwortlich, zumindest haben wir das starke Gefühl, dass es so ist. Das Denken ist eine Aktivität; es ist etwas, was wir tun. Das Denken treibt sich selbst an, erschafft etwas, wo zuvor nichts war, ohne von der Außenwelt irgendeine Richtungsvorgabe zu benötigen. Dies ist ein Teil dessen, was uns eindeutig zum Menschen macht: die Tatsache, dass ein Mensch sich in einem leeren Raum ohne jede äußere Stimulation zum Lachen oder Weinen bringen kann.
Wie ist es, solche Erfahrungen zu machen? Die Tatsache, dass das Denken etwas so Gewöhnliches ist, könnte paradoxerweise bedeuten, dass wir nicht groß darüber nachdenken, wie es funktioniert. Die Gesetze der geistigen Privatsphäre sorgen darüber hinaus dafür, dass das Erlebnis dem Blick der anderen verborgen bleibt. Wir können anderen den Inhalt unserer Gedanken mitteilen – wir können ihnen erzählen, worüber wir nachdenken –, aber es fällt uns deutlich schwerer, anderen die Qualität eines Phänomens zu vermitteln, das nur für uns selbst bestimmt ist. Wenn wir den Gedankengängen anderer Menschen lauschen könnten, würden wir dann feststellen, dass sie unseren eigenen ähnlich sind? Oder besitzen Gedanken einen persönlichen Stil oder eine emotionale Atmosphäre, die für den Denker charakteristisch sind? Was wäre gewesen, wenn die Leute an jenem Tag in der U-Bahn meine Gedanken tatsächlich hätten lesen können? Was würde ein mentaler Lauscher in diesem Moment hören, wenn er in der Lage wäre, Ihre Gedanken zu belauschen? Der Philosoph Ludwig Wittgenstein stellte fest, dass wir nicht in der Lage wären, einen Löwen zu verstehen, wenn er sprechen könnte.4 Ich vermute, dass etwas Ähnliches für unseren alltäglichen
Bewusstseinsstrom gilt. Selbst wenn wir unsere Gedanken irgendwie hörbar machen könnten, würden andere Menschen wahrscheinlich Schwierigkeiten haben, sie zu verstehen.
Ein Grund dafür ist die Tatsache, dass wir beim Denken Wörter auf eine sehr spezielle Art und Weise nutzen. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, ich würde Sie fragen, in welcher Sprache Sie denken. Ich vermute, dass Sie möglicherweise nicht in der Lage sein könnten, die Frage für jeden Ihrer Gedanken ehrlich zu beantworten, aber Sie würden einräumen, dass diese Frage sinnvoll ist. Viele von uns würden zustimmen, dass das Denken eine sprachliche Qualität5 besitzt. Falls Sie zweisprachig sind, könnten Sie sogar wählen können, in welcher Sprache Sie denken wollen. Nichtsdestotrotz gibt es vielerlei Gedanken, deren sprachliche Eigenschaften nicht immer offensichtlich sind. Es gibt Dinge, die Sie sich beim Denken nicht selbst mitteilen müssen, weil Sie diese bereits kennen. Die Sprache kann stark vereinfacht werden, weil die Botschaft nur für Sie selbst bestimmt ist.
Ein weiterer Grund, weshalb unser Denken für andere Menschen unverständlich sein könnte, ist die Tatsache, dass daran gewöhnlich nicht nur Wörter beteiligt sind. In jenem Augenblick in der U-Bahn hatte ich neben allen anderen körperlichen und emotionalen Eindrücken einen Song aus dem Film High School Musical im Kopf. Während mein Blick ziellos auf die Kabel im Tunnel vor dem Abteilfenster geheftet war, war mein inneres Auge damit beschäftigt, das Bild des roten Postlastwagens heraufzubeschwören. Einige dieser Empfindungen hingen mit dem Denken zusammen, andere bildeten lediglich den geistigen Hintergrund. Entscheidend ist, dass das Denken ein multimediales Erlebnis ist. Die Sprache spielt dabei eine wichtige Rolle, aber sie ist bei Weitem nicht alles.
