Das stille Leben des Adriaen Coorte
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Das stille Leben des Adriaen Coorte

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Das stille Leben des Adriaen Coorte

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Über dieses Buch

Amsterdam 1682. Der junge Maler Adriaen Coorte schwängert die Tochter seines Lehrmeisters Melchior d'Hondecoeter, der ihn daraufhin zwingt, sie zu heiraten. Als das Kind bei der Geburt stirbt, fühlt sich Coorte von seiner Heiratspflicht entbunden und flieht über Nacht aus der Stadt.

Coorte beginnt ein neues Leben auf der Insel Walcheren in Zeeland und findet dank seiner Liebe zur Küchenmagd Hendrikje zu sich selbst.

Aber die Schatten seiner Amsterdamer Vergangenheit holen Coorte ein und zwingen ihn, sich ihnen zu stellen.

Ein Roman über den erst im 20. Jahrhundert wiederentdeckten Maler Adriaen Coorte, der von den Kennern mittlerweile auf einer Reihe mit Rembrandt, Hals und Vermeer gestellt wird.

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Information

Verlag
DAO Press
Jahr
2019
ISBN
9789925762729

Kapitel 1

Im frühen Sommer 1682 brach der Maler Adriaen Coorte seine Lehrzeit bei Melchior d’Hondecoeter vorzeitig ab und floh aus Amsterdam. Er hatte fast vier Jahre im Atelier des Spezialisten für Jagdstillleben verbracht und war im Laufe der Zeit zu einem seiner begabtesten Schüler aufgestiegen. Gerade in der Darstellung der pflanzlichen Natur konnte ihm keiner das Wasser reichen. D’Hondecoeter hatte ihm das Malen von Blättern, Blumen, Disteln und Früchten auf seinen eigenen Gemälden anvertraut, weil er insgeheim erkannte, dass ihm Coorte darin überlegen war. Bald ergab sich eine klare Arbeitsteilung. D’Hondecoeter malte seine Enten, Gänse, Fasanen, Tauben, Pfauen und Rebhühner, Coorte malte die ganze Natur drum herum. Das Atelier D’Hondecoeter wurde ein erfolgreiches Unternehmen.
In Malerkreisen wurde gemunkelt, dass Coorte es auf Isabel, die einzige Tochter D’Hondecoeters, abgesehen hatte und abgeblitzt war. Aber niemand konnte das Gerücht bestätigen. Coorte war eine schlanke und hochgewachsene Erscheinung mit einem hübschen Gesicht, das traurig durch braune Locken hindurch in die Welt blickte. Sein Talent war unbestritten. Coorte hatte diesen leicht arroganten Blick, der sich an den hochgezogenen Mundwinkeln zeigte. Es war der Ausdruck, für den manche Frauen schwach wurden. Es gab in Amsterdam einige, die ein Auge auf ihn hatten. Aber Coorte war scheu. Er war in seinem Verhältnis zu Frauen sogar ungeschickt. Von Natur aus wortkarg, schien er in Anwesenheit von Frauen nur zu stammeln, wenn er überhaupt etwas sagte. Lieber flüchtete er in seine Kammer und las Bücher.
