HÖLLENRITT INS ALL –
ABGESCHNITTEN
VON DER WELT
1
Kennedy Space Center, Florida/USA, Shuttle Launch Pad 39A,
26. April 1993, 9:50h EST (Eastern Standard Time,
Standardzeit an der Ostküste der USA)
Da liege ich nun, auf dem Rücken, die Beine angewinkelt nach oben, etwa 60 Meter über der Erde im Middeck unserer 2000 Tonnen schweren Columbia, eine der amerikanischen Raumfähren, die uns sieben Astronauten in wenigen Sekunden in den Weltraum bringen soll. Dies ist der Ort und der Zeitpunkt, auf den ich jahrelang hingearbeitet habe. Ich schließe das Visier und … höre nichts mehr! Nur noch den aufs Notwendigste reduzierten, stakkatoartigen Funkverkehr des Air-to-Ground kann ich wahrnehmen. Man ist wie von der Außenwelt abgeschnitten. Man hört nichts mehr, und im Middeck, wo mein Platz beim Start ist, sieht man auch nichts, bis auf die Schubladenwand vor, beziehungsweise über einem, auf die man dauernd starren muss und von der man hofft, dass sie beim Start nicht zufälligerweise eine ihrer Schubladen entlässt.
Start des Space Shuttles Columbia auf der Startrampe 39A des KennedySpace Centers. (Bild: NASA)
Doch dann der Start! Sechs Sekunden vor dem Abheben werden die drei Flüssigkeitstriebwerke am Shuttle gezündet. Dadurch schwingt das senkrecht stehende Shuttle leicht zur Seite, weil es über Bolzen an den beiden weißen, einige Meter abgesetzten Feststoffboostern noch am Boden gehalten wird. Daher schwingen in diesen sechs Sekunden auch die Astronauten wie in einer Schiffsschaukel zunächst etwa 1,5 Meter nach vorn und dann wieder zurück – was man sehr deutlich spürt. Dabei vibriert und schüttelt das Shuttle dermaßen, dass es einem durch Mark und Bein geht, genauso wie bei einem Erdbeben.
Und dann hört man über Funk nur: »SRB Ignition – Lift-Off!«
Die Solid-Rocket-Booster (Feststoffbooster) werden gezündet womit gleichzeitig das Shuttle abhebt. Ich, der drinnen sitzt, höre nichts von dem überwältigenden Gedonner, das draußen den Zuschauern das Zwerchfell beben lässt (das IMAX-Kino übertreibt hier etwas) und vom hellen, peitschenden Krachen der Feststoffbooster (das ich andererseits im IMAX vermisse).
Das Shuttle hat abgehoben … und was spürt man? Von 3 g, der berüchtigten starken Beschleunigung von der dreifachen Stärke der Erdanziehung, keine Spur! Der Schub der Antriebe, immerhin zweimal 1200 Tonnen Schub der beiden Feststoffraketen plus dreimal 185 Tonnen Schub der drei Flüssigkeitsantriebe, übersteigt die 2000 Tonnen des ganzen Systems zwar um großzügige 50%; aber die Beschleunigung ist nicht stärker als die bei einem Flugzeugstart.
Die Feststoffraketen sind jetzt die Arbeitspferde, die das Shuttle durch die Wolkendecke drücken, und ihre Urgewalt bestimmt das Erlebnis der ersten zwei Minuten des Aufstiegs. Ihr leicht ungleichmäßiges Abbrennen, bedingt durch eine inhomogene Verteilung des Treibstoffes, versetzen dem Shuttle schnelle, starke Beschleunigungsschläge, die es durch und durch erschüttern und zu unregelmäßigem Schwingen anregen. Alles an Bord des Shuttles wird gnadenlos durchgeschüttelt. Es ist ein Ritt wie mit 100 Sachen über Kopfsteinpflaster – und es herrscht schweigende Stille. Nur ganz wenige Worte werden zwischen der Missionskontrolle und dem Commander gewechselt. Jeder der Beteiligten weiß, dass dies der mit Abstand kritischste Moment der ganzen Mission ist. Wenn jetzt etwas Unvorhergesehenes passiert, gibt es absolut keine Rettung. Auch die vielen Verbesserungen nach der Challenger-Katastrophe im Jahre 1986 haben daran nichts geändert. Feststoffraketen sind wie Silvesterraketen – sie lassen sich nicht abschalten. Selbst ein Absprengen der Booster würde nichts helfen! Ihre Schubkraft ist so enorm, dass der hohe Luftwiderstand beim plötzlich ausbleibenden Schub dem ganzen Shuttlesystem einen solchen Schlag versetzen und das gesamte Shuttle auseinanderbrechen würde! Sollte sich also, wie damals bei Challenger, der Feuerstrahl eines porös gewordenen Boosters wie ein Schneidbrenner in den externen Tank brennen – es ließe sich damals wie heute nichts dagegen tun. In diesen zwei Minuten ist die Besatzung dem Shuttle auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Daher diese wortlose Stille.
