Demokratie und Wahrheit
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Demokratie und Wahrheit

Politische Theorie / Philosophie

  1. 11 Seiten
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Demokratie und Wahrheit

Politische Theorie / Philosophie

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Entgegen der verbreiteten Auffassung, dass Wahrheitsansprüche in der Demokratie unangemessen seien, begründet Nida-Rümelin die These, dass ohne normative Wahrheitsansprüche die demokratische Gesellschaft und Politik undenkbar seien. Die demokratische Ordnung beruht auf normativen Überzeugungen, wie die der Toleranz aus Respekt und der gleichen Freiheit aller Menschen.Wenn diese Überzeugungen zur Disposition stünden, wäre auch die Demokratie als Lebensform obsolet.

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Information

Das Wissen dieser Welt aus den Hörsälen der Universitäten.
Fachbereich
POLITISCHE THEORIE / PHILOSOPHIE
Demokratie und Wahrheit
Von Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin

Einführung

Ich möchte in diesem Vortrag der Frage nachgehen, ob die Wahrheit einen Ort hat in der Demokratie. Oder anders formuliert: Ob Wahrheitsansprüche verträglich sind mit der Demokratie. Die meisten sind der Auffassung – nein. Die meisten sind heute und in der Vergangenheit der Auffassung, dass die Demokratie ja gerade darin besteht, dass es lediglich um Interessen geht. Dass wir Interessen vortragen, zum Beispiel teilweise auch organisiert in Interessensverbänden – Gewerkschaften, dem Unternehmerverband usw. – und dass wir einen Modus des friedlichen Austragens dieser Interessen gefunden haben.
Man könnte sagen, Demokratie sei feindselig gegenüber dezidierten, normativen Überzeugungen, gegenüber Auffassungen von richtig und falsch. Dies alles sei gewissermaßen zurückgestellt und durch ein Spiel der Interessen ersetzt. Diese Spiel ist befriedend, es verhindert dass es zum Bürgerkrieg eskaliert, dass Interessenkonflikte am Ende in Mord und Todschlag enden.
Eine Variante dieser Auffassung sagt, die unterschiedlichen kulturellen Prägungen in der multikulturellen Demokratie brauchen einen Modus vivendi, das heißt, wir sollten die eigene und die andere, die fremde Lebensform als gleichrangig betrachten. Wir sollten keine Werturteile über sie fällen. Wir müssen uns im wechselseitigen Respekt begegnen. Und mit all dem bin ich natürlich einverstanden und halte dennoch an der These fest: Die Wahrheit hat einen Ort in der Demokratie. Mehr noch – ich spitze zu: Die Demokratie ist ohne normative Wahrheitsansprüche, allerdings spezifische normative Wahrheitsansprüche, gar nicht lebensfähig.
Um einen Titel indirekt von Karl Popper aufzugreifen – die offene Gesellschaft und ihre Feinde: die Demokratie wird gegenüber ihren Feinden, ihren fundamentalistischen Gegnern kapitulieren, wenn sie nicht deutlich macht, dass es um mehr geht als lediglich um ein Spiel der Interessen.
Ich will das in diesem Vortrag sehr kompakt begründen. In einzelnen Schritten zwischendurch müssen wir uns auch darüber verständigen, was wir eigentlich unter Wahrheit verstehen wollen, das heißt wir brauchen einen philosophischen Exkurs über Wahrheitstheorie. Ich kann das hier nicht so ausführlich machen wie ich es in einem Buch „Demokratie und Wahrheit” gemacht habe, in dem ich die Argumente im einzelnen einschließlich der Problematik der Begründung von Normen, ethischen Werten behandelt habe. Was ich hier vortrage, ersetzt also nicht die Lektüre, aber es soll wenigstens eine Orientierung bieten, damit Sie sich dann in den Details der Argumente nicht verlieren.

