Psychologie der Massen
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  1. 157 Seiten
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Psychologie der Massen

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Über dieses Buch

GUSTAVE LE BON (1841-1931)Arzt, Ethnologe, Soziologe und Psychologe. Er gilt als Begründer der 'Massenpsychologie'.Sein berühmtes Werk 'Psychologie der Massen' übte einen nachhaltigen Einfluss in der Wissenschaft undpraktischen Politik aus. Dieses Grundlagenwerk der Sozialpsychologie beeinflusste nicht nur SiegmundFreud ('Die Massenpsychologie und die Ich-Analyse'), sondern wurde auch von Politikern und Diktatorendes 20. Jahrhunderts für die Ausarbeitung ihrer Propagandatechniken benutzt.

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Information

Zweites Buch
Die Meinungen und Glaubenslehren der Massen
1. Kapitel:
Entfernte Triebkräfte der Glaubenslehren und Meinungen der Massen
Wir haben bisher den geistigen Zustand der Massen studiert. Wir kennen die Art ihres Fühlens, Denkens, Schließens. Nun wollen wir sehen, auf welche Weise ihre Meinungen und Glaubenslehren entstehen und sich befestigen. Zwei verschiedene Arten von Triebkräften bestimmen diese Meinungen und Glaubenslehren: mittelbare und unmittelbare Triebkräfte.
Die mittelbaren Triebkräfte befähigen die Massen zur Annahme gewisser Überzeugungen und verhindern das Eindringen anderer. Sie bereiten den Boden, auf dem man plötzlich neue Ideen hervor sprießen sieht, deren Kraft und Wirkung Staunen erregen, die aber nur scheinbar plötzlich sind. Der Ausbruch und die Verwirklichung gewisser Ideen bei den Massen zeigen oft eine blitzartige Plötzlichkeit. Doch das ist nur die oberflächliche Wirkung, hinter der man meistens eine lange Vorarbeit suchen muss.
Dieser langen Arbeit, ohne die sie wirkungslos bleiben würden, übergeordnet sind die unmittelbaren Antriebe, die die lebendige Überzeugung der Massen hervorrufen – also der Idee ihre Gestalt geben und sie mit all ihren Folgen entfesseln. Diese unmittelbaren Triebkräfte sind der Anlass für das Auftauchen der Entschlüsse, die eine Gesamtheit zu einer jähen Erhebung führen – durch sie bricht ein Aufruhr los oder wird ein Streik beschlossen, sie bringen durch riesige Stimmenmehrheit einen Menschen zur Macht oder stürzen eine Regierung. Bei allen großen Geschehnissen der Geschichte kann man die ununterbrochene Wirkung dieser beiden Arten von Triebkräften feststellen. Als eins der klarsten Beispiele könnte man die Französische Revolution anführen, deren mittelbare Antriebe die Kritiken der Schriftsteller und die Erpressungen des Adels waren. Die so vorbereitete Massenseele war infolgedessen leicht aufzurütteln durch unmittelbare Antriebe, wie die Ansprachen der Redner und den Widerstand des Hofes gegen unbedeutende Reformen.
Zu den mittelbaren Triebkräften gehören allgemeine Faktoren, die allen Glaubensbekenntnissen und Anschauungen zugrunde liegen, das sind: die Rasse, die Überlieferungen, die Zeit, die Einrichtungen und die Erziehung.
Wir wollen ihre jeweilige Aufgabe untersuchen.
I. Die Rasse
Als ein Antrieb ersten Ranges ist die Rasse zu betrachten, denn sie ist allein schon viel bedeutender als alle übrigen. Ich habe sie in einer andern Schrift genügend untersucht und brauche hier nicht ausführlich darauf zurückzukommen. Ich zeigte in jener Schrift, was eine geschichtliche Masse ist und dass, wenn sich ihre Charaktermerkmale gebildet haben, ihre Glaubenslehren, ihre Einrichtungen, ihre Kunst, kurz, alle ihre Kulturelemente den äußeren Ausdruck ihrer Seele bilden. Die Kraft der Rasse ist so groß, dass kein Element von einem Volk zum andern übergehen könnte, ohne die tief gehendsten Umwandlungen zu erfahren.8 Die Umgebung, die Umstände, die Ereignisse spiegeln die augenblicklichen sozialen Einflüsse wider. Sie können von bedeutender Wirkung sein, aber dieser Einfluss ist stets nur ein augenblicklicher, wenn er im Gegensatz zu den Rasseneinflüssen, d. h. zu der ganzen Ahnenreihe steht.
