Sozialphilosophie
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Was ist Gesellschaft? Sie ist unser Raum und unsere Zeit, ihr gehören wir untrennbar an und stehen doch auch immer außerhalb von ihr. Ihre hierarchische Ordnung und ihr Gedächtnis spiegeln sich in den unvermeidbaren Konflikten, die in Wirtschaft und Politik besonders weitreichend sind. Unverzichtbar für ihre Lösung ist es dabei, sich über sozialethische Maßstäbe wie Gerechtigkeit zu verständigen.Zwei Brennpunkte dieser Debatte sind die Fragen nach der Gestaltung der Globalisierung und der Rolle von Religion in demokratischen Gesellschaften.O DER EINZELNE IN DER GESELLSCHAFTO DIE DYNAMISCHE GESELLSCHAFTO MODERNE UND NATÜRLICHE GESELLSCHAFTO WAS HEISST GERECHTIGKEIT?O TRANSFORMATION DER WELTGESELLSCHAFT: GLOBALISIERUNG UND PHILOSOPHIEO RELIGION IN (POST)MODERNER GESELLSCHAFT

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WAS HEISST GERECHTIGKEIT?

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Mit der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls 1971 ist die politische Philosophie wieder salonfähig geworden im weiten Feld philosophischer Debatten. Was Gerechtigkeit aber genau bedeutet – das ist alles andere als unumstritten. Kann Gerechtigkeit als ein einheitliches Prinzip gefasst werden oder gibt es Gerechtigkeit nur im Plural? Bezieht sich Gerechtigkeit mehr auf die Handlung des Einzelnen oder ist sie ein Bewertungsraster für politische Institutionen? Die Vorlesung zeigt die politische Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und gibt eine Antwort auf die Ausgangsfrage: Welches Verständnis von Gerechtigkeit kann überzeugen?

Was bedeutet Gerechtigkeit? Spurensuche im Alltagsverständnis

Das Nachdenken über politische Fragen in der Philosophie war im 20. Jahrhundert nicht immer populär gewesen. In den siebziger Jahren hat sich das grundlegend geändert. Denn 1971 hat der mittlerweile verstorbene US-amerikanische Philosoph John Rawls seine „Theorie der Gerechtigkeit“ vorgelegt. Das philosophische Nachdenken über Gerechtigkeit in Gesellschaft, Politik und Ökonomie spielt seither keine untergeordnete Rolle mehr, sondern ist zu einem zentralen Thema der Philosophie geworden.
Man könnte auch sagen, mit John Rawls ist die politische Philosophie wieder salonfähig geworden innerhalb der Philosophie. Gerechtigkeit ist seither ein Dreh- und Angelpunkt der politischen Philosophie, das ist gewissermaßen das Erbe der Theorie der Gerechtigkeit. Wenn man heute in die Vorlesungsverzeichnisse der Universitäten weltweit schaut, so spielt Gerechtigkeit deshalb eine zentrale Rolle.
Was aber bedeutet Gerechtigkeit überhaupt? Gerechtigkeit ist sicherlich, so lässt sich schnell feststellen, kein eindimensionaler Begriff, auch die Verwendungsweisen sind oft sehr unterschiedlich. Zum einen kann man danach fragen: Betrifft Gerechtigkeit eher den einzelnen Menschen, seine individuellen Verhaltensweisen oder betrifft Gerechtigkeit die gesamte Gruppe, d.h. eine größere Gemeinschaft oder gar die Weltgesellschaft als Ganze?
Eine zweite Facette, die in gewisser Weise mit der ersten zusammenhängt, wäre: Ist Gerechtigkeit eher eine Bewertung von einzelnen Handlungen oder von gesellschaftlichen Regeln? Der erste Aspekt von Gerechtigkeit bezieht sich auf den einzelnen Menschen, der zweite versteht Gerechtigkeit als eine ethische Kategorie zur Beurteilung von Institutionen.