Nachdem er geflohen war, behaupteten einige Gesellen im Atelier, Coorte hätte das Wichtigtuerische der Kaufmannsstadt Amsterdam gehasst. Er hasste den ungebrochenen Glauben an eine glänzende Zukunft der Sieben Vereinigten Provinzen. Er hasste den Prunk mancher Stadthäuser und die teuren Kleider ihrer Bewohner. Und er hasste die Sujets, die sie bei den Malern bestellten. Die Prunkstillleben mit reichgefüllten Tischen, die Selbstgenügsamkeit der Porträts mancher Kaufleute. Es war der Ausdruck ihrer Sucht nach Luxus und der Zurschaustellung ihres Reichtums. Vor allem hasste er die riesigen Darstellungen der Offiziere der Schützenkompanien. Er hasste die Porträts der Regenten und der Adeligen. Es waren Gemälde, die in ihrer Monstrosität Ausdruck des Größenwahnsinns geworden waren. Ein kleines Land, das man auf der Weltkugel kaum finden konnte, war komplett größenwahnsinnig geworden, sagte er. Und er, Coorte, war ausgebildet worden, um diesem Größenwahnsinn mit seinem Pinsel Ausdruck zu verleihen.
Schließlich hasste er die Jagdsujets, an denen er im Atelier D’Hondecoeter beteiligt war. Er wusste genau, wohin all dies führen würde. Er würde sein Meisterstück malen. Man würde ihm die Mitgliedschaft in der Lukasgilde erteilen. Und dann würde er sein eigenes Atelier haben und eines Tages selber Lehrlinge beschäftigen. Und dann würden die Amsterdamer Kaufleute kommen und genau die gleichen Sujets von ihm verlangen, die sie sich von D’Hondecoeter wünschten: Jagdstillleben, prunkvolle Tafel voller Weingläser, Wildfleisch, exotischem Obst und Fische. Er hatte all das auf sich zukommen sehen und allein schon vor der Vorstellung dieser Zukunft hatte es ihm gegraut.
Niemand hatte aber damit gerechnet, dass Coorte eines Tages verschwinden würde. Er war schweigsam, aber verlässlich. D’Hondecoeter selbst hatte die Hoffnung, dass er seinen begabten Schüler nach dem Meisterabschluss noch einige Jahre an das Atelier binden könnte.
Im Morgengrauen eines warmen Junitages hatte Coorte mit seinen Habseligkeiten die Treckschute nach Haarlem bestiegen. Es war ein flaches Schiff, von Pferden gezogen. Es transportierte die Reisenden auf Kanälen von Stadt zu Stadt. Die Mitreisenden beachteten den stillen jungen Mann kaum. Er schien in seinen Mantel gehüllt schweigsam vor sich hin zu träumen. Sie aßen und tranken während der Reise und warfen die Essensreste in den Kanal. Sie zündeten ihre Pfeifen an, deren Rauch sich bald bis in die letzte Ecke des Innenraums verteilte. Coorte konnte den Rauch nicht ausstehen und hatte sich einen neuen Platz im unbedachten Teil ausgesucht, wo die schmutzige Wäsche der Amsterdamer gestapelt war. Sie war für die Bleichen in Haarlem bestimmt. Coorte beobachtete den schweren Tritt der Zugpferde, von denen das Schiff auf dem Leinpfad getreidelt wurde.
Als die Treckschute nach einigen Stunden Haarlem erreichte, wechselte Coorte auf die Schute nach Leiden und gelangte schließlich über Delft nach Rotterdam. Dort musste er fast eine Woche warten, bis er einen Platz auf einem Linienschiff bekam. Es würde ihn in zwei Tagen und Nächten auf die Insel Walcheren in Zeeland bringen. Als das Schiff nach einer ruhigen Überfahrt die Hafenstadt Vlissingen erreichte, ging er an Land und bezog ein Zimmer bei seinem älteren Bruder Jacob Michiel, der in einem Stadthaus in Middelburg wohnte. Coorte war dreiundzwanzig Jahre alt. Er würde die Insel bis zu seinem Tod nicht mehr verlassen.
 

