Was ist der Mensch? Teil 4
eBook - ePub

Was ist der Mensch? Teil 4

Freundschaft und Liebe

  1. 12 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Was ist der Mensch? Teil 4

Freundschaft und Liebe

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Ist der Mensch tatsächlich ein Wesen, das von Natur aus auf Beziehungen angelegt ist? Oder ist er nicht viel eher ein Einzelkämpfer? Ist nicht jede Liebe letztlich egoistisch? Was für eine Rolle spielen die Emotionen, besonders die Verliebtheit, um Liebe und tiefe menschliche Beziehungen zu verstehen?Klassische philosophische Autoren, die über Freundschaft und Liebe nachgedacht haben, argumentierten dafür, Freundschaft und Liebe nicht nur als eine Beziehung zwischen zwei Menschen zu verstehen. Es geht vielmehr um gemeinsames Drittes.

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Was ist der Mensch? Teil 4 von Michael Bordt im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Philosophie & Geschichte & Theorie der Philosophie. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Meine Damen und Herren,
herzlich willkommen zur vierten Vorlesung in unserer Reihe ‚Einführung in die philosophische Anthropologie’, eine Vorlesung, die versucht, etwas über das Wesen des Menschen zu sagen. Das Thema der heutigen Vorlesung ist Beziehung, Liebe und Freundschaft, Beziehungen, in denen wir Menschen zueinander stehen.
Bevor ich mich dem Thema zuwende, lassen Sie mich Ihnen noch einmal den Kontext dieser Vorlesung verdeutlichen. Ich habe ja damit begonnen, Ihnen den Begriff des gelungenen Lebens zu entwikkeln und wir haben uns gefragt, was denn eigentlich inhaltlich ein gelungenes Leben ausmacht, was ein gelungenes Leben konstituiert. Wir haben am Anfang der letzten Vorlesungsfolge verschiedene Kriterien entwickelt, denen ein Begriff des gelungenen Lebens genügen muss. Das, was ein gelungenes Leben ausmacht, muss tatsächlich ein oberstes Gut sein. So etwas wie Reichtum und Gesundheit kommen deswegen nicht in Frage. Es muss der Conditio humana entsprechen, das heißt dem, was wir Menschen sind, sowohl als Artwesen, also als Individuen der Art oder der Gattung Mensch, als auch als individuelle Personen, die wir jeweils individuelle Fähigkeiten und Talente haben.
Das Thema Beziehung ist nun der Versuch, eine erste inhaltliche Füllung des Begriffs des gelungenen Lebens aufzustellen. Es knüpft auch unmittelbar an die Bedingung, unter der wir Menschen leben, also an die Conditio humana, an, denn was immer wir Menschen sind, wir sind in unserem Leben umgeben von anderen Menschen. Wir haben ganz unterschiedliche Beziehungen zu den Menschen, mit denen wir umgeben sind und es ist wichtig, sich über diese Arten von Beziehungen Gedanken zu machen.
Aber noch aus einem zweiten Grund ist das Thema menschliche Beziehung in unseren Tagen besonders wichtig. Erinnern Sie sich noch an das Ende der zweiten Vorlesung, in der ich etwas über die Identität des Menschen und über die Forschung im Zusammenhang mit der Patchwork-Identity, mit der Bastelbiografie des Menschen, gesagt habe. Die These ist ja gewesen, dass es für uns heute besonders schwierig ist, eine eigene Identität zu entwickeln, weil es uns nicht mehr möglich ist, uns einfach mit vorgegebenen Beziehungsmustern und Rollen zu identifizieren. Was es heute heißt, ein Vater oder eine Mutter zu sein, die ganze Gender-Frage, die Tatsache, dass wir nicht mehr in einem Beruf nach unserer Ausbildung bis zur Rente oder Pensionierung arbeiten können, diese Tatsachen machen unser Leben schwierig und wir müssen neu verstehen, was es heißt, in Beziehungen zu leben. Denn es sind gerade tiefe menschliche Beziehungen, die für die Anerkennung unserer Person so wichtig sind und die uns eine unverzichtbare Stütze und Hilfe auf dem Weg zur eigenen Identitätsfindung sein können.
Sicher, wenn wir über Beziehungen sprechen, über Freundschaft, über Liebe, dann sind die Überlegungen dazu ebenfalls relativ kulturgebunden. Ich bin Deutscher, ich gehöre zur westlichen Kultur und natürlich ist die jeweilige die Art und Weise, wie Menschen in Beziehungen stehen, auch kulturell geprägt. Die Gefahr, dass man persönliche Erfahrungen, die man im eigenen Leben gemacht hat, verallgemeinert und als allgemein gültig ausgibt, sind, wenn man über solche kulturell gebundenen Phänomene spricht, sicher größer als bei ganz allgemeinen Themen.
Damit die folgenden Überlegungen jedoch nicht zu individuell und zu persönlich werden, ist es wichtig, sie in Verbindung zu setzen mit der großen Tradition der Philosophie. Denn schon seit dem Beginn der Philosophie haben sich die Philosophen Gedanken darüber gemacht, wie denn menschliche Beziehungen zu verstehen sind.
Einer der wichtigsten und ersten großen Autoren, der darüber nachgedacht hat, ist sicher der griechische Philosoph Aristoteles, den wir ja auch schon kennen gelernt haben. Aristoteles hat zwei verschiedene Bestimmungen des Menschen gebracht. Zum einen, dass der Mensch ein Vernunftwesen ist. Anders als andere Lebewesen, wie Pflanzen und Tiere, zeichnet er sich dadurch aus, dass er vernünftig ist.