Wir werden noch in mehreren Kapiteln dieser Arbeit Gelegenheit haben, auf den Einfluss der Rasse zurückzukommen und zu zeigen, dass er stark genug ist, die Sondermerkmale der Massenseele zu beherrschen. Daraus ergibt sich der Umstand, dass die Massen der verschiedenen Länder in ihrem Glauben und Verhalten sehr beträchtliche Unterschiede aufweisen und nicht auf die gleiche Weise zu beeinflussen sind.
II. Die Überlieferungen
Die Überlieferungen umfassen die Ideen, Bedürfnisse und Gefühle der Vorzeit. Sie bilden die Einheit der Rasse und lasten mit ihrem ganzen Gewicht auf uns.
Seit die Embryologie den ungeheuren Einfluss der Vergangenheit auf die Entwicklung der Wesen gezeigt hat, haben sich die biologischen Wissenschaften gewandelt, und die historischen werden es auch tun, wenn dieser Gedanke weiter verbreitet sein wird. Noch ist er nicht hinreichend bekannt, und viele Staatsmänner sind damit auf dem Standpunkt der Theoretiker des vergangenen Jahrhunderts stehen geblieben, dass sie glauben, eine Gesellschaft könne mit ihrer Vergangenheit brechen und allein durch die Kraft der Vernunft von Grund auf erneuert werden.
Ein Volk ist ein Organismus, der durch die Vergangenheit geschaffen wurde. Wie alle Organismen kann er sich nur durch langsame Anhäufung von Erbmasse verändern.
Die wahren Führer der Völker sind die Überlieferungen; und wie ich schon mehrmals wiederholte, nur die äußeren Formen verändern sich leicht. Ohne Überlieferung, d. h. ohne Volksseele ist keine Kultur möglich. So bestanden denn auch die beiden großen Aufgaben des Menschen, seit er auf der Welt ist, in der Schaffung eines Netzes von Überlieferungen und in ihrer Zerstörung nach Verbrauch ihrer nützlichen Wirkungen. Keine Kultur ohne beharrende Überlieferungen, ohne ihre langsame Ausschaltung kein Fortschritt. Die Schwierigkeit besteht darin, das richtige Gleichgewicht zwischen Beharrung und Veränderlichkeit zu finden. Diese Schwierigkeit ist ungeheuer. Hat ein Volk durch viele Geschlechter seine Gewohnheiten zu sehr erstarren lassen, so kann es sich nicht mehr ändern und wird, wie China, unfähig zur Vervollkommnung. Selbst gewaltsame Veränderungen bleiben wirkungslos, denn dann werden entweder die zerrissenen Glieder der Kette wieder zusammengeschweißt, und die Vergangenheit nimmt ihre Herrschaft unverändert wieder auf, oder die Bruchstücke bleiben getrennt und dann folgt der Anarchie bald die Entartung.
Es ist also die Aufgabe eines Volkes, die Einrichtungen der Vergangenheit zu bewahren, indem es sie nur nach und nach verändert. Die Römer im Altertum und die Engländer in der Neuzeit sind fast die einzigen, die sie verwirklicht haben.
