Anne Franks Tagebuch
Die Pseudonyme
Ursprünglich hatte Anne vor, allen Personen im Hinterhaus Pseudonyme zu geben, auch ihrer Familie und sich selbst. Das niederländische Staatliche Institut für Kriegsdokumentation beschloss in seiner wissenschaftlichen Ausgabe der Tagebücher, die Pseudonyme der meisten Beteiligten aufzulösen, in erster Linie diejenigen der Familie Frank und ihrer Helfer Miep Gies, Bep Voskuijl, Victor Kugler und Johannes Kleimann. Die Pseudonyme derer, die in Annes Tagebuch zum Teil mit harscher Kritik und harten Worten belegt wurden (vor allem die ›van Daans‹ und ›Albert Dussel‹), behielt man zu deren Schutz bei.
Alle Bewohner der versteckten Wohnung im Hinterhaus wurden nach der Verhaftung in verschiedenen Konzentrationslagern der Nazis getötet. Mit Ausnahme von Anne Franks Vater Otto, dem einzigen Überlebenden der Tragödie (ebenso überlebten die nichtjüdischen Beteiligten, wie Miep Gies und die anderen Helfer). Anne wurde von den Nazischergen zunächst nach Auschwitz verschleppt und starb, ebenso wie ihre Schwester Margot, im März 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen an Entkräftung und Typhus (der genaue Todestag ist nicht bekannt). Otto Frank kümmerte sich nach seiner Rückkehr nach Amsterdam und später in Basel sein Leben lang um die Veröffentlichung des Tagebuchs seiner Tochter. Er starb 1980 in Birsfelden bei Basel.
Hier eine ausführlichere Darstellung der Ereignisse nach der Verhaftung
Das Tagebuch
1942
12. Juni 1942
Ich werde, hoffe ich, dir wirklich alles anvertrauen können, wie ich das bisher bei niemandem konnte, und ich hoffe, du wirst mir ein großer Rückhalt sein.
[Die beiden hier folgenden, nachträglich von Otto Frank eingefügten Tagebucheinträge wurden wieder entfernt]
Samstag, 20. Juni 1942
Es ist ein merkwürdiges Gefühl für mich, Tagebuch zu schreiben. Nicht nur, dass ich das noch nie gemacht habe, sondern ich denke auch, dass sich später kein Mensch, weder ich selbst noch ein anderer, für die Herzensergüsse eines dreizehnjährigen Schulmädchens interessieren wird. Aber das ist nicht so wichtig, ich habe Lust darauf, zu schreiben und will mir hauptsächlich alles Mögliche gründlich von der Seele reden.
Papier ist geduldig. Dieses Sprichwort fiel mir ein, als ich an einem meiner etwas melancholischen Tage träge am Tisch saß, den Kopf auf die Hände gestützt, und vor Trägheit nicht wusste, ob ich weggehen oder doch zu Hause bleiben sollte – und deshalb einfach sitzen blieb und weiter grübelte. Ja wirklich, Papier ist geduldig. Und weil ich gar nicht vorhabe, dieses mit Karton gebundene Büchlein mit dem verheißungsvollen Namen »Tagebuch« jemals jemanden zum Lesen zu geben – es sei denn, ich fände irgendwann in meinem Leben »den« Freund oder »die« Freundin –, ist das auch egal.
Ja, das ist der Punkt, an dem die ganze Idee mit dem Tagebuch anfing: Ich habe keine Freundin. Um das verständlich zu machen, muss ich es erklären, denn niemand kann verstehen, dass ein Mädchen von dreizehn ganz allein auf der Welt steht. Das stimmt so auch nicht. Ich habe liebe Eltern und eine sechzehnjährige Schwester, ich habe, alle zusammengenommen, mindestens dreißig Bekannte oder was man so Freundinnen nennt. Ich habe einen Haufen Verehrer, die mir alles von den Augen ablesen und zur Not sogar versuchen, in der Klasse, mit Hilfe eines zerbrochenen Taschenspiegels einen Schimmer von mir zu erhaschen. Ich habe Verwandte und ein gutes Zuhause. Nein, mir fehlt wie es scheint nichts, außer »die« Freundin. Ich kann mit keinem meiner Bekannten etwas anderes tun, als herumzualbern, ich kann nur über banale Dinge sprechen und werde nie vertraulicher mit ihnen. Das ist der Haken. Vielleicht liegt dieses mangelnde Zutrauen auch an mir. Jedenfalls ist es leider so, und nicht zu ändern. Darum dieses Tagebuch.
