Was ist der Mensch? Teil 6
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Was ist der Mensch? Teil 6

Leiden und Tod

  1. 12 Seiten
  2. German
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Was ist der Mensch? Teil 6

Leiden und Tod

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Über dieses Buch

Neben anderen Wissenschaften bemüht sich auch die Philosophie darum, den Menschen zu verstehen. Sie fragt, wie wir trotz aller Krisen zufrieden mit unserem Leben sein können. Nicht Gesundheit, Reichtum oder Erfolg sind dabei tatsächlich wichtig.Auf zwei Dinge komm es an. Erstens, ob wir tiefe persönliche Beziehungen haben, Menschen lieben und geliebt werden. Und zweitens, ob wir etwas tun, das nicht nur für uns selbst sinnvoll, sondern auch für die Gemeinschaft und Schöpfung wertvoll ist.LEIDEN UND TODEin Leben gelingt nicht nur dann, wenn alles nach unseren Wünschen läuft. Zu einem "gelingenden Leben" gehört auch die Auseinandersetzung mit Krisen und Scheitern.Die Auswirkungen der Dinge, die in unserem Leben passieren oder nicht passieren, haben ganz wesentlich mit der inneren Einstellung zu tun. Dabei zeigt sich: Seblst dann, wenn wir in unserem Leben Krisen bewältigen können - stellt der Tod nicht letztlich den ganzen Sinn unseres Lebens in Frage? Oder ist der Tod eigentlich erst eine Voraussetzung dafür, dass unser Leben sinnvoll sein kann?

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Information

Meine Damen und Herren,
herzlich willkommen zur letzten Vorlesung über unser Nachdenken über das Wesen des Menschen, die philosophische Anthropologie. Die vergangenen Ausführungen könnten bei Ihnen vielleicht einen unangenehmen Beigeschmack hervorgerufen haben. Ich habe ja versucht dafür zu argumentieren, dass das gelungene Leben darin besteht, dass wir lieben, dass wir tiefe persönliche menschliche Beziehungen haben, und dass wir tätig sind, dass wir etwas tun, was sinnvoll und was für andere Menschen wertvoll ist.
Aber, so könnten Sie nun einwenden, das Leben besteht ja nun wahrlich nicht nur darin, dass unsere Beziehungen immer tiefer und tiefer werden, dass unser Leben immer mehr gelingt, dass unsere Arbeit immer sinnvoller wird, sondern im Gegenteil: Oft ist unsere Lebensrealität ja gerade die, dass Beziehungen zerbrechen, dass wir aus der Arbeit fallen, dass Tätigkeiten sinnentleert werden.
Wir müssen uns also mit dem Scheitern auseinandersetzen, denn unser Leben besteht nicht nur darin, dass Dinge gelingen, dass sie schön sind, sondern ebenso darin, dass Dinge scheitern, dass sie zerbrechen. Was heißt das für unsere Überlegungen zum gelungenen Leben und zum Wesen des Menschen? Bleibt, wenn die Dinge nicht so laufen, wie wir es uns wünschen, wenn Beziehungen zerbrechen, wenn Tätigkeiten nicht gelingen, als Alternative nur die Antwort: Gut, dann ist unser Leben eben nicht gelungen, dann ist es gescheitert, und dann müssen wir notwendig unzufrieden mit unserem Leben sein?