Kapitel 2

Seit seiner Rückkehr weigerte er sich über seine Lehrzeit in Amsterdam Auskunft zu erteilen. Sobald das Thema nur angeschnitten wurde, überfiel ihn eine düstere Stimmung, als wäre schon die Nachfrage eine Beleidigung. Irgendwann vermieden seine Geschwister, das Wort Amsterdam in seiner Anwesenheit auch nur in den Mund zu nehmen.
Coorte war geflohen. Er war geflohen vor dem Tod. Vor dem Kindestod im Mutterleib von Isabel.
Er hatte sich mit ihr verabredet, als ihr Vater in der Taverne saß oder mit seinen Kunsthändlerfreunden durch die Stadt zog. Er traf sie morgens in aller Frühe, als die ganze Familie noch schlief. Coorte, der Abgeklärte, der Asket, war ein Liebender geworden. Einer, der dem Wahnsinn der Leidenschaft verfallen war. Sein Geschlecht regte sich, wenn er nur an Isabel dachte. Er versuchte sich zu mässigen, aber es gelang ihm kaum. Und dann war es geschehen. Er hatte die junge Frau in einer Nacht in ihrem Schlafgemach aufgesucht und war erst gegen Morgengrauen zu seiner Stube geschlichen. Als er eines Tages von Isabel vernommen hatte, dass sie von ihm schwanger war, war ihm erst nach und nach klargeworden, was passiert war.
D’Hondecoeter hatte getobt, aber er hatte Coorte nicht aus dem Atelier herausgeworfen, weil er ihn brauchte. Er konnte es sich nicht leisten, seinen talentierten Naturmaler loszuwerden. Er war ein Mann, der täglich auf den Knien laut betete, bevor er ins Bett stieg. Er hatte von Schande gesprochen. Coorte habe seine einzige Tochter entehrt und nun müsse er sie heiraten. Seitdem hatte er kein Wort mehr mit Coorte gesprochen. Er hatte die Anweisungen für die Bilder über einen Lehrling geben lassen. Es hatte Coorte verletzt und er sei noch wortkarger geworden als er es eh schon war. D’Hondecoeter hatte ihm verboten, vor der Hochzeit auch nur in die Nähe seiner Tochter zu kommen. Er hatte eigens eine Magd angewiesen, Tag und Nacht auf Isabel aufzupassen und dafür zu sorgen, dass kein Mann und schon gar nicht Coorte in ihre Nähe kam. Coorte war nächtelang durch Amsterdam geirrt und hatte sich sogar einer Hure hingegeben, um die Raserei in seinem Körper zu beruhigen. Der Gedanke an Flucht war ihm damals zum ersten Mal gekommen. D’Hondecoeter war immer weniger im Atelier aufgetaucht und wenn er kam, roch er nach den Tavernen im Jordaan, in denen er seine Zeit verbrachte. D’Hondecoeter trank.
Als dann der Tag gekommen war, an dem Isabel das Kind bekommen sollte, hatte Coorte erst spät erfahren, dass es im Mutterleib gestorben war. Er hatte den ganzen Tag draußen vor D’Hondecoeters Haus auf die Nachricht gewartet. Die Hebamme war spät erschienen. Sie hatte es eilig gehabt und hatte in wenigen Sätzen die schreckliche Totgeburt geschildert. Sie war vor der Entscheidung gestanden, das Leben des Kindes oder das der Mutter zu retten. D’Hondecoeter hatte sich für seine Tochter entschieden, nachdem er in Eile herbeigerufen worden war. Und somit hatte er sich für den Tod der Frucht entschieden.
D’Hondecoeter hatte sich nicht entschieden. Die Natur hatte es. Die Frucht war bereits im Bauch Isabels gestorben. Die Hebamme hatte die tote Frucht aus der Gebärmutter holen müssen. Sie war zu gross gewesen. Viel zu gross, hatte die Hebamme gesagt. Sie hatte einen Haken, eine Schere und mehrere Zangen eingesetzt. Zuerst hatte sie den Kopf von der Frucht getrennt. Nur mit grossen Mühen hatte sie ihn durch den Geburtskanal herausholen können. Anschliessend hatte sie mit der Zange die Arme und Beine vom Rumpf abgetrennt. Den restlichen Leib hatte sie in mehreren Teilen zerstückelt, damit sie auch sie durch den Geburtskanal herausholen konnte. Isabel hatte die eingeleitete Geburt überlebt. Sie hatte aber viel Blut verloren und hatte während der Operation mehrmals das Bewusstsein verloren, was den Eingriff unnötig erschwert und verlängert habe.
Coorte hatte schweigend zugehört und war bei jeder Einzelheit, die die Hebamme ihm anvertraut hatte, immer mehr erstarrt. Schliesslich war er in tiefer Verzweiflung zu seiner Stube geschlichen. Er hatte seine Habseligkeiten gepackt und war in den frühen Morgenstunden in die Treckschute nach Haarlem gestiegen. Er hatte das Gefühl gehabt, als sei er selber zerstückelt worden. Als hätte man ihn in Stücke zerschnitten und in einen toten Nebenarm der Amsterdamer Kanäle geworfen.