Um mir die ersehnte Freundin in meiner Phantasie besser vorstellen zu können, werde ich nicht einfach Erlebtes in mein Tagebuch schreiben, wie das andere tun, sondern ich will dieses Tagebuch selbst die Freundin sein lassen, und diese Freundin heißt Kitty.
Meine Geschichte! (Seltsam, so etwas vergisst man nicht.)
Weil niemand das, was ich Kitty anvertraue, verstehen kann, wenn ich so mit der Tür ins Haus falle, muss ich wohl oder übel kurz meine Lebensgeschichte erzählen. Mein Vater, der liebste Schatz von einem Vater, dem ich je begegnet bin, heiratete erst mit 36 Jahren meine Mutter, die damals 25 war. Meine Schwester Margot wurde 1926 in Frankfurt am Main geboren, in Deutschland. Am 12. Juni 1929 folgte ich. Bis ich vier Jahre alt war, wohnte ich in Frankfurt. Weil wir Juden sind, ging mein Vater dann 1933 in die Niederlande. Er wurde Direktor der Niederländischen Opekta Gesellschaft, einer Marmeladen-Fabrikation. Meine Mutter, Edith Frank-Holländer, fuhr im September auch nach Holland, und Margot und ich gingen nach Aachen zu unserer Großmutter. Margot folgte dann im Dezember nach Holland und ich im Februar, wo ich als ›Geburtstagsgeschenk‹ für Margot auf dem Tisch platziert wurde.
Ich besuchte bald den Kindergarten der Montessorischule. Dort blieb ich bis zum Alter von Sechs, dann kam ich in die erste Klasse. In der 6. Klasse war ich bei Frau Kuperus, der Direktorin. Am Ende des Schuljahres gab es einen herzergreifenden Abschied zwischen uns, und wir weinten beide, denn ich wurde im Jüdischen Lyzeum aufgenommen, in das auch Margot ging.
Unser Leben verlief nicht ohne Aufregung, denn die übrige Familie in Deutschland war nicht vor Hitlers Judengesetzen sicher. Nach den Pogromen von 1938 flohen meine beiden Onkel, die Brüder meiner Mutter, nach Amerika, und meine Großmutter zog zu uns. Sie war zu der Zeit 73 Jahre alt.
Ab Mai 1940 gingen die guten Zeiten auf Talfahrt: Erst der Krieg, dann die Kapitulation der Niederlande, die Besetzung durch die Deutschen, und das Elend für uns Juden begann. Judengesetz folgte auf Judengesetz, und unsere Freiheit wurde immer mehr eingeschnürt: Juden müssen einen Judenstern tragen; Juden müssen ihre Fahrräder abgeben; Juden dürfen nicht mit der Straßenbahn fahren; Juden dürfen nicht mit einem Auto fahren, auch nicht mit dem eigenen; Juden dürfen nur zwischen 3 und 5 Uhr einkaufen; Juden dürfen sich nur bei einem jüdischen Frisör die Haare schneiden lassen; Juden dürfen zwischen 8 Uhr abends und 6 Uhr morgens nicht das Haus verlassen; Juden dürfen sich nicht in Theatern, Kinos oder anderen Plätzen, die dem Vergnügen dienen, aufhalten; Juden dürfen nicht ins Schwimmbad, und genau so wenig auf Tennis-, Hockey- oder andere Sportplätze; Juden dürfen nicht rudern; Juden dürfen in der Öffentlichkeit überhaupt keinen Sport treiben; Juden dürfen nach acht Uhr weder bei sich zu Hause noch bei Bekannten im Garten sitzen; Juden dürfen nicht zu Christen ins Haus kommen; Juden müssen auf jüdische Schulen gehen, und so weiter. So lebten wir dahin, aber wir durften dies nicht und jenes nicht. Jacque [Annes Freundin Jacqueline van Maarsen] sagt immer zu mir: »Ich getraue mich nicht mehr, irgendetwas zu machen, denn ich fürchte, es könnte verboten sein.«
Oma wurde im Sommer 1941 sehr krank. Sie musste operiert werden, und mein Geburtstag ging daneben unter. Im Sommer 1940 war er auch schon flach gefallen, da war der Überfall auf die Niederlanden gerade vorbei. Oma starb im Januar 1942. Keiner ahnt, wie oft ich an sie denke und sie noch immer lieb habe. Der Geburtstag 1942 ist dann auch gefeiert worden, um alles nachzuholen, und Omas Kerze stand dabei.