Leiden und Scheitern

Ich möchte damit beginnen, Ihnen noch einmal eine wichtige begriffliche Differenzierung in Erinnerung zu rufen. Wir haben ja unterschieden zwischen dem gelebten Leben, das wir haben, und der Einstellung zu diesem gelebten Leben. Die Einstellung zum gelebten Leben, haben wir, wenn das gelebte Leben ein gelungenes Leben ist, Zufriedenheit genannt. Wenn die Dinge in unserem Leben gelingen, dann sind wir zufrieden mit unserem Leben.
Nun kann man noch einmal unterscheiden zwischen dem gelungenen Leben und dem geglückten Leben. Nicht dem glücklichen Leben, sondern dem geglückten Leben. Wir könnten sagen: Damit unser Leben wirklich glückt, und damit wir sagen können, unser Leben ist geglückt, gehört mehr dazu, als dass unser Leben nur gelungen ist. Dafür, ob unser Leben gelingt oder nicht gelingt, sind wir oft selber verantwortlich. Aber zum geglückten Leben muss noch mehr hinzukommen. So etwas wie ein glücklicher Zufall, dass wir mal die richtigen Menschen genau in der richtigen Situation treffe, oder dass wir in den Unsicherheiten, die schwierige Entscheidungen mit sich bringen, doch eine Entscheidung treffen, die sich dann im Nachhinein als die richtige Entscheidung herausstellt.
Wir Menschen können nicht bewirken, dass unser Leben glückt oder geglückt ist. Das liegt nicht in unserer Macht. Aber, so können wir fragen, liegt es auch nicht in unserer Macht, dass unser Leben gelungen ist? Denn, was ist, wenn Dinge in unserem Leben passieren, die wir uns so nicht gewünscht haben? Müssen wir dann notgedrungen unzufrieden mit unserem Leben sein?
Eine Art der Erklärung ergibt sich aus dem, was wir im zweiten Kapitel über das gute Leben gesagt haben: Ein Leben ist dann gut, wenn es unseren Wünschen und Interessen entspricht. Was, wenn nun aber nicht eintritt, was wir uns von unserem Leben wünschen, um dadurch glücklich zu werden? Das bedeutet natürlich noch nicht, dass wir dadurch schon unglücklich werden. Denn es könnte ja sein, dass der Wunsch ganz unaufgeklärt und falsch gewesen ist. Wir könnten uns darin geirrt haben, dass uns die Erfüllung dieses Wunsches tatsächlich glücklich gemacht hätte. Das haben wir in der zweiten Folge dieser Reihe hinlänglich bedacht.
Diese Art und die Struktur der Erklärung ist interessant. Sie wurde von vielen Philosophen hervorgebracht, um Leiden und Scheitern zu erklären. Im zehnten Buch der ‚Gesetze’, der ‚Nomoi’, bringt Platon folgenden Mythos, der erklären soll, warum Menschen fälschlicherweise der Auffassung sind, Gott könne zornig sein:
Gott hat, Platon zufolge, das gesamte Universum auf eine bestimmte Art und Weise geordnet und strukturiert. Und zwar so, dass jeder Mensch seinen ihm zukommenden Platz im Universum einnimmt. Der Mensch hat nun zwei Möglichkeiten: entweder er akzeptiert diesen Platz, auf den Gott ihn ursprünglich gestellt hat, und wenn er diesen Platz akzeptiert, wenn er dem Universum angemessen lebt, dann wird er glücklich. Wenn der Mensch diesen Platz allerdings nicht einnehmen möchte, wenn er diesen Platz nicht akzeptiert, dann rennt er gegen die Wirklichkeit an, dann passieren ihm Dinge, die sein Leben tatsächlich scheitern lassen, weil er nicht wirklichkeitsangepasst lebt. Und dann ist er fälschlicherweise der Auffassung, Gott sei zornig, weil ihm eben Dinge passieren, die ihn schmerzen. Ich möchte diese philosophische Erzählung nicht vertiefen, sondern Ihnen nur deutlich machen, dass die Art und Struktur dieselbe ist: Dass wir mit unserem Leben unzufrieden sind, liegt an einem intellektuellen Fehler, den wir machen, wenn wir über unser Leben nachdenken.
Nun, diese Art der Erklärung deckt sicher einige Fälle von Scheitern und von Leiden in unserem Leben ab. Aber sie wird geradezu zynisch und außerordentlich problematisch, wenn einem Menschen Dinge in seinem Leben zustoßen, die tatsächlich das Ergebnis von Brutalität, Katastrophen oder Ungerechtigkeit sind. Es gibt viele oder kann viele äußere Geschehnisse im Leben eines Menschen geben, die nichts damit zu tun haben, dass der Mensch falsch über sich nachdenkt und die den Menschen tatsächlich vor eine enorme Herausforderung stellen, das, was ihm im zustößt, noch in ein gelungenes Leben integrieren zu können.
Für die Stoiker, an die ich in diesem Zusammenhang noch einmal erinnern möchte, hat sich dieses Problem so nicht gestellt. Sie waren der Auffassung, dass es überhaupt nur eine Sache gibt, die allein hinreichende und notwendige Bedingung dafür ist, dass wir ein geglücktes und glückliches Leben leben, nämlich die Tugend. Und das heißt, allein die innere Einstellung ist entscheidend. Denn ob wir gerecht handeln, um nur eine dieser Tugenden zu nennen, liegt ausschließlich an uns. Und wenn die Frage, ob unser Leben gelingt, nicht mehr davon abhängt, was uns in unserem gelebten Leben für Dinge passieren, sondern ausschließlich davon, wie wir selber reagieren, also von unserer inneren Haltung und Einstellung gegenüber den Dingen, dann ist klar, dass wir natürlich ganz unabhängig sind von dem, was in unserem Leben passiert. Ob unser Leben gelingt, ob wir zufrieden mit unserem Leben sind, liegt dann tatsächlich ausschließlich an uns.
Ich denke, dass einerseits an dieser These natürlich etwas Provozierendes, etwas Übertriebenes ist, aber andererseits ist an ihr auch etwas Wahres dran. Denn die Frage, ob wir zufrieden mit unserem Leben sind, ist immer eine Frage unserer inneren Einstellung gegenüber dem, was im gelebten Leben tatsächlich passiert.