Gemeinschaft

Es ist aber nicht diese Bestimmung des Menschen, die uns jetzt so sehr interessiert, sondern eine andere, nämlich dass der Mensch ein zoon politikon ist, wie es heißt. Zoon ist das griechische Wort für Lebewesen und politikon heißt nicht, dass sich der Mensch von Natur aus für Politik interessiert, sondern dass der Mensch ein Lebewesen ist, das von Natur aus in Gemeinschaft lebt. Dass der Mensch ein Gemeinschaftswesen ist und notwendig auf Gemeinschaft angelegt ist, ist nicht etwas was den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet. Aristoteles kennt eine ganze Reihe von anderen Lebewesen, die eben auch zur Art des zoon politikon gehören, zum Beispiel die Ameisen, die Wespen, die Bienen oder die Kraniche.
Ein politisches Wesen, ein zoon politikon zu sein, heißt also nicht allein, dass man als Wesen auf Gemeinschaft angelegt ist. Denn es gibt auch viele andere Tiere, die in Gemeinschaften leben. Es bedeutet, dass man kooperativ zusammen lebt, eben so, wie die Ameisen, die Wespen, die Bienen und die Kraniche. Es bedeutet, dass man mit anderen Lebewesen derselben Art und Gattung kooperiert, dass man eine Aufgabe, ein Ziel gemeinsam verfolgt.
Menschen, so sagt Aristoteles, sind Lebewesen, die um bestimmter Ziele willen ihrer Natur nach auf Kooperation mit anderen Lebewesen angewiesen sind. Das klingt zunächst relativ trivial. Es gibt viele Ziele, die ein Mensch nur dadurch erreichen kann, dass er sich tatsächlich mit anderen Menschen aktiv zusammen tut, kooperiert, und in Gemeinschaften lebt. Das geht ja zum Beispiel schon los beim biologischen Ziel. Der Mensch will als Art überleben, er will Kinder zeugen und viele Menschen sind der Auffassung, dass sie ein Stück weit in ihren Kindern weiterleben können. Dieses biologische Ziel kann ein Mensch natürlich nur dann verfolgen, wenn er sich mit einem Menschen des anderen Geschlechts zusammen tut.
Doch es sind nicht nur biologische Ziele, die Menschen motivieren, sich in Gemeinschaft mit anderen Menschen zusammen zu tun, sondern es sind auch utilitaristische Ziele. Es ist der Nutzen, den ein Mensch davon hat. Wir Philosophen sind beispielsweise darauf angewiesen, dass es andere Menschen gibt, die Nahrung und die Kleidung herstellen. Dass ist trivial.
Aristoteles geht aber noch einen Schritt weiter. Er sagt, dass es den Menschen, wenn sie mit anderen Menschen kooperieren, nicht nur um biologische oder utilitaristische Ziele geht, sondern dass es ganz wesentlich für den Menschen ist, in engen, tiefen, persönlichen Gemeinschaften mit anderen Menschen zusammen zu leben, weil tiefe persönliche Freundschaften, Liebesbeziehungen zu haben, integraler Bestandteil des gelungenen Lebens eines Menschen ist. Wenn das Leben eines Menschen gelingen soll, wenn er glücklich werden soll, dann muss er sich zu tiefen persönlichen Liebesbeziehungen, tiefen persönlichen Freundschaften mit anderen Menschen zusammen tun.
Diese These, dass es für das gelungene Leben eines Menschen konstitutiv ist, in tiefen menschlichen Beziehungen zu leben, und dass damit auch die Tatsache, dass der Mensch ein Gemeinschaftswesen ist, kein Hindernis, sondern Bedingung dafür ist, dass das Leben eines Menschen gelingt, ist in der Philosophie allerdings nicht unumstritten. Es gibt durchaus auch philosophische Positionen, die eine ganz andere Auffassung vertreten und diesen Positionen wollen wir uns jetzt zuwenden.