Der dritte Aspekt, der heute in der Öffentlichkeit viel diskutiert wird, ist die Frage, ob Gerechtigkeit ein abstraktes und allgemeines Prinzip oder eine konkrete Regel ist, die beispielsweise in konkreten Verteilungskonflikten eine Orientierung bietet.
Ein vierter Aspekt von Gerechtigkeit betrifft seine Verwendung in unserer Alltagssprache. Beispielsweise sagen wir, „das war ein gerechter Wettbewerb“ oder „das Ergebnis eines Fußballspiels ist gerecht“. Bei Fußballkommentatoren findet man diesen Begriff sehr häufig. „Das war nicht gerecht, dass sie verloren haben“ – dieser Satz meint entweder, dass eigentlich die andere Mannschaft hätte gewinnen müssen oder dass der Schiedsrichter nicht anständig gepfiffen hat.
Diese vier Aspekte spannen ein Grundraster auf, wie Menschen den Begriff Gerechtigkeit verwenden. Wenn man sich nun der philosophischen Debatte zuwendet, dann kann man diese vier Aspekte in verschiedene philosophische Grundfragen übersetzen.
Eine erste zentrale Frage, die innerhalb der letzten zwanzig Jahre in der politischen Philosophie eine große Rolle gespielt hat, ist die nach dem Verhältnis von Gerechtigkeit auf der einen und Gleichheit auf der anderen Seite. Bedeutet, gerecht zu sein, jedem das gleiche zu geben oder kann Gerechtigkeit auch eine gewisse Form von Ungleichheit beinhalten? Und wenn es Ungleichheit gibt, worin besteht sie? Eine zweite philosophisch spannende Frage ist die nach dem Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit. Inwieweit ist unser Recht, beispielsweise unsere Verfassung, ein Ausdruck von Gerechtigkeit? Wie hängt der ethische Begriff von Gerechtigkeit mit unserem Rechtsverständnis zusammen? Eine dritte Frage, die in den aktuellen Diskussionen der politischen Philosophie oft auftaucht, ist folgende: Hat Gerechtigkeit etwas mit Verteilung zu tun? Und wenn ja, welche Verteilungsregel ist denn die gerechteste?
Ich möchte diese Unterscheidungen der Philosophie zum Thema Gerechtigkeit zum Einstieg an einem Beispiel illustrieren: Man stelle sich ein schönes Sommerfest vor. Man sitzt mit Freunden im Garten zusammen und stellt plötzlich fest, dass nicht genügend zu essen da ist. Man beschließt kurzerhand den Pizzaservice anzurufen und eine große Familienpizza XXL zu bestellen. In wenigen Minuten ist die Pizza da. Man setzt sich an den Tisch, und stellt sich nun die Frage: Wie teilen wir denn die Pizza auf?
Die erste Frage ist natürlich, wer bekommt denn bitteschön die entsprechenden Stücke, die man aus der Pizza herausschneidet. Sind es nur die Leute, die um den Tisch herum sitzen oder sollen auch die Menschen berücksichtigt werden, die gerade im Haus sind und nicht mitbekommen, dass die Pizza schon da ist. Man weiß vielleicht, dass um Mitternacht Uhr noch späte Gäste kommen: Soll man für sie auch Pizzastücke aufheben? Es geht in dieser Perspektive im Grunde um die Reichweite von Gerechtigkeit und die Frage, wer an der Verteilung der Pizza überhaupt beteiligt werden soll. Als zweites muss geklärt werden, nach welchem Verfahren aufgeteilt werden soll. Soll der Gastgeber bestimmen oder ein demokratisches Verfahren? Philosophisch wird diese Frage als Verfahrensgerechtigkeit diskutiert. Mit diesem Begriff ist die Suche nach einem gerechten Verfahren gemeint, mit dem entsprechende Güter, in unserem Fall die Pizza beim Sommerfest, aufgeteilt werden soll.