Zufriedenheit

Ich möchte, um diesen Gedanken noch etwas auszuführen und klarer zu machen, noch einmal den Begriff der Zufriedenheit etwas genauer anschauen. Was ist das für eine innere Haltung, die wir brauchen, wenn wir zufrieden sind?
Ich möchte zwei Momente daran unterscheiden: Der eine ist so etwas wie Dankbarkeit und Freude. Wenn auf der Ebene des gelebten Lebens Dinge passieren, die unseren Wünschen und Interessen entsprechen und die wohl aufgeklärt sind, wenn Beziehungen immer tiefer, immer persönlicher werden, wenn man den Kern des anderen Menschen erkennt, wenn wir Tätigkeiten machen können, die uns beglücken, die sinnvoll sind und die für andere wertvoll sind, dann ist die Zufriedenheit mit unserem eigenen Leben angefüllt von so etwas wie einer Dankbarkeit und wie einer Freude unserem Leben gegenüber.
Andererseits, wenn Dinge in unserem Leben passieren, die uns schmerzen, die uns wütend machen, die uns aggressiv machen, die eine tiefe Trauer in uns hervorrufen, eine Hoffnungslosigkeit, dann sind wir natürlich erst mal nicht mit unserem Leben zufrieden. Und wie, das ist jetzt die Frage, können wir von diesen Reaktionen wie Wut, Hoffnungslosigkeit, Trauer und Hass, zu einer Zufriedenheit kommen, die dann vielleicht nicht gleich in Freude und Dankbarkeit besteht, aber doch zumindest in einer Zufriedenheit, einer Bejahung unseres Lebens?
Ich glaube, dass das nur durch Versöhnung geht. Das geht nur, wenn wir die Dinge in unserem gelebten Leben, die in uns Trauer, Hass, Hoffnungslosigkeit, diese ganzen negativen Emotionen, hervorrufen, wenn wir die versöhnen können und wenn aus dieser Versöhnung dann eine Zufriedenheit unserem gelebten Leben gegenüber erwächst. Das ist natürlich ein dynamischer Prozess. Es beginnt damit, dass wir zunächst zufrieden sind mit dem, was auf der Ebene des gelebten Lebens stattfindet.
Dann brechen Dinge in unser Leben ein, die dazu führen, dass wir unzufrieden sind mit unserem Leben. Wir sind nicht mehr froh und dankbar, wir sind nicht zufrieden, sondern wir sind hoffnungslos, wir sind wütend. Das bezieht sich auf diese Dinge, die in unserem Leben schlimm gelaufen sind oder schlimm laufen, auf die Verletzung, Verwundung, auf das, was wir nicht ändern können in unserem Leben, was uns zustößt. Und jetzt müssen wir in einen inneren Prozess eintreten, der die Wut, die Trauer, die Hoffnungslosigkeit umwandelt in eine Zufriedenheit, die dann wieder eine Bejahung des gelebten Lebens bedeutet. Warum müssen wir diesen Versöhnungsprozess gehen? Zwei Argumente scheinen mir da wichtig zu sein.
Zum ersten Argument: Ich möchte Sie noch einmal an die Überlegungen erinnern, die ich im zweiten Kapitel der Vorlesung entwickelt habe. Jedes Wünschen, Wollen, Streben usw. setzt ein Werturteil voraus, nämlich das Werturteil, dass das, was ich erstrebe, gut für mich ist. Gut bedeutet hier förderlich für das gelungene Leben. Wir wollen etwas in der Annahme, dass es uns für das gelungene Leben hilfreich ist. Aber wir wollen vor allem eines: das gelungene Leben selbst. Das heißt, immer wenn wir etwas anstreben, wollen, wünschen, bedeutet das, dass wir im Grunde das gelungene Leben wollen. Wir haben ein ureigenes Interesse daran, unser eigenes Leben bejahen zu können.
Die Alternative zur Bejahung des Lebens bestünde nur darin, jedes Bestreben aufzugeben, nichts mehr zu hoffen, nichts mehr zu wünschen, nichts mehr zu wollen. Sobald wir wollen, wollen wir etwas, weil es glücksförderlich, weil es förderlich für unser gelungenes Leben ist, und wollen das gelungene Leben selbst. Das heißt, wir Menschen sind so, dass wir unser Leben bejahen wollen, dass wir eine Einstellung zu unserem Leben haben wollen, die das, was passiert, bejaht. Wir haben ein Interesse an der Bejahung. Angesichts von Wut, Trauer, Hoffnungslosigkeit, Hass usw. kann der Weg zur Zufriedenheit und zur Bejahung des Lebens nur über die Versöhnung führen.