Das Höhlengleichnis

Ich hole mal weit aus, aber ganz bewusst. Ich beginne, wie es einer Karikatur des Philosophen entspricht, bei Platon. Platon, der an bestimmten Stellen seines Werkes, nämlich dort wo es besonders komplex und schwierig wurde, zu Metaphern gegriffen hat, der Bildern vorstellt und mit diesen Bildern natürlich viel vermitteln will, aber offenkundig auch solches, das sich nicht so einfach hinschreiben lässt, hat an einer zentralen Stelle der Politeia, des großen politik-philosophischen Werkes, das Bild einer Höhle gezeichnet, das berühmte Höhlengleichnis, wonach wir uns im Alltagsleben in einer Situation befinden wie Menschen, die ihr leben lang in einer dunklen Höhle gefesselt vor der Höhlenwand sitzen und nichts anderes kennen, als die Schattenbilder, die auf der Wand abgebildet werden. Diese Schattenbilder werden durch ein Feuer hervorgerufen, das in der Höhle brennt und das diese Schattenbilder an die Wand wirft.
Die Gegenstände wiederum, die diese Schatten hervorrufen, sind Abbildungen von realen Gegenständen außerhalb der Höhle. Sie werden vor dem Feuer herumgetragen, bilden sich ab und die Höhlenbewohner sind im Laufe der Zeit zu Experten in der Interpretation von Schattenbildern geworden. Sie verstehen es sehr gut, Schattenbilder zu interpretieren, ohne zu wissen, dass es sich lediglich um Schatten handelt.
Und nun kommt jemand, und bindet eine Person los. Jetzt stellt sich gleich die Frage: Wer ist dieser jemand? Das wird nicht weiter ausgeführt. Die Person geht den beschwerlichen, steilen Weg, dreht sich um oder wird herumgeführt und dann den steilen Weg aus der Höhle heraus. Sie kommt vorbei, sieht das Feuer, sieht also die Ursache dieser Schattenbilder, kann also nun verstehen, was es eigentlich mit diesen Schatten auf sich hatte, die sie ja zuvor für das Ganze der Welt hielt, kommt dann am Ende zum Höhleneingang, verlässt die Höhle, ist hochgradig geblendet, kann zunächst nichts sehen, noch am ehesten bei Nacht oder dann bei Tage Spiegelbilder. Am Ende gelingt es ihr, sich immer besser an die neuen Bedingungen anzupassen, sieht auf einmal, dass die Gegenstände, die vor dem Feuer in der Höhle herumgetragen werden, Abbildungen von realen Gegenständen außerhalb der Höhle sind. Die Person erkennt die Zusammenhänge auch insofern, als sie die Sonne und ihre Rolle für Leben und Wahrnehmen erkennt, die Sonne, die diese Doppelfunktion hat, die in einem anderen Gleichnis – dem berühmten Sonnengleichnis – von Platon ausgeführt wird, nämlich auf der einen Seite ist sie Bedingung von Erkennen, von Erfahrung, denn die Sonne beleuchtet und auf der anderen Seite lässt sie erst alles wachsen. Ohne Sonne kein Wachstum, kein Gedeih. Das heißt, diese Sonne hat eine Art Doppelfunktion.
Platon spricht dann an dieser Stelle davon, dass die Person am Ende, nach diesem mühseligen Anpassungsprozess, dem Gang aus der Höhle, der Gewöhnung an das Helle, in der Lage ist, die Sonne zu schauen – nicht „in die Sonne zu schauen”, sondern „die Sonne zu schauen”. Eine Art intuitive Schau, wenn man so will.
Und vor diesem Hintergrund kann sie dann das Gesamte besser erfassen, sie weiß, was welche Rolle spielt im realen Leben, in der realen Welt. Mit diesen Kenntnissen ausgestattet, kehrt die Person in die Höhle zurück. Man kann hier fragen: Warum kehrt sie in die Höhle zurück? An anderer Stelle wird deutlich, sie tut das nicht aus Vergnügen, sondern aus Verantwortungsgefühl. Man könnte auch sagen aus Pflichtgefühl gegenüber denen, die sich nach wie vor in der Höhle befinden.