Wenn sich die Gäste auf ein entsprechendes Verfahren und die Reichweite von Gerechtigkeit verständigt haben, bleibt trotzdem noch eine entscheidende Frage: Wie wird die Pizza denn nun schlussendlich aufgeteilt? Hier möchte ich einige Vorschläge machen, die Spiegelbild der aktuellen philosophischen Debatte über Gerechtigkeit sind.
Ein erstes Kriterium liegt auf der Hand: gleich große Stücke. Wir sehen hier den umgangssprachlich schon aufgezeigten Zusammenhang von Gerechtigkeit und Gleichheit. Gerechtigkeit würde dann darin bestehen, dass sich die Verteilung an dem Kriterium der Gleichheit orientiert.
Ein Einwand gegen dieses Kriterium ist, dass Gleichheit letztlich kein adäquater Maßstab ist. Vielleicht hat der eine vorher schon zu Hause gegessen, der andere noch nicht. Wir teilen doch lieber danach auf, wer den größten Hunger hat, so ein Gegenargument, das sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert. Wer hat es am nötigsten von der Pizza zu essen? Man kann dies philosophisch als Bedarfsgerechtigkeit bezeichnen. Der, der den größten Bedarf hat, in diesem Fall: der, der den größten Hunger hat, kriegt das größte Stück der Pizza.
Eine dritte Möglichkeit betont, wer die Pizza bezahlt hat. Vielleicht war einer der Gäste sehr großzügig und hat gesagt: „ich übernehme natürlich die Pizza, der Gastgeber hat uns schon die ganzen Getränke gestellt und alles schön hergerichtet.“ Hat dieser Mann oder diese Frau nun ein Vorrecht auf ein größeres Stück? Man könnte argumentieren, dass derjenigen, der die Pizza bezahlt das größte Stück bekommt oder zumindest das Verfahren zur Verteilung festlegen darf. Das ist eine Form von Gerechtigkeit, die im aktuellen Diskurs auch als Leistungsgerechtigkeit bezeichnet wird. Derjenige, der am meisten leistet bekommt auch das größte Stück. Dieses Verständnis spiegelt sich auch in den erwähnten Fußballkommentaren wider.
An diesem Pizza-Beispiel werden verschiedene Facetten von Gerechtigkeit gut deutlich. Diese unterschiedlichen Maßstäbe spielen nicht nur in unserem Alltag und in der Philosophie, sondern ebenfalls in der Politik eine wichtige Rolle. Einige politische Konzepte von Gerechtigkeit seien angeführt, die direkt an das Pizzabeispiel anschließen.
Es gibt heute erstens viele öffentliche Debatten, die um das Feld der sozialen Gerechtigkeit kreisen. Wie geht beispielsweise eine moderne Gesellschaft, die vor dem Problem der Arbeitslosigkeit steht, mit den Arbeitslosen um? Gibt es eine Verpflichtung zur Unterstützung von Arbeitslosen oder gar eine zu sozialer Umverteilung? Gibt es Gründe für eine solidarische Arbeitslosenversicherung? Das, was in Deutschland heute unter Hartz-IV-Reform diskutiert wird, ist eine genuine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Dazu gehören auch die Diskussionen um die Höhe der Gehälter von Managern in Zeiten der Finanzkrise.
Ein zweiter Aspekt, der in der politischen Debatte hoch aktuell ist, ist die politische Gerechtigkeit. Diese zeigt sich z.B. bei den Diskussionen um die Europäische Union. Hier wird intensiv darüber gestritten, wie die EU, wenn sie immer mehr Mitgliedstaaten hat, politisch gerecht organisiert werden soll. Es geht also politisch um das, was vorhin als Verfahrensgerechtigkeit bezeichnet wurde. Wer bekommt wie viele Stimmen in der Europäischen Kommission? Wie werden Ministerentscheidungen organisiert? Gibt es ein Mehrheitsvotum oder nicht? Wer wird in diese Entscheidung mit einbezogen? All diese Fragen gehören zu dem Themenfeld der politischen Gerechtigkeit.