Freiheit

Das zweite Argument arbeitet mit dem Begriff der Freiheit. Dabei benutze ich das Wort Freiheit jetzt nicht so, wie es eigentlich in der Ethik verwendet wird, also als Handlungs- und Entscheidungsfreiheit. Ich möchte auch nichts darüber sagen, ob wir Menschen frei sind oder frei sein können angesichts der Möglichkeit, dass das gesamte Universum determiniert, vorbestimmt ist, sondern es kommt mir auf folgendes Phänomen an: Es gibt in unserem Leben manchmal Menschen oder Situationen, in deren Gegenwart oder in denen wir uns unfrei und unwohl fühlen. Es gibt Situationen, die ausgelöst werden durch die Nähe zu anderen Menschen, in denen wir nicht so sein können, nicht das sagen können, uns nicht so geben können, wie wir uns eigentlich geben wollten und wie wir eigentlich gerne wären. Irgendwie üben diese Menschen Macht auf uns aus. Es geht ein Einfluss von ihnen auf uns aus, der uns unfrei macht. Nach solchen Begegnungen fragen wir uns: Wie konnte ich eigentlich so reagieren oder wie war es möglich, dass ich so etwas gesagt habe?
Nicht immer, aber doch in sehr vielen Fällen hängen solche Situationen und hängen solche Menschen damit zusammen, dass sie uns entweder verletzt haben oder dass sie uns selber an Verletzungen erinnern, die wir früher in unserer Primärfamilie erlebt haben. Das muss nicht immer bewusst sein. Wir müssen nicht immer genau wissen, wie sich die Verletzungen, die wir heute in diesen Situationen erleben, die ich beschrieben habe, zu den Verletzungen verhalten, die wir früher erlitten haben. Aber es gibt da einen klaren Zusammenhang. Und weil wir nicht wieder verletzt werden wollen, machen wir zu. Wir schotten uns ab gegenüber diesen Menschen und gegenüber diesen Situationen, wir bauen gleichsam einen Panzer um uns, der uns selber paralysiert, der uns daran hindert, frei und offen mit dieser Situation umzugehen und tatsächlich der zu sein, der wir selber sind. Wir wollen uns nicht verletzlich machen, weil verletzlich zu sein heißt, dass es uns weh tut, dass wir leiden müssen. Und leiden wollen wir nicht. Wir wehren uns dagegen zu leiden.
Der Psychologe Horst-Eberhard Richter hat einmal ein sehr schönes Buch geschrieben, einen Aufsatzband mit dem Titel ‚Wer nicht leiden will, muss hassen’. Ich finde diesen Titel sehr schön, weil er sagt, dass wir als Menschen hier vor einer Alternative stehen: Entweder wir sind bereit zu leiden oder wir müssen hassen. Wenn wir hassen, dann hassen wir aber nicht nur den Anderen, sondern wir hassen auch uns selbst und unser eigenes Leben. Das heißt, wir können unser Leben, insofern wir hassen, nicht bejahen, wir können keine Zufriedenheit mit unserem Leben entwickeln. Wenn wir nicht leiden wollen, dann können wir auch nicht lieben, dann können wir uns nicht auf tiefe menschliche Beziehungen einlassen. Es gibt im Deutschen einen schönen Ausdruck, wenn man sagen möchte, dass man jemanden sehr gern hat. Man kann dann sagen: Ich mag dich leiden. Dieser Ausdruck macht deutlich, dass, wenn man sich tief auf einen anderen Menschen einlassen will, so etwas wie eine Bereitschaft, auch unter dem anderen Menschen zu leiden erforderlich ist. Dieser aktiven Prozess der Annahme des eigenen Leidens führt zur Versöhnung des Lebens, und diese führt zur Zufriedenheit.
Freilich sind wir hier jetzt an der Grenze dessen angekommen, was die Philosophie zu leisten vermag. Wie so ein Prozess der Versöhnung und der Annahme der Dunkelheiten in unserem Leben konkret aussehen kann, dazu hat die Philosophie nicht mehr so viel zu sagen. Das führt in Bereiche hinein, die eher zur Therapie, zur Spiritualität, zur Meditation oder zur Religion gehören. Aber dass wir Menschen Wesen sind, die, um ihr Leben zu bejahen, um zufrieden mit ihrem gelebten Leben zu sein, Wege finden müssen, das, was ihnen an Dunklem, an Unzufriedenem, an Leid, an Wut und an Hoffnungslosigkeit zustößt, umzuwandeln und zu versöhnen, damit sie ihr Leben bejahen und eine Zufriedenheit erreichen können, das scheint mir schon von der Philosophie her ein sehr wichtiger Hinweis zu sein, der unsere Theorie vom gelungenen Leben wesentlich ergänzt und erweitert.