Sophisten

Der Ursprung der Auffassung, dass der Mensch von Natur aus kein Gemeinschaftswesen ist, liegt bei den Sophisten in der griechischen Antike. Es handelt sich dabei um eine Aufklärungsbewegung, die zur Zeit von Sokrates und Platon tätig war. Die Diskussion bei den Sophisten kreist dabei eigentlich um eine politische Frage, nämlich um die Frage, welches Staatssystem, welche Art von Verfassung eigentlich dem Menschen angemessen ist. Diskutiert hat man vor allen Dingen, ob die Tyrannis, also eine Verfassung, in der ein Starker herrscht, oder ob die Demokratie die eigentlich richtige Verfassung für den Menschen ist. Die eigentlich richtige Verfassung heißt, ob sie dem Menschen selbst, der Natur des Menschen, entspricht.
Das Hauptargument einiger Sophisten ist nun, dass die Tyrannis die bessere Staatsform ist, weil die Tyrannis der Natur des Menschen entspricht. In dieser Diskussion spielt eine bestimmte Unterscheidung eine wichtige Rolle, nämlich die Unterscheidung, ob etwas von Natur aus so ist, wie es ist oder ob etwas von Gesetzes wegen oder vom Brauch oder von der Konvention her so ist.
Diese Unterscheidung hängt unmittelbar mit der Frage nach dem gelungenen Leben zusammen. Denn wenn sich tatsächlich zeigen sollte, dass der Mensch von Natur aus ein Einzelkämpfer ist und nur aus Konvention, Brauch oder von Gesetzen her mit anderen Menschen kooperiert und in Gemeinschaft lebt muss, dann bedeutet es auch, dass diejenige Staatsverfassung, die der Natur des Menschen gerecht wird, nämlich ein Einzelkämpfer zu sein, diejenige ist, die die richtige Verfassung für eine Polis ist. Und dann muss man unter Umständen in einer griechischen Polis, in der Demokratie herrscht, die Gesetze ändern, weil sie nicht mehr der Natur des Menschen entsprechen.
Für einige Sophisten ist es nun so, dass der Mensch tatsächlich von Natur aus ein Einzelwesen ist und sie argumentieren von der Natur her, in der man sehen kann, dass vor allem ein Gesetz gilt: dass nämlich der Stärkere den Schwächeren frisst. Und warum sollte das bei den Menschen anders sein? Darum wird dieses Naturgesetz auf den Menschen übertragen. Der Stärkere soll über den Schwächeren herrschen. Das zeigt uns der Blick in die Natur. Wenn die vielen schwachen Menschen Gesetze aufstellen, um sich selber zu schützen und den Starken zu entmachten, dann sind diese Gesetze eigentlich gegen die Natur des Menschen und müssen abgeschafft werden, wenn die Menschen ein gelungenes Leben führen wollen.
Sie sehen schon, dass der Unterscheidung ‚von Natur aus’ und ‚von Gesetz aus’ jeweils eine bestimmte Auffassung von Menschen zugrunde liegt. Der Mensch ist eben kein Gemeinschaftswesen, sondern ist ein Einzelkämpfer. Diese Auffassung ist auch in der Neuzeit vertreten worden, und die beiden bedeutendsten Philosophen, die sich dieser sophistischen Idee angeschlossen haben, sind sicher Thomas Hobbes und Friedrich Nietzsche.