Ein letzter Aspekt, den ich aus dem politischen Diskurs nennen möchte, ist die Frage nach globaler Gerechtigkeit. Armut ist heute nach wie vor eines der drängenden politischen Probleme der Welt, wie beispielsweise die Millenniumsentwicklungsziele der Vereinten Nationen betonen. Wie kann die Weltgesellschaft aber das weltweite Armutsproblem in den Griff zu bekommen? Was bedeutet dabei globale Gerechtigkeit? Braucht es hierzu Entwicklungszusammenarbeit oder weitere Formen wirtschaftlicher Förderung und gerechter weltwirtschaftlichen Strukturen? Damit ist die Frage nach der Reichweite von Gerechtigkeit angesprochen.
Bisher habe ich das umgangssprachliche und politische Feld skizziert und erste Dimensionen von Gerechtigkeit identifiziert. Diese spielen wie bereits angedeutet auch in der aktuellen Diskussion der politischen Philosophie zu Gerechtigkeit eine wichtige Rolle. Ich möchte nun im Folgenden entlang verschiedener Philosophen versuchen, das Feld der philosophischen Debatte abzustecken. Ich möchte zu Beginn die eingangs erwähnte Theorie der Gerechtigkeit von Rawls in ihrer Grundidee skizzieren und diese als Referenzpunkt verwenden. Man kann die politische Philosophie nach 1971, also nach der Veröffentlichung der „Theorie der Gerechtigkeit“, als eine Antwort auf dieses Konzept von Gerechtigkeit verstehen. Insofern werde ich verschiedene Einsprüche gegen John Rawls vorstellen. Damit lässt sich ein sehr gutes Bild der aktuellen philosophischen Debatte über Gerechtigkeit zeichnen und die Frage klären, was bedeutet es denn nun wirklich, über Gerechtigkeit philosophisch nachzudenken.
Damit nun zum ersten Punkt, und zwar zur Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls als Referenzpunkt der aktuellen Debatte der politischen Philosophie.

John Rawls: Ein Meilenstein der philosophischen Debatte über Gerechtigkeit im 20. Jahrhundert

Ausgangspunkt der Überlegungen von John Rawls ist der große deutsche Philosoph Immanuel Kant, der im 18. Jahrhundert die Philosophie insgesamt grundlegend beeinflusst hat. Kant hatte vier philosophische Grundfragen gestellt: Was kann ich wissen? Die Frage nach der Erkenntnis. – Was ist der Mensch? Die Frage nach der Anthropologie.
Was darf ich hoffen? Die Frage nach der Religion bzw. Religionsphilosophie. – Und viertens: Was soll ich tun? Also die Frage der nach der politischen bzw. weiter gefasst: der praktischen Philosophie.
Kant hat bei der Beantwortung aller vier Fragen betont, dass Menschen durch ihre Vernunft ausgezeichnet sind. Wenn sie also z.B. über das menschliche Zusammenleben und eine überzeugende Antwort auf die Frage: „Was soll ich tun?“ nachdenken, dann können sie auf diese Frage eine vernünftige Antwort geben.
Im Bereich der praktischen Philosophie formuliert Kant diese Antwort als ein allgemeines vernünftiges Gesetz, und zwar als kategorischen Imperativ. Dieser kategorische Imperativ hat in der praktischen Philosophie eine enorm große Bedeutung und ist auch außerhalb der Philosophie berühmt geworden. Er ist gewissermaßen ein Kulminationspunkt des Nachdenkens der Aufklärung über Moral.
