Erzählfiguren
Büchner bezieht sich in seiner Erzählung nicht nur auf reale, heute noch überprüfbare Schauplätze, sondern im Wesentlichen auf historische Personen: Oberlin, der im Steintal sein Leben verbracht, Lenz, den eine Episode seines Lebens dorthin geführt hat. Die Nebenfiguren – wie etwa Oberlins Frau, der Schulmeister Sebastian Scheidecker, der Besucher Kaufmann – sind teils historisch verbürgt, teils aber auch offensichtlich – wie etwa das kranke Mädchen in der Hütte – von Büchner erfunden. Sie alle bleiben eigentümlich gesichtslos, zwar mit scharfen, suggestiven Strichen gezeichnet, aber ohne individuelle Ausgestaltung. Alles ist auf das Zusammen- und Gegenspiel der beiden Protagonisten zentriert, zwischen denen so etwas wie eine Vater-Sohn-Beziehung greifbar wird.
Der historische Lenz
Daten zum Leben und Werk von Jakob Michael Reinhold Lenz
23. Januar 1751: Geburt von J. M. R. Lenz in Seßwegen (Livland; Baltikum) 1768 Studium der Theologie in Königsberg 1771 Abbruch des Studiums, Reise nach Straßburg 1774/76 Erscheinen der Hauptwerke Der Hofmeister und Die Soldaten 1776 Lenz in Weimar; Ausweisung 20. Januar–8. Februar 1778: Lenz’ Aufenthalt bei Oberlin 1779 Lenz’ Rückkehr nach Livland und Russland 24. Mai 1792: Tod von J. M. R. Lenz in Moskau Jakob Michael Reinhold Lenz, von der Literaturgeschichte lange als Epigone des jungen Goethe, als pathologischer Sonderfall und als Hindernis auf dem Weg zur Weimarer Klassik verzeichnet, seit einigen Jahrzehnten aber als bedeutender Wegbereiter des sozialen Dramas und Autor von eigenem Interesse erkannt, wurde am 23. Januar 1751 in Seßwegen im russisch beherrschten Livland geboren. Sein Vater, Pastor und pietistischer Prediger mit ausgeprägt despotischen und selbstgerechten Zügen, bestimmte den Sohn zu seiner Nachfolge im geistlichen Beruf. Der Sohn fügte sich dieser Vorbestimmung zunächst: 1768 nahm er in Königsberg das Studium der Theologie auf. Nach fünf Semestern, die eher dichterischen Versuchen als der Theologie gewidmet waren, brach Lenz aus der vorgezeichneten Bahn aus. Er ging 1771, gegen den Willen des Vaters, als Begleiter zweier kurländischer Barone, die in französische Militärdienste treten wollten, ins Elsass.
In Straßburg – damals Stadt des aufblühenden Handels und des militärischen Gepränges im Schnittpunkt deutscher Tradition und französischer Lebensart – gerät Lenz in die Runde junger Genies um den Aktuar Salzmann, die die Keimzelle des „Sturm und Drang“ bildet: Heinrich Leopold Wagner, Johann Heinrich Jung-Stilling, Johann Gottfried Herder, vor allem aber der junge Johann Wolfgang Goethe. Ihm schließt sich Lenz besonders an. Selbst ist er zu dieser Zeit aber bereits verstrickt in seine eigentümliche Lebensproblematik aus unbewältigter Emanzipation von der väterlichen Ordnungswelt und dem unerfüllbar hohen Anspruch genialischen, selbstbestimmten Schöpfertums.
Schon 1772 verlässt Goethe Straßburg. Lenz geht mit einem der Barone in verschiedene Militärlager, nach Fort Louis im Elsass, später nach Landau, schließlich zurück nach Straßburg. Er sucht die von Goethe verlassene Friederike Brion in Sesenheim auf. Indem er – erfolglos – um sie wirbt, also Goethe „hinterherliebt“, scheint zum ersten Mal ein Verhaltensmuster auf, das sich wiederholen wird (und auf das in Büchners Lenz angespielt wird; vgl. etwa S 23.13 f. / R 20.22). Lenzens erstes bedeutendes Schauspiel Der Hofmeister entsteht, eine drastische, tragikomische Darstellung sozialer Abhängigkeiten und damit eine klarsichtige, aktuelle Diagnose eines gesellschaftlichen Problems mit Zügen eines verkappten Selbstporträts. Der eher jämmerliche „Held“ Läuffer, der zerrieben wird zwischen den Möglichkeiten seiner kümmerlichen Existenz als Privaterzieher und seinem persönlichen Emanzipationsbedürfnis, schwängert die Tochter der Adelsfamilie, bei der er in Stellung ist, und kastriert sich am Ende selbst. 1774 anonym erschienen, wird das Werk von Kritik und Lesepublikum mit einer Mischung von Begeisterung und Entsetzen aufgenommen – und Goethe zugeschrieben.