In diesem Buch möchte ich der Frage nachgehen, wie es ist, wenn sich so etwas in Ihrem Kopf abspielt. Ich möchte herausfinden, wie es sich anfühlt, bei jener Flut von Eindrücken, Ideen und inneren Äußerungen ertappt zu werden, die unseren Bewusstseinsstrom bildet. Nicht alles, wozu unser Geist und Gehirn fähig sind, wird sich als diese Art von Erfahrung qualifizieren. Viele der wirklich klugen Dinge, die ein Mensch leisten kann, wie zum Beispiel, einen Kricketball zu fangen oder mithilfe des Sternenhimmels über den Pazifik zu navigieren, können ohne bewusste Wahrnehmung, wie sie zu vollbringen sind, erfolgreich durchgeführt werden. In gewissem Sinne bezieht sich »Denken« auf alles, was unser Bewusstsein (im Gegensatz zum Unterbewusstsein) tut. Aber diese Definition ist noch zu weit gefasst. Ich würde jene unglamourösen geistigen Leistungen, wie zum Beispiel das Zählen einer Handvoll Kieselsteine oder den Wechsel mentaler Bilder, die im Wesentlichen auf stark automatisierten, speziell entwickelten kognitiven Subsystemen basieren, nicht dazuzählen wollen. Ein Grund, weshalb diese Prozesse nicht einbezogen werden, ist die Tatsache, dass ihre Start- und Endpunkte eindeutig definiert sind. Der Zauber des Denkens liegt zum Teil darin begründet, dass es ziellos, im Kreis oder auf ein kaum definiertes Ziel gerichtet erfolgen kann.6 An jenem Tag in der U-Bahn wusste ich nicht, wie ich mit meiner Geschichte weitermachen sollte. Manchmal ist das Denken tatsächlich »zielgerichtet«, beispielsweise wenn es darum geht, eine bestimmte Art von intellektuellem Problem zu lösen. Aber der Bewusstseinsstrom kann sich auch ziellos dahinwinden. Häufig hat das Denken keinen offenkundigen Startpunkt, und oft verlangt es von uns, am Ziel anzukommen, bevor wir wirklich verstehen, was dieses ist.
Und das ist die Art von Denken, die mich interessiert. Dieses ist in dem Sinne bewusst, dass wir wissen, was wir gerade denken, aber auch in dem Sinne, dass es das besitzt, was Philosophen als phänomenologische Eigenschaft bezeichnen: Es gibt etwas Ähnliches, womit man es vergleichen kann. Es erfolgt sprachlich, und wie wir sehen werden, hängt das Denken häufig direkter mit der Sprache zusammen, als es anfänglich den Anschein hat. Auch die Bildsprache spielt eine Rolle, ebenso wie andere sensorische und emotionale Elemente, aber diese sind nur ein Teil des Ganzen. Darüber hinaus ist das Denken (in Wörtern oder auf andere Weise) privat: Was wir denken, denken wir im Kontext der bestimmten festen Annahme, dass es für andere nicht wahrnehmbar ist. Gedanken sind in der Regel kohärent: Sie fügen sich in Ideenstränge ein, die mit dem, was zuvor geschehen ist, in Verbindung stehen, egal, wie zufällig sie erfolgen. Und schließlich sind Gedanken aktiv: Denken ist etwas, was wir tun, und gewöhnlich erkennen wir es als unser eigenes Werk.