Hobbes

Zunächst ein paar Worte zu Hobbes. Er, der im Jahre 1588 geboren und 1679 gestorben ist, hat ein Buch geschrieben, nämlich den ‚Leviathan’ aus dem Jahre 1651. In diesem Buch gibt es eine berühmt gewordene Bestimmung des Menschen: „homo homini lupus est“, der Mensch ist des Menschen Wolf. Der Mensch ist für einen anderen Menschen also eigentlich ein Wolf. Das ist die Natur des Menschen und der menschlichen Gemeinschaft. Zwar tritt diese Natur meistens nicht mehr so deutlich zu Tage, wir sind kultivierter und zivilisierter geworden. Aber wenn wir, so Hobbes, einen Naturzustand annehmen würden, in dem der Mensch ursprünglich gelebt hat, dann würde sich zeigen, dass wir Menschen einander wie reißende Wölfe sind. Der Mensch ist laut Hobbes grundsätzlich boshaft. Er strebt nach Karriere, nach Ehre, nach Vorteil, nach Ruhm, er ist misstrauisch. Und die Männer würden einander umbringen und sich die Frauen und Kinder der jeweils anderen unterwerfen.
So ist der Mensch eigentlich und weil er damit von Natur aus gar kein auf Gemeinschaft bezogenes Wesen, kein zoon politikon, ist, müssen sich die Menschen voreinander schützen. Das tun sie, in dem sie einen Vertrag entwerfen, einen Gesellschaftsvertrag, der sie aneinander bindet. Die Menschen binden sich also nicht aneinander, weil es ihrer Natur entspricht, sondern, weil sie einsehen, dass es so für sie auf Dauer am besten ist, also allein aus egoistischen Interessen. Längerfristige Verbindungen gehen Menschen nicht deswegen ein, weil sie sich lieben oder gegenseitig wohlwollen, sondern eigentlich nur aus Furcht davor, was passieren würde, wenn man diese längerfristigen Bindungen auflösen würde.
Die Menschen binden sich also durch einen Gesellschaftsvertrag aneinander und gründen so den Staat, eben den Leviathan. Durch die Autorität, die sie durch diesen Vertrag dem Staat übertragen, ist der Staat in der Lage, die Bürger nun zur Kooperation zu zwingen. Wir verstehen also, warum Menschen sich miteinander zu Gemeinschaften verbinden, wenn wir die egoistischen Ziele des einzelnen Menschen, der von Natur aus ein Einzelkämpfer, ein Einzelwesen ist, verstehen.
Friedrich Nietzsche knüpft in ähnlicher Weise und vielleicht noch etwas drastischer an die sophistische Unterscheidung zwischen von Natur aus und von Konventionen aus an. Für Nietzsche gibt es zwei grundlegend verschiedene Klassen von Menschen: die Schwachen und die Starken. Die Auffassung, dass alle Menschen von Natur aus gleich seien, ist Nietzsche zufolge eine große Lüge. Es ist die größte aller Lügen, die die Schwachen bloß erfunden haben, um sich gegen diejenigen, die eigentlich von Natur aus herrschen müssten durchsetzen zu können und den Herrschaftsanspruch der Starken einigermaßen in Balance, in Grenzen zu halten. Aber die Tatsache, dass Menschen sich zu Gemeinschaften zusammen tun heißt eben auch für Nietzsche nicht, dass der Mensch von Natur aus auf Gemeinschaft bezogen ist.