Gerade die Massen, und namentlich die Massen, aus denen sich die Klassen zusammensetzen, sind die zähesten Bewahrer der überlieferten Ideen und widersetzen sich am hartnäckigsten ihrem Wechsel. Ich habe bereits auf den konservativen Geist der Massen hingewiesen und gezeigt, dass viele Revolten nur auf eine Veränderung von Worten hinauslaufen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts konnte man angesichts der zerstörten Kirchen, der verjagten oder guillotinierten Priester, der allgemeinen Verfolgung des katholischen Kultus glauben, die alten religiösen Ideen hätten alle Macht eingebüßt; und doch musste nach einigen Jahren infolge allgemeiner Forderungen der abgeschaffte Kultus wieder eingesetzt werden.9
Kein Beispiel könnte besser die Macht der Gewohnheit über die Menschenseele zeigen. Die furchtbarsten Idole werden nicht in den Tempeln beherbergt, und die gewalttätigsten Tyrannen wohnen nicht in den Palästen. Sie wären leicht zu stürzen. Aber die unsichtbaren Herren, die unsere Seelen beherrschen, entziehen sich jedem Angriff und geben nur der langsamen Abnutzung durch die Jahrhunderte nach.
III. Die Zeit
Einer der wirksamsten Faktoren in den gesellschaftlichen wie in den sozialen Fragen ist die Zeit. Sie ist der wahre Schöpfer und der große Zerstörer. Sie hat die Berge aus Sandkörnern aufgebaut und die winzige Zelle der geologischen Urzeit zur menschlichen Würde erhoben. Die Einwirkung der Jahrhunderte genügt, um jede beliebige Erscheinung umzuformen. Mit Recht sagt man, dass eine Ameise, die Zeit genug hätte, den Montblanc abtragen könnte. Ein Wesen, das die magische Gewalt besäße, die Zeit nach Belieben zu verändern, hätte die Macht, die von den Gläubigen ihren Göttern zugeschrieben wird.
Aber wir haben uns hier nur mit dem Einfluss der Zeit auf die Entstehung der Anschauungen der Massen zu beschäftigen. Unter diesem Gesichtspunkt ist ihre Wirkung ebenfalls ungeheuer. Sie hält die großen Kräfte, wie die der Rasse, die sich nicht ohne sie bilden können, in ihrer Abhängigkeit. Sie lässt alle Glaubenslehren entstehen und absterben. Von ihr empfangen sie ihre Macht, und sie entzieht sie ihnen auch wieder.
Die Zeit bereitet die Meinungen und Glaubensbekenntnisse der Massen vor, d. h. den Boden, auf dem sie keimen. Daraus folgt, dass gewisse Ideen nur zu einer bestimmten Zeit, dann nicht mehr zu verwirklichen sind. Die Zeit häuft unermessliche Überreste von Glaubensbekenntnissen und Gedanken an, denen die Ideen eines Zeitalters entspringen. Sie keimen nicht durch Zufall und Ungefähr. Ihre Wurzeln reichen tief in die Vergangenheit. Wenn sie blühen, so hatte die Zeit ihre Blüte vorbereitet, und um ihren Ursprung zu erfassen, muss man stets zurückgehen. Sie sind Töchter der Vergangenheit und Mütter der Zukunft, stets aber Sklavinnen der Zeit.
So ist denn die Zeit unsere wahre Meisterin, und man braucht sie nur walten zu lassen, um zu sehen, wie alle Dinge sich wandeln. Heute beunruhigen uns die bedrohlichen Ansprüche der Massen, und die Zerstörungen und Umwälzungen, die sie ahnen lassen. Die Zeit allein wird es auf sich nehmen, das Gleichgewicht wieder herzustellen. »Keine Ordnung«, schreibt treffend Lavisse, »wurde an einem Tage gegründet. Die politischen und sozialen Organisationen sind Werke, die Jahrhunderte erfordern; der Feudalismus bestand Jahrhunderte lang formlos und chaotisch, bevor er seine Richtlinien fand; die absolute Monarchie bestand ebenfalls durch Jahrhunderte, bis sie regelrechte Herrschaftsmittel herausbildete, und es gab große Verwirrungen in diesen Übergangszeiten.«
IV. Die politischen und sozialen Einrichtungen
Der Gedanke, Einrichtungen könnten den Übeln der Gesellschaft abhelfen, der Fortschritt der Nationen sei die Folge der Vervollkommnung der Verfassungen und Regierungen, und die sozialen Umwandlungen könnten sich durch Erlasse vollziehen, dieser Gedanke ist noch ganz allgemein verbreitet. Die Französische Revolution nahm ihn zum Ausgangspunkt, und die sozialen Lehren der Gegenwart stützen sich auf ihn.