Sterben und Tod

Ich komme damit zum letzten Punkt in meinen Überlegungen über das Wesen des Menschen zum Thema Tod. Lassen Sie mich jedoch zunächst deutlich machen, worüber ich dabei sprechen möchte und worüber ich nicht sprechen möchte.
Es geht mir um die Frage, wie wir über unseren eigenen Tod denken sollten. Das heißt, es geht mir um die Frage, ob die Tatsache, dass wir einmal nicht mehr existieren werden, dass unser Leben endlich ist, den Sinn unseres Lebens in Frage stellt und ob deswegen unser Leben von vornherein gar nicht gelingen kann und wir eigentlich keine Bejahung und keine Zufriedenheit mit unserem Leben erreichen können, eben weil wir sterben werden. Es geht mir dabei nicht um die Frage, wie wir uns zum Prozess des Sterbens verhalten sollten. Berühmte Studien, beispielsweise die von Elisabeth Kübler-Ross, haben deutlich gemacht, dass der Prozess des Sterbens oft mit einer großen Ablehnung gegenüber dem, was mir da jetzt als Aufgabe zugemutet wird, beginnt und, wenn dieser Prozess gut läuft, dann bis hin zu der Annahme des eigenen Sterbens und des eigenen Todes führen kann.
Aber diese Überlegungen, die ganze Frage des Sterbens, ist eigentlich philosophisch schon mit inbegriffen in dem, was ich vorher gesagt habe, als ich über Leiden und Scheitern sprach. Es geht mir also wirklich nur um die Frage, ob der Tod als solcher unser Leben in Frage stellt.