Es gibt verschiedene Fassungen dieses kategorischen Imperativs. Eine davon lautet: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.“
Das mag kompliziert klingen, bei genauerer Betrachtung zeigt sich dahinter jedoch eine verblüffend einfache Idee. Kant argumentiert, dass die moralischen Leitlinien für menschliches Zusammenleben nicht auf persönlichen Maximen oder Vorlieben für bestimmte Handlungen beruhen sollten. Der Imperativ für menschliches Handeln will von diesen Maximen abstrahieren.
Menschen sollen vielmehr so handeln, dass diese Handlung zugleich ein allgemeines Gesetz für alle Menschen sein könnte. Kant gibt also mit diesem kategorischen Imperativ keine festen Normen für menschliches Zusammenleben vor, sondern er begründet diesen Imperativ vielmehr rein formal. Menschen sollen bei jeder Handlung darüber nachdenken, ob sie ihr Handeln verallgemeinern können, d.h. ob ihre Handlung gleichzeitig ein allgemeines Gesetz für die gesamte Gemeinschaft sein könnte.
Auch wenn damit Kant keine festen Normen formuliert, so impliziert der kategorische Imperativ allerdings Annahmen, die für seine Argumentation unhintergehbar sind. Denn um den kategorischen Imperativ begründen zu können, braucht Kant die Annahme, dass Menschen vernünftig sind und sich frei für eine Handlung entscheiden können. Freier Wille und Vernunft sind also zwei wichtige Annahmen der kantischen Überlegung.
Rawls übernimmt genau diese Grundintuition von Kant. Er nimmt an, dass Menschen vernünftig sind und darüber nachdenken können, wie eine gerechte Gesellschaftsordnung aussieht. Aufgrund seiner Vernunftfähigkeit kommt der Mensch zu einer allgemeingültigen Antwort auf diese Frage. Die Pointe der Rawlschen Überlegung besteht darin, dass er dezidiert danach fragt, wie eine gerechte Gesellschaftsordnung aussehen kann. Er reformuliert also die kantische Frage „Was soll ich tun“ in folgende Frage um: „Wie sieht ein gerechtes Zusammenleben unter den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen aus?“
Wie Kant möchte Rawls dabei keine Religion oder Weltanschauung voraussetzen. Eine gerechte Gesellschaftsordnung darf nicht von weltanschaulichen Prämissen oder subjektiv geprägten Vorstellungen von Gerechtigkeit abhängen. Vielmehr möchte Rawls von diesen weltanschaulichen Grundannahmen abstrahieren und ein allgemeingültiges, d.h. ein für alle Menschen überzeugendes Verständnis von Gerechtigkeit begründen.
Gerechtigkeit meint dabei für ihn eine gerechte Gestaltung der Institutionen von Politik, Ökonomie usw. Gerechtigkeit, so formuliert Rawls pointiert, ist für ihn die erste Tugend sozialer Institutionen. Was nun genau unter Gerechtigkeit verstanden werden soll, um Institutionen als gerecht bewerten zu können, dies ist das Ziel seiner Überlegungen.
Die Bedingungen für dieses philosophische Projekt benennt Rawls gleich zu Beginn seiner Überlegungen. Er betont, dass die Grundsätze der Gerechtigkeit letztlich vier Bedingungen genüge leisten müssen: Erstens – und hier folgt Rawls ganz dem Aufklärer Kant – sollten die Grundsätze der Gerechtigkeit allgemeingültig sein, d.h. sie müssen für alle Menschen, die innerhalb einer Gesellschaft leben, gleichermaßen verständlich und überzeugend sein. Zweitens sollten die Grundsätze uneingeschränkt anwendbar sein, d.h. sie sollten für alle denkbaren sozialen Konflikte innerhalb der Gesellschaft eine vernünftige Lösung anbieten können. Drittens sollten die Grundsätze der Gerechtigkeit den konkurrierenden Ansprüchen der einzelnen Individuen eindeutige Regeln geben. Und schlussendlich sollten sie viertens einen gewissen endgültigen Zuschnitt haben, d.h. sie sollten nicht schon in einigen Jahren wieder überholt sein.