Ununterbrochene Erfahrungen konnten diesen fürchterlichen Wahn nicht ernstlich erschüttern. Vergebens haben die Philosophen und Historiker versucht, seine Sinnlosigkeit zu beweisen. Immerhin war es ein Leichtes für sie, zu zeigen, dass alle Einrichtungen Töchter der Ideen, Gefühle und Sitten sind, und dass diese Ideen, Gefühle und Sitten nicht dadurch umgestaltet werden, dass man die Gesetze umgestaltet. Ein Volk wählt die meisten Einrichtungen nicht nach Belieben, ebenso wenig wie es die Farbe seiner Augen oder Haare wählt. Einrichtungen und Regierungsformen sind ein Rasseerzeugnis. Weit entfernt davon, die Schöpfer einer Epoche zu sein, sind sie deren Geschöpfe. Die Völker werden nicht nach ihren augenblicklichen Launen, sondern ihrem Charakter gemäß regiert. Die Bildung einer Staatsordnung erfordert Jahrhunderte, und Jahrhunderte braucht es zu ihrer Wandlung. Die Einrichtungen haben keinen unmittelbaren Wert, sie sind an sich weder gut noch schlecht. Zu einer bestimmten Zeit können sie für ein bestimmtes Volk gut und für ein anderes grundschlecht sein.
Ein Volk hat also keineswegs die Macht, seine Einrichtungen wirklich zu verändern. Gewiss kann es um den Preis gewaltsamer Revolutionen ihre Namen ändern, aber der Kern bleibt derselbe. Die Namen sind nur leere Etiketten, die ein Historiker, der sich mit dem wahren Wert der Dinge befasst, nicht in Rechnung zu ziehen braucht. So ist England10 das demokratischste Land der Welt, obwohl es eine monarchistische Regierung hat, während in den spanischamerikanischen Republiken trotz ihrer demokratischen Verfassung die härteste Despotie herrscht. Nicht die Regierung, sondern der Charakter der Völker bestimmt ihre Schicksale. Diese Wahrheit habe ich in einer früheren Arbeit mit Hilfe bestimmter Beispiele zu begründen versucht.
Es ist also ein kindisches Unterfangen, eine zwecklose rhetorische Übung, die Zeit mit der Anfertigung von Verfassungen zu vergeuden. Die Notwendigkeit und die Zeit über- nehmen ihre Ausarbeitung, wenn man sie nur walten lässt. Der große Historiker Macaulay zeigt in einem Satz, der von den Politikern aller lateinischen Länder auswendig gelernt werden müsste, dass die Angelsachsen es so machten. Nachdem er die scheinbaren Wohltaten der Gesetze, vom Standpunkt der reinen Vernunft ein Chaos von Unsinnigkeiten und Widersprüchen, angeführt hat, vergleicht er die Dutzende von Verfassungen, die in den Erschütterungen der lateinischen Völker Europas und Amerikas untergegangen sind, mit der Verfassung Englands und zeigt, dass diese sich nur äußerst langsam, stückweise, unter dem Einfluss unmittelbarer Notwendigkeit veränderte, aber niemals durch berechnete Vernunftgründe. »Sich nie um die Anordnung, wohl aber um die Nützlichkeit kümmern, nie eine Ausnahme beseitigen, nur weil es eine Ausnahme ist, nie eine Neuerung einführen, es sei denn, es mache sich eine Unzuträglichkeit fühlbar, und auch dann nur gerade so viel erneuern, dass diese Unzuträglichkeit abgestellt wird, nie einen Antrag stellen, der über den Einzelfall, den man behandelt, hinausgeht: Das sind die Regeln, die seit den Zeiten Johannes bis zum Zeitalter Viktorias unsere 250 Parlamente allgemein geleitet haben.«