Kapitel 3

Die Familie Coorte verfügte über einen Landsitz an der Nord-Westküste der Insel Walcheren, in der Nähe des Ortes Oostkapelle. Das Herrenhaus aus roten Backsteinen lag erhöht am Rande der Dünen und hatte große Fenster. Man konnte weit auf die Ländereien und benachbarten Landsitze blicken. Reiche Kaufleute aus Vlissingen und Middelburg hatten in der Nachahmung Versailles ausgedehnte Ziergärten anlegen lassen. Schnurgerade Alleen führten auf Springbrunnen oder auf Rosengärten mit Teichen voller Seerosen. Manche Kaufleute unterhielten Gemüsegärten, deren Erträge ihre ohnehin gut gefüllten Tische mit dem eigenen Gemüse bereicherten. Einige hatten sogar einen Obstgarten, in denen ihre Kinder spielten. Da immer mehr Ziergärten dazu kamen, konnten die Kaufleute im Sommer von Garten zu Garten ausgedehnte Spaziergänge machen. Jeder wollte wissen, was der Nachbar angepflanzt hatte oder welche seltene Pflanzen oder Blumen er in seinen Beeten stehen hatte. Man besuchte sich gegenseitig oder lud Freunde zum Essen ein.
Bei gutem Wetter konnte man vom Landsitz der Familie Coorte am Horizont die Turmspitze des Langen Jan in Middelburg erkennen. Man war froh, dass man der Stadt mit seinen stinkenden Grachten für einige Monate entfliehen konnte. Aber der Lange Jan erinnerte sie auch daran, dass die Erholung auf dem Lande nur vorübergehend sein würde. Irgendwann würden die Geschäfte sie wieder in die Stadt zurückrufen.
Auf der Rückseite des Hauses gab es einen Turm, der nach Westen ausgerichtet war. Man konnte von ihm aus über die Dünen hinweg einen Streifen der Nordsee erblicken. Petronella Van Goch, Adriaens Mutter, hatte den Landsitz 1679 auf einer Auktion erworben, die die Stadt Middelburg veranstaltet hatte. Die Finanzen der Stadt waren nach der Pleite der Wechselbank und nachdem die Westindischen Kompagnie in 1674 ihre Schulden nicht mehr bezahlen konnte, in eine Schieflage geraten. Also beschlossen die Stadtväter ihre Ambachtsherrlichkeiten auf der Insel zu versilbern.
Um mit ihren reichen Nachbarn mitzuhalten, hatte Coortes Mutter ebenfalls einen Ziergarten anlegen lassen. Ein erfahrener französischer Gärtner, der Edmond hieß, wurde eigens mit der Pflege des Gartens betreut. Er pflanzte Flieder, Vogelbeeren, Haselnusssträucher und Kastanienbäumen, die im Laufe der Jahre stark gewachsen waren.
Es wurde vereinbart, dass Coorte das linke Eckzimmer im ersten Stock des Herrenhauses beziehen würde. Er richtete sich ein Atelier ein und schlief zwischen seinen Pinseln und dem Geruch von Ölfarbe und Terpentin. Einige Pachteinkünfte der Familienpolder in den Gemeinden Biervliet und Ijsendijke ermöglichten ihm ein bescheidenes Einkommen.
In den Wintermonaten blieb der Landsitz weitgehend unbewohnt. Nur Edmond blieb zurück und kümmerte sich um das Haus und die Pflege des Ziergartens. Im Sommer verließ die Familie Coorte die schlechte Luft in Middelburg. Sie richtete sich mitsamt Bediensteten im Oostkapeller Herrenhaus mit den großen Fenstern ein. An manchen Tagen verwandelte sich das Haus in eine fröhliche Gesellschaft. Man lud Gäste aus der Nachbarschaft ein. Es wurde gegessen und getrunken. Die neuesten Geschäfte und Seerouten der Ostindien-Kompanie wurden diskutiert. Michiel, der jüngste Bruder Adriaens, war an ihr beteiligt. Jakob Michiel, Adriaens ältester Bruder, empfing die Herren der Admiralität. Manche von ihnen unterhielten in der Nähe von Oostkapelle große Landsitze mit ausgedehnten französischen Gärten.
Bei gutem Wetter speiste man draußen auf der großen Terrasse vor dem Herrenhaus. Die Herren tranken viel und lachten gern. Als Coorte einmal von einem abendlichen Spaziergang wortlos in das Haus schleichen wollte, riefen sie ihn zu sich. Er sollte sich zu ihnen gesellen und mit ihnen trinken. Er trinke nicht, sagte er. Kaum hatte er es gesagt, stolperte er über eine Stufe, die zur Terrasse führte und landete flach auf dem Bauch. Das Gelächter der Herren der Admiralität war bis weit in den benachbarten Gärten zu hören.
 