Die Columbia auf ihrem Weg ins All durchschlägt die Wolkendecke in etwa 5 km Höhe. (Bild: NASA)
AB JETZT KEIN ZURÜCK MEHR
Die Beschleunigung, die Kraft, mit der man in den Sitz gepresst wird, hat zwischenzeitlich in dem Maße langsam zugenommen, in dem das Shuttlesystem um den abgebrannten Treibstoff leichter geworden ist. Kurz vor dem Abschlussbrand der Feststoffbooster, genau zwei Minuten nach dem Abheben, sind 1,8 g, also das 1,8-fache der Erdschwere, erreicht. Der Schub der ausgebrannten Booster geht schnell auf null zurück, und gleich darauf werden sie abgesprengt.
Ist das vorüber, geht ein Aufatmen durch das Shuttle. Der eine oder andere kann sich ein »Jeahhh« nicht unterdrücken und jeder denkt genauso: Die größte Gefahr ist vorbei! Die Probleme, die jetzt noch auftreten könnten, lassen sich alle irgendwie meistern, sie wären nicht mehr so lebensbedrohlich.
Nach diesem befreienden Schubloch, in dem die Booster abgesprengt wurden, erzeugen nur noch die Flüssigkeitsantriebe den Schub. Ihr Abbrand ist wesentlich gleichmäßiger als der der Booster. Man hat außerdem schon die dichten, turbulenteren Bereiche der Atmosphäre verlassen. Es sind kaum mehr Vibrationen zu spüren. Die ganze harmonische Kraft der Antriebe äußert sich jetzt ausschließlich in dem stetig zunehmenden Andruck in den Sitz. Nach 4 Minuten 20 Sekunden kommt der »Negative Return Call« (was bedeutet, dass im Ernstfall eine Rückkehr nach Kennedy Space Center und eine dortige Landung nicht mehr möglich wäre) von der Missionskontrolle Houston.
Nach insgesamt 7 Minuten, wenn der riesige, rostrote externe Tank zu 90% entleert und das Shuttlesystem weniger als 200 Tonnen leicht geworden ist, erst dann hat der Andruck durch den Schub der drei Flüssigkeitsantriebe auf 3 g zugenommen, sodass man sich zwingen muss zu atmen, weil es einfach angenehmer ist, nicht zu atmen – trotz Atemnot –, als durch die Atmung den Brustkorb mitsamt dem schweren Anzug nach oben zu stemmen.
Die Antriebe werden nun gedrosselt und es geht noch 1½ Minuten bei diesen 3 g weiter. Dann, kurz bevor der Tank vollkommen entleert ist, lässt der Commander wissen: »In 10 seconds we have MECO« (Main Engines Cut-Off), und innerhalb nur weniger Sekunden fährt er den vollen Schub auf null herunter. Genauso plötzlich entlädt sich der Andruck von 3 g in die Schwerelosigkeit – ich bin im Weltraum!
Nach nur 8½ Minuten ist das Shuttle im Weltraum und schwebt mit weit geöffneten Ladebuchtluken (zur Kühlung) in nur etwa 350 km Höhe. (Bild: NASA)
Hier im Weltraum ist man sofort eingefangen von der Schwerelosigkeit, einem Gefühl, das es auf der Erde in dieser Form nie gibt. Zunächst macht sich diese neue Erfahrung bei etwa 70% aller Raumfahrer gar nicht wohltuend bemerkbar, sie leiden deswegen vielmehr an der Weltraumkrankheit. Man merkt es auch selbst: Bei jeder schnellen Drehung des Körpers, bei jeder schnellen Kopfbewegung wird einem mulmig. Als erste Gegenmaßnahme ziehen viele unwillkürlich den Kopf zwischen die Schultern, was die Kopfbewegungen stark einschränkt. Das mildert, verhindert jedoch nicht grundsätzlich den Gang des letzten Essens nach oben. Zurückhalten macht die Sache nur noch langwieriger. Ein Griff zur Tüte in der Brusttasche und einmal den Dingen freien Lauf lassen. Bei vielen gesellen sich noch Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, anhaltendes Unwohlsein dazu. Die, bei denen absolut nichts mehr geht, lassen sich von ihrem Kollegen eine Spritze mit Phenagran (ein Seditativ) setzen, von ihrem Commander vorläufig »arbeitsunfähig« schreiben und suchen sich zum Auskurieren der Raumkrankheitssymptome für die nächsten Stunden ein ruhiges Eckchen – am besten ihre Schlafkoje.
Nun die gute Nachricht: Nach spätestens 36 Stunden ist alles vorbei, und dann kann man die Schwerelosigkeit so richtig genießen. Schließt man nun in Ruhe die Augen und lässt sich langsam durch den Raum driften, die Arme und Beine in ganz lockerer Haltung leicht angewinkelt, dann gibt es nichts, was einen noch beeinflussen könnte, und man kann sich vollkommen auf das eigene Empfinden konzentrieren.