Gerechtigkeit der Polis

Sie kehrt zurück, sie kann nun sehr genau erklären, was diese Schattenbilder auf sich haben. Sie wird die Schattenbilder nicht mehr sehr ernst nehmen, ja sie wird im Laufe dieser Erfahrung die Fähigkeit verloren haben, die Schattenbilder so perfekt zu interpretieren und zu erfassen, wie diejenigen, die ihr ganzes Leben lang nur in der Höhle zugebracht haben. Vielleicht wird sie verlacht werden von denjenigen, die da immer noch gefesselt vor den Schattenbilder sitzen. Vielleicht nehmen sie diese Person nicht an, nehmen ihren Rat nicht an, obwohl sie den Rat annehmen sollten, weil diese Person viel besser informiert ist als die, die ihr ganzes Leben in der Höhle zugebracht haben. Vielleicht, so steht es nicht an dieser Stelle, werden sie sie sogar zum Tode verurteilen, das Menetekel des Todes des Sokrates, des Lehrers von Platon steht im Hintergrund auch dieser Stelle in der Politeia.
Sie werden im günstigen Fall den Ratschlag aufnehmen. Das heißt, die Metapher ist an der Stelle zu Ende, aber die Übertragung in die politische Praxis liegt auf der Hand. Diejenigen, die den schwierigen Weg wissenschaftlicher Erkenntnis gegangen sind und die Fähigkeiten, die Begabungen, die Willenskraft mitbrachten, um diesen Weg zu gehen, haben die Aufgabe, dann den vielen, die diesen Weg nicht gegangen sind, den richtigen Weg zu weisen, die Entscheidungen zu treffen. Und das wird dann ausgebaut zu dieser Vorstellung einer, man könnte ruhig sagen, Expertokratie, bei der die Wissenschaftler oder Philosophen – was in dieser Zeit und über das ganze Mittelalter hinweg im Wesentlichen bedeutungsgleich ist – den Inhalt der politischen Praxis bestimmen, während diejenigen, die in der Lage sind, zwar rudimentär die wissenschaftlichen Zusammenhänge zu erkennen, aber nicht in der Lage sind, wirklich die Prinzipien und die Ziele des Handelns zu bestimmen, das ausführen und die große Mehrheit so besonnen ist, dass sie sich an diese Vorgaben hält, zum eigenen Wohl, zum eigenen Guten. „Gerechtigkeit der Polis” besteht darin, dass diese drei Teile in einem harmonischen Verhältnis zu einander stehen und die jeweiligen spezifischen Tugenden, Einsichtsfähigkeit, Weisheit, wie sie in der Übersetzung von „Sophia” in der Regel heißt, zum ersten, Tapferkeit, Willenskraft, Konsequenz, Struktur zum zweiten und Besonnenheit zum dritten, was auch für die anderen beiden Seelenteile und die anderen beiden Teile des Staates wesentlich ist, aufbringen.
Gerechtigkeit beruht nach diesem platonischen Modell von Politik auf Erkenntnis, auf der Einsicht in die wahren Zusammenhänge, das Erfassen der Iδέα (idea), der Ideen, ganz missverständlich übersetzt. Das ist keine Idee, das sind Strukturen, das sind Formen, das sind die Grundlagen allen Seienden, das ist die Basis richtiger Politik. Nichts scheint in einem heftigeren Kontrast zu stehen zur Praxis der Demokratie und bei Platon selbst gibt es polemische Passagen gegen die Demokratie seiner Zeit allerdings einer Demokratie, die mit der parlamentarisch, rechtsstaatlich verfassten, repräsentativen Demokratie der Moderne so gut wie nichts gemein hat. In der zum Beispiel die Ämter nach Los vergeben wurden, also nicht einmal die Bestenauslese über Wahlen erfolgte, in der es keine Stufung der Verantwortlichkeiten gab usw. Das ist nicht die Demokratie in unserem Sinne, aber Platon kritisiert die Idee, dass man eine gute Stadt, einen guten Stadtstaat, eine gute politische Gemeinschaft auf die Basis bloßen Meinens, bloßer δοξαί unbegründeten Meinens stellen könnte. Man muss sie auf die Basis von Wissenschaft und wissenschaftlicher Erkenntnis stellen, daher sind die Experten diejenigen, die die Entscheidungen treffen müssen.
Nun hatte Platon offenbar an dieser Stelle gewisse Bedenken, was die Durchführbarkeit dieses Programms angeht. Das wird besonders deutlich darin, dass unklar bleibt, wie es eigentlich zur Einsicht derjenigen kommt, die in der Höhle gefesselt sind, dem, der zurückkehrt, zu vertrauen.