Sie sehen, wie sich bei Hobbes und Nietzsche die Grundgedanken der Sophistik weiterentwikkeln. Sie vertreten, dass der Mensch von Natur aus gerade kein Gemeinschaftswesen ist, sondern ein Einzelgänger. Soziale Beziehungen entstehen aufgrund äußerer Zwänge, zur Verteidigung gegen Feinde oder zur Überwindung einer Notlage.
Nun, was ist von dieser These zu halten? Zunächst betont diese These natürlich etwas, was wichtig ist, nämlich dass der Mensch nicht ausschließlich von einer Gemeinschaft her verstanden werden kann, dass er sich nicht ausschließlich dadurch definieren kann, dass er Teil einer Gemeinschaft ist. Anthropologien, die versuchen, den Menschen in einem größeren Ganzen aufgehen lassen, nennt man organizistisch. Das kommt vom Bild des Organs her. So wie die verschiedenen Organe des Körpers auf den Körper als Ganzen bezogen sind und ihre Funkionen im Körper erfüllen, so ist es eben auch mit dem einzelnen Menschen. Er ist wie ein Organ in einem Ganzen, einer Gesellschaft, sozusagen ein Rädchen in einem komplizierten und komplexen Getriebe. Er erfüllt seine Natur dabei dadurch, dass er sich in den Dienst des größeren Ganzen stellt.
An der These, dass der Mensch von Natur aus kein Gemeinschaftswesen ist, ist sicherlich auch richtig, dass der Mensch frei ist, zu jeder Gemeinschaft, in der er lebt, noch einmal Stellung zu nehmen. Wir sind in Gemeinschaften, wie zum Beispiel eine Kleinfamilie, hineingeboren, aber als erwachsene Menschen wir wählen uns unsere Beziehungen. Wir können Beziehungen auflösen, wir können neue Beziehungen eingehen und wir sind frei, das zu tun.
Ebenfalls wichtig gegen Versuche, den Menschen von einem größeren Ganzen her vollständig zu verstehen ist aber auch eine Unterscheidung, die ich Ihnen in der ersten Vorlesungsreihe versucht habe nahe zu bringen, nämlich die Unterscheidung zwischen dem gelebten Leben eines Menschen und der Einstellung, die ein Mensch zu seinem gelebten Leben hat. Es ist diese innere Perspektive, die Einstellung, die wir zu uns selber haben, die so etwas wie eine letzte Einsamkeit von uns ausmacht.
Nun stellt sich die Frage: Kann man vor diesem Hintergrund überhaupt dafür argumentieren, dass der Mensch von Natur aus kein Einzelgänger ist? Eine Möglichkeit ist dabei, zu zeigen, dass sich die Beziehungen, die Menschen untereinander haben, nicht ausschließlich von dem egoistischen Nutzen, den die Menschen von diesen Beziehungen haben, her verstehen lassen und dass in bestimmten Beziehungen zu stehen, integraler Bestandteil des gelungenen Lebens des Menschen ist.