Lenz lebt in dieser Zeit kümmerlich, erst noch von den Zuwendungen der Kurländer, dann vorwiegend von Sprachunterricht. Gleichwohl bringen die Jahre 1774/75 den Höhepunkt seiner literarischen Produktivität. In der schlagkräftig skizzierten Literatursatire Pandämonium Germanicum stellt Lenz sich selbst neben Goethe als kommendes Genie innerhalb einer schwächlichen zeitgenössischen Literatenszene dar. Das Schauspiel Die Soldaten entsteht, ein scharfes Abbild des amourösen Treibens der Offiziere am Rand der Bürgersphäre. Es ist gespeist aus Lenz’ eigenen Beobachtungen in der Männerwelt des Militärlagers, weist mit seinen Kurzszenen eine Art Blitzlichttechnik auf und verfügt über eine schlagkräftige Sprache in der suggestiven Erfassung der Charaktere. Besonders der Tuchhändler Stolzius mit seinem Ton kalter Entschlossenheit und biblisch-archaischer Gleichnishaftigkeit ist das unmittelbare Vorbild von Büchners Woyzeck. Gleichzeitig entstanden die Anmerkungen übers Theater, eine der wichtigsten dramentheoretischen Äußerungen des Sturm und Drang. Hier wird kurzerhand mit Aristoteles, dem großen Vorbild der klassizistischen Dramatiker, abgerechnet und die „so erschröckliche jämmerlich berühmte Bulle von den drei Einheiten“ (Werke und Schriften, Bd. 1, S. 344) höhnisch verworfen.
Das Ziel eines Anschlusses an Goethe bestimmt auch Lenzens weitere unstete Aktionen. Er geht ins badische Emmendingen und steigert sich dort in leidenschaftliche Verehrung für Goethes unglücklich verheiratete Schwester Cornelia hinein. Sie hält ihn jedoch auf Distanz. Dann, im Frühjahr 1776, versucht Lenz noch einmal in der Nähe Goethes Fuß zu fassen. Er macht sich auf nach Weimar und wird dort am herzoglichen Hof zunächst freundlich-amüsiert empfangen. Aber Goethe hat inzwischen die Geniemanieren abgelegt. Er muss auf seine Position am Hof achten und bringt so für die bizarren Streiche des exzentrischen Mitbruders von einst kein rechtes Verständnis mehr auf – zumal dieser sich eng an die mit Goethe selbst emotional verbundene Frau von Stein anschließt. Lenz lebt ungeniert auf Kosten des Hofs, erregt mehrfach Anstoß, schockiert die konventionsbewusste höfische Welt und wird schließlich auf Goethes Betreiben mitten im Winter ausgewiesen – dies nach einer letzten nicht weiter erklärten „Eseley“ (Goethe), die Generationen von Forschern beschäftigt hat und hinter der sich nach neuesten Erkenntnissen wohl eine anzügliche Darstellung der Rolle Goethes als Gefälligkeitsdichter bei Hof aus Lenz’ Feder verbirgt. Goethe hat später aus der Distanz seiner im Alter (1829) verfassten Lebenserinnerungen ein tendenziöses Bild von Lenz gezeichnet, das bei aller Anerkennung von dessen literarischem Talent schon durch die auffälligen Verkleinerungsformen deutliche Vorbehalte verrät und zu Lenz’ lang andauernder Missachtung beigetragen hat:
„Klein, aber nett von Gestalt, ein allerliebstes Köpfchen, dessen zierlicher Form niedliche etwas abgestumpfte Züge vollkommen entsprechen; blaue Augen, blonde Haare, kurz ein Persönchen, wie mir unter nordischen Jünglingen von Zeit zu Zeit eins begegnet ist; einen sanften, gleichsam vorsichtigen Schritt, eine angenehme nicht ganz fließende Sprache, und ein Betragen, das, zwischen Zurückhaltung und Schüchternheit sich bewegend, einem jungen Manne gar wohl anstand.“ (Goethe, Dichtung und Wahrheit. Dritter Theil. Elftes Buch, zit. nach: S 79).