Man müsste die Gesetze und Einrichtungen eines jeden Volkes eins nach dem andern vornehmen, um zu zeigen, in welchem Maße sie der Ausdruck der Bedürfnisse ihrer Rasse und deshalb nicht gewaltsam umzuwandeln sind. Man kann sich mit den Vorteilen und Übelständen der Zentralisation philosophisch auseinandersetzen, wenn wir aber sehen, wie ein Volk, das aus verschiedenen Rassen besteht, tausendjährige Anstrengungen macht, um Schritt für Schritt diese Zentralisation zu erreichen, wenn wir feststellen, dass eine große Revolution, deren Ziel die Zertrümmerung aller Einrichtungen der Vergangenheit war, sich genötigt sah, diese Zentralisation nicht allein anzuerkennen, sondern sogar zu übertreiben, so können wir sagen, sie ist das Ergebnis gebieterischer Notwendigkeiten, eine unmittelbare Folge des Daseins, und können nur den Mangel an Weitblick bei den Politikern, die von ihrer Aufhebung reden, beklagen. Wenn durch einen Zufall ihre Meinung siegte, so wäre dieser Erfolg das Signal zu einer tief greifenden Anarchie,11 die obendrein zu einer viel drückenderen Zentralisation als der früheren führen würde.
Aus dem Vorstehenden ist zu schließen, dass man in den Einrichtungen nicht das Mittel zu suchen hat, die Seelen der Massen nachhaltig zu bewegen. Gewisse Länder mit demokratischen Einrichtungen, wie die Vereinigten Staaten, blühen wunderbar auf, während andre, wie die spanischamerikanischen Republiken, trotz durchaus ähnlicher Einrichtungen, in der traurigsten Anarchie dahinleben. Diese Einrichtungen haben ebenso wenig mit der Größe der einen wie mit dem Niedergang der andern zu tun. Die Völker werden immer von ihrem Charakter beherrscht, und alle Einrichtungen, die sich diesem Charakter nicht innig anschmiegen, sind nichts als ein ausgeliehenes Gewand, eine vorübergehende Verkleidung. Gewiss hat es blutige Kriege und gewaltige Revolutionen gegeben, um Einrichtungen einzuführen, denen man wie den Reliquien der Heiligen die übernatürliche Macht zuschreibt, das Glück hervorzuzaubern. In gewissem Sinne könnte man sagen: Einrichtungen wirken auf die Massenseele, da sie solche Erhebungen verursachen. In Wahrheit sind es nicht die Einrichtungen, die so wirken, denn wir wissen, dass sie siegend oder besiegt, an sich keinerlei Wert besitzen. Wenn wir ihren Siegeszug verfolgen, verfolgen wir nur Täuschungen.
V. Unterricht und Erziehung
An erster Stelle unter den herrschenden Gedanken unsrer Zeit steht die Idee, der Unterricht habe den bestimmten Erfolg, die Menschen zu bessern und sogar einander ähnlich zu machen. Nur durch seine Wiederholung ist dieser Satz schließlich zu einem der unerschütterlichsten Sätze der Demokratie geworden. Er ist ebenso unantastbar geworden, wie einst die Dogmen der Kirche.