Uns vieren geht es noch immer gut, so bin ich also beim heutigen Datum angelangt, an dem die feierliche Einweihung meines Tagebuchs beginnt, es ist der 20. Juni 1942.
Samstag, 20. Juni 1942
Liebe Kitty!
Dann beginne ich gleich mal. Es ist schön ruhig zu Hause, Vater und Mutter sind ausgegangen, Margot ist mit ein paar jungen Leuten zu ihrer Freundin zum Tischtennis-Spielen. Das spiele ich in der letzten Zeit auch sehr häufig, sogar so häufig, dass wir fünf Mädchen einen Club gegründet haben.
Der Club heißt »Der kleine Bär minus 2«. Ein bescheuerter Name, der durch einen Irrtum zu Stande kam. Wir wollten einen besonderen Namen und hatten wegen unserer fünf Mitglieder gleich die Sterne im Sinn, das Sternbild des Kleinen Bären. Wir dachten, er hätte fünf Sterne, aber da täuschten wir uns, denn er hat sieben, genauso wie der Große Bär. Darum das »Minus zwei«.
Ilse Wagner hat eine Tischtennisplatte, und das große Esszimmer der Wagners steht uns jederzeit zur Verfügung. Da wir Pingpongspielerinnen vor allem im Sommer gerne Eis essen, und das Spielen erhitzt, endet es meistens mit einem Ausflug zur nächstgelegenen Eisdiele, in die Juden gehen dürfen, die ›Oase‹ oder das ›Delphi‹. Nach Geld oder Portemonnaie brauchen wir gar nicht zu kramen, denn in der Oase ist es meistens so voll, dass wir immer einige Kavaliere aus unserem großen Bekanntenkreis oder den einen oder anderen Verehrer finden, die uns mehr Eis spendieren, als wir in einer Woche essen können.
Ich nehme an, es wundert dich ein wenig, dass ich, jung wie ich bin, über Verehrer spreche. Leider (in einigen Fällen auch nicht leider) ist dieses Übel an unserer Schule wohl unvermeidbar. Sobald mich ein Junge fragt, ob er mit mir nach Hause radeln könne, und wir ein wenig miteinander reden, kann ich in neun von zehn Fällen davon ausgehen, dass dieser Jüngling sofort Feuer und Flamme für mich ist und mich nicht mehr aus den Augen verliert. Nach gewisser Zeit verfliegt dann die Verliebtheit wieder, vor allem, weil ich mir aus den feurigen Blicken nicht viel mache und frohgemut weiter radle. Wenn es mir manchmal zu bunt wird, schlenkere ich ein bisschen mit dem Rad hin und her, die Tasche fällt zu Boden, und der junge Mann muss absteigen, wie es sich gehört. Bis er mir die Tasche zurückgegeben hat, habe ich längst ein anderes Gesprächsthema gefunden. Das sind aber noch die Braven. Es gibt auch welche, die mir Kusshändchen zuwerfen oder versuchen, mich am Arm zu halten. Aber da sind sie bei mir an der richtigen Adresse! Ich steige ab und lehne es ab, weiter seine Gesellschaft in Anspruch zu nehmen. Oder ich gebe die Beleidigte und sage ihm unumwunden, er könne den Weg nach Hause ant...