Damit sind die Bedingungen benannt, denen ein Gerechtigkeitskonzept genüge leisten sollte. Wie kann eine solche aber nun begründet werden? Hierzu stellt Rawls ein Gedankenexperiment an. Dieses Gedankenexperiment ist intuitiv verständlich und hat sicherlich auch deswegen so viel Resonanz innerhalb der praktischen Philosophie hervorgerufen. Rawls lädt seine Leserinnen und Leser ein, sich einen fiktiven Urzustand vorzustellen. Dieser Urzustand darf nicht als eine historische Frühphase der Menschen verstanden werden, in dem Menschen um ein Feuer herumsitzen und überlegen, was Gerechtigkeit bedeutet. Sondern es ist vielmehr ein fiktiver Urzustand gemeint. Die Menschen wollen in diesem Urzustand erstens ihre individuellen Lebenspläne verwirklichen. Das heißt z.B., dass sie selber entscheiden wollen, wie sie leben, welchen Beruf sie ergreifen und welche Weltanschauung sie haben. Im Urzustand haben Menschen also individuelle Lebenspläne, die sie verwirklichen möchten. Und zweitens möchten Menschen im Urzustand einen möglichst gerechten Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen der Menschen erzielen.
Wie kann aber nun sichergestellt werden, dass dieser gerechte Ausgleich allgemeingültig ist? Rawls argumentiert, dass Menschen dies am besten können, wenn sie sich vorstellen, dass sie in diesem fiktiven Urzustand hinter einem Schleier des Nichtwissens leben. Schleier des Nichtwissens meint ganz einfach, dass den Menschen die Augen verbunden werden und sie kein Wissen über sich und die Menschen haben, die mit ihnen im Urzustand leben. Sie wissen nicht, ob sie groß oder klein sind, ob sie eine schwarze oder weiße Hautfarbe haben. Sie wissen auch nicht, ob sie Mann oder Frau, Bank-Manager oder Hartz-IV Empfänger sind. Wenn sich Menschen nun hinter diesem Schleier des Nichtwissens überlegen, was denn eine gerechte Gesellschaftsordnung ist, dann kommen sie letzten Endes zu allgemeingültigen Aussagen, weil sie von ihrer eigenen gesellschaftlichen Stellung und ihren persönlichen Maximen abstrahieren. Rawls betont, dass wenn Menschen von solchen Vorentscheidungen abstrahieren, sie zu einer allgemeingültigen und für alle Beteiligten vernünftigen Konzeption von Gerechtigkeit gelangen. Die entscheidende Frage ist natürlich. Für welche Gerechtigkeitsprinzipien entscheiden sich die Menschen in dieser Situation?
Rawls argumentiert, dass sich die Menschen schlussendlich für zwei Gerechtigkeitsprinzipien entscheiden. Der erste Grundsatz lautet: Grundfreiheiten sind für die Menschen das Wichtigste. Nur so kann die Gleichheit aller Menschen in einer gesellschaftlichen Ordnung realisiert werden und deswegen würden sich alle Menschen für gleiche Grundfreiheiten entscheiden. Als Gerechtigkeitsprinzip formuliert Rawls dies folgendermaßen: „Jeder Mensch hat das gleiche Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist.“
Rawls denkt in diesem Zusammenhang an Gedankenfreiheit, Freiheit der politischen Rede, Demonstrationsfreiheit, Gewissensfreiheit usw. Für diese Grundfreiheiten würden sich Menschen im Urzustand als erstes entscheiden.