Freundschaften

Ich möchte damit beginnen, Ihnen drei verschiedene Arten von Freundschaften vorzustellen. Die Unterscheidung dieser Freundschaftsarten geht auf Aristoteles zurück, ist aber auch in der heutigen Literatur, wenn Sie etwas über Freundschaft, Beziehung und Liebe lesen, durchaus Gang und gäbe. Es ist die Unterscheidung zwischen Lustfreundschaft, Nutzenfreundschaft und Charakterfreundschaft beziehungsweise der Freundschaft zwischen Guten. Lust, Nutzen oder das Gute beziehungsweise der Charakter geben jeweils den Grund dafür an, warum wir miteinander in Beziehung stehen, oder warum wir miteinander befreundet sind.
Eine Lustfreundschaft liegt dann vor, wenn der Grund für die Beziehung zu einem anderen Menschen die Lust, der Spaß, die Freude ist, die ich davon habe, wenn ich mit diesem Menschen Gemeinschaft habe. Aristoteles sagt, dass in der Jugend die Freundschaften meistens Lustfreundschaften sind. Es macht einfach Spaß, mit anderen Menschen zusammen zu sein, ein Bier zu trinken, einen Kaffee zu trinken, auf Partys zu gehen, gemeinsam etwas zu machen, nicht allein zu sein. Es ist lustig, es ist fröhlich. Und das ist der Grund dafür, warum ich die Gemeinschaft mit anderen Menschen will.
Eine Nutzenfreundschaft liegt vor, wenn der Nutzen, den ich von der Beziehung habe, der eigentliche Grund dafür ist, die Gemeinschaft mit anderen Menschen zu suchen. Geschäftsbeziehungen sind meistens von dieser Arten, aber zum Beispiel auch Lerngruppen. Ich bin einfach mit anderen Menschen zusammen, weil ich von ihnen profitiere, weil das Zusammensein mit ihnen einen Nutzen für mich hat. Der Nutzen erklärt dabei vollständig, warum ich diese Beziehung zu anderen Menschen möchte. Sie merken schon, wenn Aristoteles von Lustfreundschaft oder von Nutzenfreundschaft, dann benutzt er Freundschaft in einem sehr weiten Sinn. Diesen erweiterten Freundschaftsbegriff will ich bei meinen weiteren Ausführungen nicht zugrunde legen. Ich habe diese beiden Arten von Freundschaft nur deswegen erwähnt, weil sie zeigen, welche Formen von Freundschaften ich im Folgenden nicht meine, wenn ich sage, dass Freundschaften zu haben, integraler Bestandteil des gelungenen Lebens eines Menschen ist.
Für ein gelungenes Leben ist eine andere Form von Freundschaft konstitutiv, nämlich tiefe persönliche Beziehungen oder Liebesbeziehungen. Ich liebe einen Menschen, werde von einem anderen Menschen geliebt oder habe eben eine tiefe persönliche Freundschaft zu diesem Menschen. Ich denke, dass mir viele Menschen intuitiv zustimmen würden, dass die Frage, ob unser Leben gelingt, sehr davon abhängt, ob es Menschen gibt, die wir lieben und von denen wir geliebt werden oder ob wir in wirklich tiefen menschlichen Beziehungen stehen und nicht nur in oberflächlichen Beziehungen zu anderen Menschen. Umso erstaunlicher ist es, dass die philosophische Diskussion um diese wichtige Form menschlicher Beziehung eigentlich nur sehr vereinzelt zu finden ist. Es gibt eine krasse Diskrepanz zwischen der Wichtigkeit von tiefen persönlichen Beziehungen und der Reflektion in der Philosophie auf diese Frage.
Lassen Sie mich zunächst damit beginnen, dass ich etwas zur Terminologie sage. Wir unterscheiden in der deutschen Sprache sehr genau zwischen Liebe und Freundschaft. Wenn wir einmal absehen von der Liebe von Eltern zu ihren Kindern oder von Kindern zu ihren Eltern oder davon, dass man manchmal so etwas sagt, wie: Ich liebe einen guten Wein!, dann meinen wir mit Liebe meistens eine Beziehung zwischen zwei Menschen, in denen auch die Sexualität miteinander geteilt wird. Unter einer tiefen persönlichen Freundschaft verstehen wir eine Beziehung, die ähnlich persönlich sein kann, also nicht oberflächlich, aber in der die Sexualität keine Rolle spielt. Diese Unterscheidung möchte ich im Folgenden vernachlässigen. Es kommt mir nicht darauf an, die Sexualität tiefer zu verstehen, sondern es kommt ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Gemeinschaft