DAS GEFÜHL DER SCHWERELOSIGKEIT
Ich hatte zunächst das Gefühl, als wiederhole sich ein Traum. In meiner Jugend träumte ich oft, ich liefe vor unserem Haus eine abschüssige Straße hinunter. Ich wurde leichter und leichter, und irgendwann hob ich ab und schwebte. Ich flog nicht, ich schwebte, und nirgendwo sonst hatte ich im täglichen Leben je dieses Gefühl. Und genau dieses Gefühl, das ich während des Traumes hatte, ist nahezu identisch zu dem in der Schwerelosigkeit. Es ist unter Psychologen bekannt, dass der Traum vom Laufen, Abheben und Schweben unter den Menschen sehr verbreitet ist. Ist also dieser Traum eine unbewusste Erfahrung der Schwerelosigkeit? Wie kann der Körper etwas sehr Realistisches träumen, was er nie wirklich erfahren hat? Oder ist dieser Traum eine lustvolle Variante des Verstandes auf die kurze, aber gefährliche Schwerelosigkeitserfahrung »Fallen« im Alltag?
Der Autor Ulrich Walter schwerelos auf seiner D2-Shuttle-Mission im Jahre 1993. (Bild: NASA/Ulrich Walter)
Was empfindet man im Zustand der Schwerelosigkeit? Zunächst fällt auf, dass etwas Wichtiges fehlt. In welchem Bezug zur Umgebung befinde ich mich gerade? Wo ist die Decke mit den Lampen und wo der Boden? Ich weiß es nicht mehr. Ich habe auch kein Gefühl mehr dafür – und ein Oben und Unten gibt es tatsächlich nicht mehr! Diese fehlende Beziehung ändert mein Empfinden radikal. Ich fühle mich nicht mehr in eine Welt eingebettet, die mich gerade noch umgab, sondern alles Sein reduziert sich nur noch auf mich. Wie kann es etwas anderes geben, zu dem ich keinerlei Beziehung mehr habe? Und selbst wenn es da irgendwo etwas gibt, ist es dann nicht dasselbe, als wenn es das nicht gäbe? Ich habe das elementare Gefühl, allein zu sein. Ich bin die Welt – sonst nichts!
Diese Hinwendung auf das Ich lässt einen nur noch mehr in sich hineinhorchen. Was hat sich an mir geändert? Mir fällt auf, dass nichts mehr belastet. Auch die Kleidung, die einen immer noch wärmt, ist schwerelos und schwebt wie eine Hülle um den eigenen Körper und liegt fast nirgendwo mehr auf. Das ist so eigenartig und ungewöhnlich, dass man mit den Schultern ein wenig wackelt, um zu fühlen, ob die Kleidung noch da ist.
Aber nicht nur die Last der Kleidung fehlt, auch die Last des eigenen Körpers ist verschwunden. Kein Körperdruck mehr auf die Fußsohlen wie beim Stehen oder auf den Allerwertesten beim Sitzen auf der Erde. Die Arme liegen nirgendwo auf wie sonst immer. Es ist schon eigenartig: Erst in dieser Situation, wo man absolut nichts mehr vom Körper verspürt, erkennt man umfassend, welche Belastungen der Körper auf der Erde wirklich hat, obwohl es doch genau umgekehrt sein sollte! Erst nach dieser Erfahrung wird mir heute das kaum spürbare Herunterhängen der Wangen bewusst. Und dieses leichte Schmetterlingsgefühl in meiner Magengegend ist, wie ich heute weiß, das Ziehen der Eingeweide unter dem Einfluss der Erdschwere. In der Schwerelosigkeit ist einfach absolut nichts mehr davon da. Man ist im wahrsten Sinne des Wortes »vollkommen unbeschwert«.
Vollkommen unbeschwert. Woran merke ich dann eigentlich noch, ob ich einen Körper habe, wenn nicht an diesen äußeren Eindrücken? Und die eigene Antwort ist verblüffend: Es scheint so, als gäbe es ihn tatsächlich nicht mehr! Nichts, aber auch gar nichts, deutet mehr auf ihn hin. Eigenartig, ein Sein ohne Körper! Aber was ist denn dann noch das, was ich als mein Sein empfinde? Auf der Erde hatte ich meinen Körper, und im Nachhinein erst merke ich, wie ich in der Erdschwere mein eigenes Sein doch nur über die Erfahrung des eigenen Körpers definierte. Ich wackle leicht mit den Schultern und tippe mit beiden Daumen auf die Zeigefinger. Jawohl, da ist er noch – da bin ich noch! Doch nun, ohne ihn, bin ich noch da? Natürlich bin ich noch da, ich spüre es, sonst könnte ich mir diese Frage nicht stellen! Aber genau das ist es! Das einzige, was mir bleibt, was mich ausmacht, ist das Denken. Ich denke, also bin ich! Das ist das Besondere an der Schwerelosigkeit: Sie reduziert, auf einen selbst, auf den Geist.
UND DANN IST DA NOCH DER UNBESCHREIBLICH SCHÖNE BLICK AUF DIE ERDE
Erwartungsvoll schaue ich hinaus und sehe … Wasser! Nichts als tiefblaues Wasser! Meine tägliche Er...