Bald nach der Vertreibung aus Weimar setzt bei Lenz der erste Schub seiner psychischen Erkrankung ein, einer Form der Schizophrenie oder schizophrenen Psychose. In einer Arbeit über die Autoren des Sturm und Drang zitiert Werner Kließ aus einem medizinischen Werk, das die wohl bei Lenz vorliegende Sonderform der „Katatonie“ wie eigens auf ihn zugeschnitten beschreibt:
„Beginn um das 25. Lebensjahr, akute Erregungs- oder Sperrungs-(Stupor-)Zustände, Verlauf in Schüben mit nahezu symptomfreien Intervallen, schließlich aber doch meist Defektbildung. Denkstörungen, Wahnideen, Sinnestäuschungen, Gefühlsstörungen, Impulshandlungen (darunter Selbstmordversuche, die von wilder Entschlossenheit zeugen)“ (W. Kließ 1970, S. 38).
Lenz reist in der Folge auf wirren Wegen durch die Schweiz, an den Bodensee, dann wieder nach Emmendingen zu Goethes Schwager Schlosser, dessen Frau Cornelia gerade gestorben ist. Das Drama Der Engländer mit seiner tödlich ernsten Darstellung eines Vater-Sohn-Konflikts erscheint. Dann folgt – zwischen dem 20. Januar und dem 8. Februar 1778 – der denkwürdige Aufenthalt in Waldersbach bei Oberlin, den Büchners Erzählung schildert. Sesenheim, wo Lenz in aufgewühltem Zustand nochmals bei Friederike Brion auftaucht, erneut Emmendingen, wo sich Schlosser bis hin zur Vermittlung einer Arbeitstherapie um ihn kümmert, und Hertingen bei Basel, wo ihn für einige Zeit ein Arzt aufnimmt, sind weitere Stationen seines bizarren Leidenswegs.
Während der ganzen Zeit richtet Schlosser immer wieder Appelle in Lenzens Heimat, wo der Vater, in kirchlichen Ämtern avanciert, inzwischen Superintendent von Livland und immer noch im Zorn, sich nur sehr zögernd bereitfindet, den gescheiterten Sohn wieder aufzunehmen. Erst im Frühjahr 1779 macht sich Lenz’ jüngerer Bruder Karl auf den Weg. Am 23. Juli endlich läuft das Schiff mit den Brüdern in Riga ein.
In den nächsten Jahren scheitern Versuche, Lenz als Lehrer, Soldaten oder Juristen unterzubringen. Ein dauerhafter Aufenthalt im Haus des Vaters steht offenbar nicht zur Debatte. Lenz irrt im Baltikum umher, findet schließlich in St. Petersburg eine Anstellung als persönlicher Sekretär eines Generals, verliert diese Stellung aber wieder. Im Sommer 1781 kommt er nach Moskau und findet dort Beschäftigungen als Erzieher. Daneben verfasst er Übersetzungen russischer Literatur und weitere Schriften, die zum Teil erst nach dem Ende der Sowjetunion zugänglich wurden. Seine materielle Existenz bleibt kärglich, Gönner unterstützen ihn, die Krankheit entwickelt sich wechselhaft. Der Kontakt zur Familie ist spärlich. Publikationsvorhaben scheitern meist, Projekte zur Volksaufklärung werden nicht ernst genommen. Am Morgen des 4. Juni 1792 wird Lenz erfroren auf einer Moskauer Straße gefunden. Sein Grab ist nicht bekannt. In Deutschland schrieb die Allgemeine Literaturzeitung in einem Nachruf unter Moskauer Ortsangabe:
„Heute starb allhier Jac. Mich. Reinh. Lenz der Verfasser desHofmeisters, des neuen Menozaetc. von wenigen betrauret, und von keinem vermißt. Dieser unglückliche Gelehrte, den in der Mitte der schönsten Geisteslaufbahn eine Gemüthskrankheit aufhielt, die seine Kraft lähmte, und den Flug seines Genies hemmte, oder...