Die Gesetze herrschen

Noch deutlicher wird das in meinen Augen in dem großen, viel zu wenig gelesenen Spätwerk, das vielleicht die typischen Charakteristika eines Spätwerks insofern trägt, als es sehr ausufernd ist, mit langatmigen Monologen. Es ist nach allem was wir wissen das erste Dokument einer rechtsstaatlich verfassten, politischen Ordnung. Das heißt, hier treten an die Stelle der Philosophen oder Experten oder Wissenschaftler die Gesetze. Die Gesetze herrschen und nicht mehr die Experten. „Die Gesetze herrschen” heißt allerdings auch, dass man nicht jeden individuellen Fall in seiner besonderen Bedeutung betrachten und beurteilen kann, dass man im Einzelfall gelegentlich ungerecht sein muss. „Die Gesetze herrschen” heißt: Für alle gelten bestimmte gleiche Bedingungen. Natürlich sind hier die freien Athener gemeint, wobei Platon einer der ganz wenigen antiken Philosophen ist, die von einer Gleichheit von Mann und Frau ausgegangen sind.
Wir haben also in der platonischen politischen Philosophie die Idee, dass Politik auf Wahrheit, auf Erkenntnis beruht. Gute Politik beruht auf Erkenntnis. Auch die Gesetze, wie sie in den Nόµoι erläutert werden, sollen das Ergebnis wissenschaftlicher, philosophischer Einsicht sein.

Europa – zweimal am Rande der Selbstvernichtung

Machen wir einen Sprung. Europa ist zweimal in seiner Geschichte an den Rand der Selbstvernichtung geraten. Einmal ist uns allen noch sehr präsent, den älteren aus persönlichem Erleben, den Jüngeren aus den unmittelbaren Berichten der betroffenen Generation. Ich meine den zweiten Weltkrieg. Manche sprechen hier vom europäischen Bürgerkrieg. Das ist oft auch im Sinne einer Verschleierung der tatsächlichen Verantwortlichkeiten gemeint oder verstanden worden, aber ich glaube, dass an dieser Interpretation etwas Wahres dran ist. Es ging um einen großen Streit, nicht nur um Interessen, sondern um die richtige Politik, um Macht und Geltungsansprüche absoluten Typs, verbunden mit Vernichtungskonzeptionen. Der Nationalsozialismus breitete sich aus als eine menschenverachtende Ideologie, der es aber gelang, Zustimmung im jeweils eigenen Land zu organisieren, Zustimmung in einem erstaunlich hohen Maße. Diese Ideologie beruhte auf der Vorstellung von „oben” und „unten”, von Herrenmenschen und Sklavenvölker. Man glaubte sich berechtigt, ganze Völkerschaften – insbesondere das europäische Judentum, aber auch die Sinti und Roma – vernichten zu sollen, als ein Auftrag des Politischen.
Das ist eine Vorstellung, die uns gottlob heute völlig fremd geworden ist, so fremd, dass sie in dieser Gestalt wohl nie mehr zurückkehren wird. Aber es ging um eine Form von Politik, in der das Aushandeln von Interessen, die Rücksichtnahme auf unterschiedliche Vorstellungen ausradiert war und es nur noch um den Willen des Einen ging, um den „Willen des Führers”, der von sich in Anspruch nahm, den „Willen des deutschen Volkes” als Ganzes vertreten zu können.
Die zweite Erfahrung der Selbstzerstörung Europas, die Europa in der Tat an den Rand der Selbstvernichtung gebracht hat, war der 30-jährige Krieg. Oder sagen wir allgemeiner: die Konfessionskriege des 17. Jahrhunderts. Diese Konfessionskriege waren ebenfalls vom Typus eines Bürgerkriegs. Es ging um das richtige Leben, es ging um die richtige oder falsche Art und Weise, vor Gott zu treten. Es ging nicht nur um das diesseitige sondern auch um das jenseitige Leben, bis hin zu der Übersteigerung, dass der Mörder oder Totschläger glauben durfte, wenn er den Andersgläubigen in der letzten Sekunde seines Lebens zum Einlenken bewegen könnte, vielleicht zur Konversion, dass er dann ihm etwas Gutes antut, weil er ja sein ewiges Leben gerettet hat.
Der Zynismus, die Menschenverachtung dieses Bürgerkriegs im Rahmen der Ordnung des Christentums, zwei Konfessionen, zwei Interpretationen der Heiligen Schrift, zwei Auffassungen von legitimer Kirche, zwei Auffassungen von der Rolle des Christenmenschen gegenüber Gott, vermittelt über den Klerus oder unmittelbar dem Protestantismus, zwei Auffassungen von der Rolle von Bildern. Diese zwei Auffassungen bringen Europa an den Rand der Selbstvernichtung. In ganzen Regionen Europas waren bis zu zwei Drittel aller Menschen ausgerottet, durch unmittelbare Kriegstaten und Untaten. durch mittelbare wie etwas Seuchen, Hungersnot, Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung. Man kann sich diesen Zustand nicht grausiger vorstellen.