Kapitel 4

Coorte hatte Edmond gebeten, ihm eine Steinplatte zur Verfügung zu stellen. Sie war ursprünglich als Tragfläche für eine Gartenstatue gedacht aber wegen eines Risses verworfen worden. Edmond hatte ihm eine andere Platte geben wollen, die keinen Fehler hatte. Als Coorte den Riss sah, stand für ihn ausser Frage, dass er genau diese Platte haben wollte. Er platzierte sie auf einen Sockel inmitten seines Ateliers. Sie diente ihm als Bühne für die Objekte, die er in seinem Zeichenblock skizzieren wollte.
Einen Totenschädel und ein Stundenglas hatte er bereits in einer Kiste aus Amsterdam mitgebracht. Von diesen Objekten fertigte er mehrere Skizzen an. Es fiel ihm nicht schwer. Diese Übungen hatte er im Atelier D’Hondecoeter mehrmals gemacht. Von allen Lehrlingen hatte er sich als einer der besten Zeichner ausgezeichnet. Mit den Zeichnungen und Skizzen wollte er sich auf das Malen von Gemälden vorbereiten. Er machte Skizzen einer Weizenähre, die er während eines Spaziergangs durch die Felder von Oostkapelle aufgelesen hatte. Er skizzierte die Blockflöte, auf der er als Kind oft gespielt hatte. Er skizzierte Notenblätter aus „Der Fluyten Lust-hof“, einer Sammlung Spielweisen für Flöte des Komponisten Jacob Van Eyck. Schließlich machte er sich daran, Skizzen eines Buches zu machen. Ein Lehrling aus dem Atelier D’Hondecoeter hatte es ihm unter dem Mantel in die Hände gedrückt. Es war ein Wörterbuch des Philosophen Adriaen Koerbagh. Es wurde in bestimmten Kreisen nur unter größter Verschwiegenheit weitergegeben. Es war verboten.
Coorte zeichnete seine Objekte immer wieder von einer neuen Seite. Er fertigte Studien über ihre Beschaffenheit und ihre Oberflache an. Er studierte ihre Fähigkeit, Licht aufzunehmen oder abzustoßen. Schließlich machte er sich daran, sie auf der Steinplatte zu kombinieren, bis er eine befriedigende Komposition und Perspektive gefunden hatte. Er war nun bereit das „Bild mit Totenschädel und Stundenglas“ zu malen.
Er brauchte länger als er gedacht hatte. Die Komplexität der Komposition störte ihn. Bei D’Hondecoeter hatte er meist Pflanzen und Blumen gemalt, die ihm leicht von der Hand gingen. Jetzt wollte er eigene Kompositionen erschaffen. Und er hatte sich eines der schwersten Sujets ausgesucht: das Vanitas-Stillleben. Er hatte sich vorgenommen, toten Objekten Leben einzuhauchen. Seine Methode war das Licht. In Amsterdam hatte er, so oft er dazu Gelegenheit hatte, Gemälde des verstorbenen Malers Rembrandt studiert. Dieser war ein Meister des Lichts und des Schattens gewesen.
Coorte experimentierte mit unterschiedlichen Lichteinfällen. Er hatte schwarze Vorhänge vor den großen Fenstern seines Ateliers angebracht. Er konnte von dem starken Licht, das von dem weiten Himmel über Zeeland in sein Atelier hineinstrahlte, nach Belieben Gebrauch machen. Das Vanitas-Bild aber bereitete ihm Schwierigkeiten. Mal war der Totenschädel in der Komposition zu dominant, mal war es das Buch Adriaen Koerbaghs oder das Stundenglas. Es gelang ihm nicht, eine Komposition zu schaffen, die in sich ruhte und dennoch voller Ausdruckskraft war. Es ging ihm allmählich auf, wie viele Jahre Arbeit nötig sein würden, um sein Sujet zu meistern. Er lief unruhig von seinem Maleresel zu der Steinplatte und änderte geringfügig die Stellung des Stundenglases. Dann lief er wieder zum Vorhang und vergrößerte den Spalt, der das Licht auf die Steinplatte fallen ließ. Egal, was er versuchte, entweder wurde das Licht zu stark oder die Objekte versanken vor seinen Augen in der Finsternis.