Heidegger: Sein und Zeit

Ein Philosoph des letzten Jahrhunderts, der sehr viel über diese Frage nachgedacht hat, ist Martin Heidegger. Wenn Sie die Werke von Martin Heidegger gelesen haben, insbesondere das Buch ‚Sein und Zeit’, in dem er eine andere Anthropologie entwickelt als ich das hier tue, dann könnten Sie über das, was ich in den letzten fünf Folgen gemacht habe, eigentlich nur den Kopf schütteln. Für Heidegger ist es nämlich so, dass der Tod das zentrale Thema im Leben eines Menschen ist. So wie in meiner Vorlesungsreihe der Begriff des gelungenen Lebens im Zentrum stand, so steht für Heidegger der Begriff des Todes im Zentrum. Der Tod ist für Heidegger die Chance, dass der Mensch selbst Mensch wird. Warum?
Heidegger sagt, dass der Mensch zwei Möglichkeiten hat, sein Leben zu leben: Die eine Art und Weise, die eine Existenz, ist die so genannte „uneigentliche Existenz“. Man lebt kein selbstbestimmtes Leben, man lebt eigentlich nicht das, was man selbst ist, sondern man tut das, was man halt so tut. Man handelt so, wie andere handeln, man denkt das, was so andere denken, man lässt sich auch in seiner äußeren Lebensgestaltung ganz von anderen leiten. Es ist das Leben der Masse, in der Masse und mit der Masse. Heidegger nennt das auch die Existenzweise und die Herrschaft des „man“. Weil „man“ dann halt tut, was „man“ tut.
Es gibt jedoch eine Sache im Leben eines jedes Menschen, die er selber tun muss, eine Sache, in der er sich nicht durch einen Anderen vertreten lassen kann, und das ist der eigene Tod. Man sagt zwar manchmal so lapidar, na ja, jeder muss halt mal sterben – eine Ausdrucksweise, die der Existenzweise des „man“ zugehört. Aber solche Dinge sagt man eigentlich nicht, wenn es um den eigenen Tod geht, sondern man sagt sie, wenn es um den Tod anderer Menschen geht und man sich eigentlich nicht wirklich berühren lassen möchte von der Tatsache, dass da jemand gestorben ist. Sich berühren zu lassen von dem Tod eines anderen Menschen, hieße eben auch, sich selber mit seinem eigenen Tod zu konfrontieren.
Der eigene Tod ist also nicht nur ein Erlebnis, ein Ereignis, was in Zukunft irgendwann einmal stattfinden wird, sondern was, für Heidegger, unser Leben hier und jetzt schon prägt, und zwar insbesondere in dem Erlebnis der Angst. Die Angst ist, ebenso wie der Tod, für Heidegger etwas, wo ich mich in meiner Individualität, in meiner Unvertretbarkeit erfahre.
Heidegger arbeitet in diesem Zusammenhang mit der Unterscheidung von Furcht und Angst. Die Angst hat, anders als die Furcht, eigentlich kein Objekt, keinen Gegenstand. Fürchten tun wir uns vor etwas. Sofürchten wir uns beispielsweise davor, durch eine Prüfung zu fallen, zum Zahnarzt zu gehen oder wir fürchten uns vor unserer Zukunft. Aber in der Angst geht es um etwas Anderes. Die Angst ist bodenlos, sie hat keinen Gegenstand, sie ist ganz diffus. Heidegger spricht davon, dass dies die Angst vor dem Nichts ist. Einmal ganz abgesehen davon, dass diese Art und Weise zu sprechen, philosophisch unseriös ist – schon allein die Unterscheidung von Furcht und Angst ist ganz künstlich, weil wir ja durchaus sagen, dass wir Angst vorm Zahnarzt oder Angst vor der Zukunft haben, und das Wort Angst sehr wohl so gebrauchen, dass damit ein Objekt verbunden ist, sodass die Terminologie, die Heidegger verwendet, ganz unglücklich ist, um das zu beschreiben, was er eigentlich beschreiben will –, so hat er doch in einer Sache, denke ich, Recht, nämlich darin, dass der Tod nicht nur ein zukünftiges Ereignis ist, sondern unser Leben bereits hier und jetzt prägt und dass er nicht ein rein negatives Phänomen ist. Der Tod und die Angst machen den Menschen tatsächlich zu einem Individuum und reißen ihn heraus aus den vielen Dingen, die „man“ halt so tut.
Der Philosoph Ernst Tugendhat, der sich viel mit Heidegger beschäftigt hat und ursprünglich ein Heideggerianer gewesen ist, sich dann aber ganz von ihm entfernt hat, hat ein Buch geschrieben mit dem Titel ‚Egonzentrizität und Mystik’. In diesem Buch beschäftigt er sich auch mit dem Tod. Er schreibt, dass der Tod tatsächlich für viele Menschen...

Inhaltsverzeichnis

  1. Leiden und Scheitern