Quelle der europäischen Demokratie

Diese Erfahrung ist in meinen Augen eine der Quellen, vielleicht die wichtigste Quelle der europäischen Demokratie. Denn was war die Lehre? Dieser Bürgerkrieg, der europäische Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts endet in der kollektiven Erschöpfung aller Kräfte. Und die Frage war: Wie kann eine neue politische Ordnung entstehen, die diese Katastrophe nicht erneut heraufbeschwört. Und die Antwort – scheint mir – war im Kern die Idee der Toleranz. Das muss ich jetzt aber genauer erläutern, damit man es nicht missversteht.
Ich unterscheide zwei Typen von Toleranz, nämlich existenzielle Toleranz und Toleranz aus Indifferenz oder – Toleranz aus Respekt und Toleranz aus Indifferenz. Die in den westlichen Industrieländern in den letzten Jahrzehnten deutlich gewordene Praxis der Toleranz ist ganz überwiegend eine Praxis der Toleranz aus Indifferenz. Bestimmte Gegensätze mildern sich ab, sie sind nicht mehr so ernst zu nehmen wie zuvor.

Toleranz aus Indifferenz

Als ich in die Schule gegangen bin, gab es einen Streit um die Gemeinschaftsschule. Das war die Schule, die sowohl von protestantischen wie von katholischen Kindern besucht werden sollte. Diese Gemeinschaftsschule wurde von der damaligen bayerischen Staatsregierung abgelehnt, weil man diese Vermengung von Katholizität und Protestantismus nicht wollte. Als sich das dann in Gestalt eines Bürgerentscheids durchsetzte, wurde noch sorgsam unterschieden in katholische und evangelische Klassen.
Es gab eine lange Zeit der deutschen Geschichte – und Deutschland ist wie kein anderes europäisches Land von diesem Gegensatz und auch miteinander und nebeneinander der beiden Konfessionen geprägt zum Teil mit sehr kleinteiligen Strukturen, etwa in Baden Württemberg auch heute noch ablesbar – in der es von Eltern nicht gerne gesehen wurde, wenn ihre katholischen Töchter einen protestantischen Mann heirateten und umgedreht.
Heute kommt uns das nur noch merkwürdig vor. Auch die gläubigsten Katholiken oder Protestanten finden es nicht mehr bedenklich, wenn es zu „Mischehen” kommt, finden es nicht mehr bedenklich, wenn Kinder beider Konfessionen nebeneinander auf der Schulbank sitzen. Das ist eine Toleranz aus Indifferenz. Es kommt doch nicht so sehr darauf an. Die Betonung der Gemeinsamkeiten, die ganze ökumenische Bewegung, die ja auf dieser Grundidee ruht, dass die Gemeinsamkeiten viel größer sind als das Trennende zwischen den beiden christlichen Konfessionen und den Kirchengemeinden, in denen diese Konfession gelebt wird.

Toleranz aus Respekt

Der Konflikt, der im 17. Jahrhundert zum 30-jährigen Krieg geführt hat, war ein Existenzieller und als dieser militärische, der Bü...

Inhaltsverzeichnis

  1. Einführung