Kapitel 5

Im Sommer nahm Coorte die Mahlzeiten mit der Familie ein, aber für den Nachsommer und den Herbst wurde vereinbart, dass er mit dem Gesinde des benachbarten Landsitzes essen würde. Der Besitzer, Caspar Den Duyvel, war ein Beamter der Stadt Middelburg. Er war ein Freund der Familie Coorte. Aus der Ferne hielt er ein Auge auf den trübsinnigen jungen Mann.
Die Mahlzeiten im Keller der Familie Den Duyvel lenkten Coorte ein wenig von seiner Arbeit und seinen dunklen Gedanken ab. Er war gezwungen, sich das Geschwätz und die groben Witze des Gesindes anzuhören. Hin und wieder konnten sie ein Lächeln auf seine Lippen zaubern. Sie hatten vereinbart, ihn allesamt so lange anzuschauen, bis er gar nicht anders konnte als zu lachen. Es war einfaches Volk, das für ein Dach über dem Kopf und eine warme Mahlzeit arbeitete. Ihre Sprache war derb und natürlich. Sie hatten nur wenige Tischmanieren und aßen mit einem Holzlöffel aus dem gleichen Topf. Manche rauchten sogar während des Essens. Sie störten sich nicht groß an dem Sonderling mit den traurigen Augen, der einen eigenen Teller bekam.
Als der Hunger die Überhand über seine Arbeitswut gewann, lief Coorte zum benachbarten Haus hinüber und setzte sich an den großen Holztisch. Sein Blick fiel auf die Hände der Küchenmagd, die Hendrikje hieß. Sie arbeiteten ruhelos, während er mit dem Gesinde aß. Sie stellte den schweren Eintopf auf den Tisch. Sie strich ihre Hände an ihrer Schürze sauber, als sie ein Bündel Dill mit großem Geschick geschnitten hatte. Sie nahm die große Pfanne vom Feuer, in der das Geflügelfleisch der Familie Den Duyvel brodelte und köstlich roch. Das Gesinde blickte begierig, als sie am Nebentisch das Geflügel auf die Teller verteilte. Einmal, erzählte man ihm, sei es einem von ihnen gelungen, ein Stück Rindfleisch zu ergattern. Es hatte ihm eine schallende Ohrfeige von Hendrikjes Hand und das brüllende Gelächter des versammelten Gesindes eingehandelt.
Coorte aß langsam. Meist blieb er am großen Holztisch allein zurück. Das Gesinde indes führte seine Späße draußen weiter. Schien die Sonne hielten sie im Obstgarten ein Mittagsschläfchen. Hendrikje schnitt eine Zwiebel in kleine Stücke und wischte sich mit der Rückseite ihrer Hand eine Träne von der Wange. Sie wusch den Lauch und Coorte schaute zu, wie sie sämtliche Grüntöne auf dem Holzbrett hervorzauberte. Er schaute auf die Form ihrer Brüste, die ihm durch den Stoff ihrer Schürze groß vorkamen. Er schaute auf ihre Schultern und Arme, die durch das viele Schleppen der Töpfe und die harte Arbeit kräftig und muskulös geworden waren. Sie hatte beim Schnippeln der Zwiebel die Ärmel hochgekrempelt. Hin und wieder hatte er gesehen, wie sie mi...

Inhaltsverzeichnis

  1. Kapitel 1
  2. Kapitel 2
  3. Kapitel 3
  4. Kapitel 4
  5. Kapitel 5
  6. Kapitel 6
  7. Kapitel 7
  8. Kapitel 8
  9. Kapitel 9
  10. Kapitel 10
  11. Kapitel 11
  12. Kapitel 12
  13. Kapitel 13
  14. Kapitel 14
  15. Kapitel 15
  16. Kapitel 16
  17. Kapitel 17
  18. Kapitel 18
  19. Kapitel 19
  20. Kapitel 20
  21. Kapitel 21
  22. Kapitel 22
  23. Kapitel 23
  24. Kapitel 24
  25. Kapitel 25
  26. Kapitel 26
  27. Kapitel 27
  28. Kapitel 28
  29. Kapitel 29
  30. Kapitel 30
  31. Kapitel 31
  32. Nachwort des Autors
  33. Auch von Peter Devaere…
  34. Über den Autor
  35. Impressum