Der zweite Grundsatz bezieht sich auf mögliche Ungleichheiten innerhalb dieses Urzustandes. Rawls argumentiert, dass Menschen sich für zwei Einschränkungen der Grundfreiheiten entscheiden würden. Den ersten Aspekt benennt er folgendermaßen: „Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offen stehen.“ Dieser Grundsatz ist leicht zu verstehen, weil er ein Grundpfleiler jeder Demokratie ist. Demokratische Gesellschaften bauen nämlich auf dem Grundsatz auf, dass alle politischen Ämter, aber auch alle Positionen von der Ökonomie bis hin zur Wissenschaft potenziell allen Menschen offen stehen. Jeder soll die Chance haben, seinen Beruf frei zu wählen und grundsätzlich die Möglichkeit haben, wenn er eine bestimmte Anstrengung macht, auch diese Position auszufüllen. Das bedeutet, dass Ungleichheiten in einer Gesellschaft nur insofern zugelassen werden dürfen als damit eine grundlegende Chancengleichheit des Zugangs zu Ämtern nicht verletzt wird. Keine gesellschaftliche Gruppe darf hier bevorzugt werden. Es lässt sich deshalb z.B. nicht begründen, dass Adlige ein Grundrecht auf bestimmte Position (z.B. Richterämter) haben. Dies wäre eine Form von Ungleichheit, die Menschen in einem Urzustand ablehnen würden. Rawls nennt noch eine zweite Facette hinsichtlich der Frage nach möglichen Ungleichheiten. Er formuliert sie im so genannten Differenzprinzip, das zu dem zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz gehört, für den sich Menschen hinter dem Schleier des Nichtwissens entscheiden.
Rawls betont, dass Ungleichheiten so beschaffen sein müssen, dass sie zum größten Vorteil der am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder werden. Das heißt, Ungleichheiten im Bereich des Sozialen oder Wirtschaftlichen werden nur insofern zugelassen als die am wenigsten Begünstigten in einer Gesellschaft auch einen Vorteil daraus haben. Wenn Ungleichheiten beispielsweise bedeuten, dass sie auf Kosten der Ärmsten in einer Gesellschaften gründen, dann würden Menschen nach der Argumentation von Rawls hier aus Sicht der Theorie der Gerechtigkeit große Bedenken anmelden.
Zusammenfassend zur Theorie der Gerechtigkeit kann man folgendes festhalten: Die beiden Grundsätze der Gerechtigkeit, für die sich Menschen im Urzustand entscheiden, rechtfertigen im Grunde einen liberalen und sozialen Rechtsstaat. Dieser ist auf der einen Seite durch ein System von Grundfreiheiten und auf der anderen Seite durch Chancengleichheit bezüglich des Zugangs zu Ämtern gekennzeichnet. Mit dem zweiten Prinzip wird außerdem eine bestimmte Sozialverfassung der Gesellschaft begründet. Man denke beispielsweise an soziale Versicherungssysteme, wie Arbeitslosen- oder Gesundheitsversicherungen. Diese Sozialsysteme, die sich aus dem zweiten Gerechtigkeitsgrundsatz begründen lassen, stellen einen sozialen Ausgleich her. Sie lassen zwar ökonomische Ungleichheiten zu – es gibt Leute, die verdienen mehr andere weniger. Aber im gesellschaftlichen Gesamtsystem wird ein sozialer Ausgleich institutionalisiert. Wenn jemand arbeitslos wird oder eine schwere Krankheit erleidet, wird er vom Gesamtsystem solidarisch aufgefangen. Dies ist eine Frage der Gerechtigkeit.
Rawls betont zwar, dass die Grundfreiheiten einen Vorrang haben, d.h. dass diese niemals außer Kraft gesetzt werden dürfen. Trotzdem argumentiert er gleichzeitig für eine Verschränkung der beiden Prinzipien. Gerechtigkeit als Kennzeichen moderner Gesellschaften braucht immer beide Facetten von Gerechtigkeit. Denn Menschen würden sich in einem fiktiven Urzustand hinter dem Schleier des Nichtwissens für beide Prinzipien von Gerechtigkeit entscheiden. Rawls gelingt es mit diesen Überlegungen, allgemeingültige Gerechtigkeitsprinzipien aufzustellen, die sich subjektiver Wertaussagen enthalten,...

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