Ich bin nicht der Erste, der sich für die Rolle interessiert, die Wörter bei unseren mentalen Prozessen spielen. Seit Jahrhunderten streiten sich Philosophen über die Frage, ob Sprache für das Denken notwendig ist (während sie häufig ein bisschen vage bleiben, was sie mit »Denken« überhaupt meinen)7. Und Tierverhaltensforscher haben einfallsreiche Experimente durchgeführt, um herauszufinden, zu welcher Art von Denken Tiere fähig sind und ob ihnen eine Sprache beigebracht werden kann. All diese Erkenntnisse sind für meine Untersuchung relevant. Aber ich verfolge einen etwas anderen Ansatz. Ich möchte mit einer schlichten Tatsache beginnen: nämlich dass wir feststellen, dass unser Kopf voller Wörter ist, wenn wir über unsere eigenen Erfahrungen nachdenken oder wenn wir andere Menschen bitten, davon zu berichten, was bei ihnen im Kopf gerade vor sich geht. Das bedeutet nicht, dass jeder von solchen gedanklichen Wortströmen berichtet: Die Tatsache, dass es manche von uns nicht tun, bedarf einer Erklärung. Wird diese Frage richtiggestellt, dann kann sie sich über das Verhältnis von Sprache und Denken als sehr informativ erweisen.
Könnten wir Gedanken lesen, dann wären wir in der Lage, diese Frage einfach dadurch zu klären, dass wir die Gedanken der Menschen um uns herum lesen würden. Aber die geistige Privatsphäre ist nun einmal Realität, deshalb müssen wir einen anderen Weg einschlagen. Wir können zum Beispiel die verschiedenen Möglichkeiten nutzen, mit welchen die Menschen ihre Gedanken mitteilen, indem sie erzählen, schreiben, bloggen, tweeten und texten, was bei ihnen im Kopf gerade vor sich geht. Wir können betrachten, was Autoren über innere Erfahrungen geschrieben und was Psychologen von den Beschreibungen der Menschen dokumentiert haben. Und wir werden von der Neurowissenschaft Hilfe erhalten, die uns die Bilder eines Scanners davon liefern wird, wie sich Gedanken im Gehirn formen. Wir können beobachten, wie sich das Denken in der Kindheit entwickelt, und was passiert, wenn es schiefläuft. Doch mein Ausgangspunkt ist näherliegend. Ich möchte ja nichts Fremdes oder Unbekanntes darstellen, wie zum Beispiel das Bewusstsein des Haustiers oder wie es ist, ein Neugeborenes zu sein. Ich weiß, wie es ist, wenn sich die Sache in meinem Kopf abspielt. Ich muss lediglich eine Möglichkeit finden, sie in Worte zu fassen.
In Terminal eins erhalten Sie lustige Käsescheiben. Es handelt sich nicht um den bedeutendsten Gedankengang, für den ich je verantwortlich war. Ich picke ihn aufs Geratewohl heraus, biete ihn nicht etwa als lebensverändernde Weisheit an, sondern als Beispiel für den Bewusstseinsstrom am heutigen Morgen. Als ich aufwachte, war er in meinem Kopf, aber ich war mir nicht bewusst, dass ich unmittelbar davor geträumt hatte oder dass der Gedanke in irgendeiner Weise mit etwas anderem zusammenhing. In Terminal eins erhalten Sie lustige ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelblatt
  3. Urheberrecht
  4. Widmung
  5. Inhalt
  6. Kapitel 1. Lustige Käsescheiben
  7. Kapitel 2. Das Gas aufdrehen
  8. Kapitel 3. Die Quasselstrippe
  9. Kapitel 4. Zwei Autos
  10. Kapitel 5. Eine Naturgeschichte des Denkens
  11. Kapitel 6. Stimmen auf Papier
  12. Kapitel 7. Der Chor in mir
  13. Kapitel 8. Nicht ich
  14. Kapitel 9. Verschiedene Stimmen
  15. Kapitel 10. Die Stimme einer Taube
  16. Kapitel 11. Ein Gehirn, das sich selbst zuhört
  17. Kapitel 12. Eine gesprächige Muse
  18. Kapitel 13. Botschaften aus der Vergangenheit
  19. Kapitel 14. Eine Stimme, die nicht spricht
  20. Kapitel 15. Selbstgespräche
  21. Danksagung
  22. Anmerkungen und Literatur
  23. Stichwort- und Namensverzeichnis