Aber in diesem Punkt, wie in so vielen anderen, stehen die Ideen der Demokratie in schärfstem Gegensatz zu den Ergebnissen der Psychologie und der Erfahrung. Mehrere hervorragende Philosophen, besonders Herbert Spencer, konnten leicht beweisen, dass der Unterricht den Menschen weder sittlicher noch glücklicher macht, dass er die Instinkte und Leidenschaften des Menschen nicht ändert und, schlecht geleitet, oft mehr Schaden als Nutzen bringt. Die Statistiker bestätigen diese Ansicht, indem sie zeigen, dass die Kriminalität mit der Verbreitung des Unterrichts oder wenigstens einer gewissen Art des Unterrichts zunimmt; dass die ärgsten Feinde der Gesellschaft, die Anarchisten, oft aus den Besten der Schule hervorgehen. Ein hoher Justizbeamter, Adolphe Guillot, berichtet, dass man jetzt dreitausend gebildete auf tausend ungebildete Verbrecher rechnen kann, und dass innerhalb fünfzig Jahren das Verbrechertum von 227 auf 552 von hunderttausend Einwohnern gestiegen ist, was einen Zuwachs von 133 Prozent bedeutet. Er hat auch, in Übereinstimmung mit seinen Kollegen, festgestellt, dass die Kriminalität besonders bei den jungen Leuten zunimmt, bei denen die unentgeltliche Pflichtschule an die Stelle des Lehrherrn getreten ist.
Gewiss hat niemals jemand behauptet, dass gut geleiteter Unterricht keine praktischen, sehr nützlichen Ergebnisse haben könnte, wenn auch nicht in sittlicher Hinsicht, so doch in Bezug auf die Entfaltung der beruflichen Fähigkeiten. Leider haben, besonders seit dreißig Jahren, die lateinischen Völker ihre Unterrichtsformen auf ganz falschen Voraussetzungen aufgebaut und beharren trotz der Beobachtungen der hervorragendsten Köpfe in ihren bedauerlichen Irrtümern. Ich selbst habe in verschiedenen Schriften12 gezeigt, dass unsere gegenwärtige Erziehung die Mehrzahl derer, denen sie zuteil wurde, in Feinde der Gesellschaft verwandelt, die vielfach die Gefolgschaft der schlimmsten Formen des Sozialismus bilden.
Die erste Gefahr dieser Erziehung, die treffend als lateinisch gekennzeichnet wird, beruht auf einem psychologischen Grundirrtum, sich einzubilden, die Intelligenz entwickle sich durch Auswendiglernen von Lehrbüchern. Ferner bemüht man sich, soviel als möglich zu lehren, und von der Volksschule bis zur Doktor- oder Staatsprüfung hat der junge Mann sich nur mit dem Inhalt von Büchern voll zu stopfen, ohne jemals sein Urteil oder seine Entschlusskraft zu üben. Der Unterricht besteht für ihn im Hersagen und Gehorchen. »Aufgaben lernen, eine Grammatik oder einen Abriss auswendig wissen, gut wiederholen, gut nachmachen«, schreibt der ehemalige Unterrichtsminister Jules Simon, »das ist eine komische Erziehung, bei der jede Anstrengung nur ein Beweis des Glaubens an die Unfehlbarkeit des Lehrers ist und dazu führt, uns herabzusetzen und unfähig zu machen.«
Wäre diese Erziehung nur nutzlos, so könnte man sich damit begnügen, die unglücklichen Kinder zu bedauern, denen man statt vieler notwendiger Dinge lieber die Genealogie der Söhne Chlotars, die Kämpfe zwischen Neustrien und Austrasien oder zoologische Einteilungen beibringt; aber sie bildet eine viel ernstere Gefahr, sie bewirkt bei dem, der sie genossen hat, einen heftigen Widerwillen gegen die Verhältnisse, in denen er geboren ist, und den nachdrücklichen Wunsch, aus ihnen herauszukommen. Der Arbeiter will nicht mehr Arbeiter, der Bauer nicht mehr Bauer bleiben, und der letzte Kleinbürger sieht für seine Söhne keine andere Möglichkeit als die Laufbahn eines fest besoldeten Staatsbeamten. Anstatt die Menschen für das Leben vorzubere...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Copyright
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Die wichtigsten Lebensdaten
  6. Vorwort zur ersten Auflage
  7. Einleitung
  8. Erstes Buch: Die Massenseele
  9. Zweites Buch: Die Meinungen und Glaubenslehren der Massen
  10. Drittes Buch: Einteilung, Beschreibung der verschiedenen Arten von Massen
  11. Erlaeuterndes Verzeichnis
  12. Anmerkungen