E. oder Die Insel
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E. oder Die Insel

  1. 290 Seiten
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E. oder Die Insel

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Über dieses Buch

April 1945, auf einer Insel in der Mulde. In einem Gebüsch hält sich ein Mann versteckt. Seine Knie sind aufgeschlagen, seine Sachen nass, in der Ferne ist das Geräusch krachender Haubitzen zu hören. Er blickt auf das Pfarrhaus am Ufer, in dem er mit seiner Frau und den Kindern gelebt hat. Aber jetzt sind sie weg. Sie scheinen verschleppt worden zu sein, und er ist sich sicher, dass ihr Verschwinden etwas mit ihm zu tun hat. Er versucht sich zu erinnern. Ein Mann mit einem Klumpfuß kommt ihm in den Sinn. Und ein kleines Mädchen, von dem er nach und nach zu erzählen beginnt. Was er sieht, hört und denkt, schreibt er auf. Ein Abschiedsbrief an seine Frau. Ein Bericht, mit dem er Zeugnis ablegt. Er notiert seine Worte auf der Rückseite von Akten. Sie liegen in dem Koffer, den er bei sich führt, zwischen Dosenfleisch, einer zersplitterten Uhr und einem langsam hart werdenden Laib Brot.Ein Roman, dessen Fassade langsam zerbricht und der die Abgründe unter der dünnen Firnis der Zivilisation sichtbar macht."Ein dunkler Roman über einen Arzt, der gefangen ist auf der Insel seines Denkens. Ich kenne nichts Vergleichbares in der deutschen Gegenwartsliteratur." (Gunnar Cynybulk)

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Information

Jahr
2021
ISBN
9783863913007

Samstag, 14. April 1945

Marie, wo bist du? Was haben sie mit dir und den Kindern gemacht?
Ich bin auf der Insel im Fluss. Ich halte mich in den Büschen versteckt. Ich habe mich tief unter die Zweige geschlagen.
Du kannst mich nicht sehen, und du hörst mich auch nicht. Ich kritzle meine Worte stumm aufs Papier.
Marie, es ist viel passiert. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich sitze hier, meine Sachen sind nass, und ich friere. Dabei sollte ich neben dir liegen. Ich wollte dich überraschen, wollte zu dir ins Bett steigen, mich an dich schmiegen und dir sagen, dass alles gut ist. Dass ich die Stadt verlassen habe. Dass dieser Krieg hinter mir liegt.
Ich wäre gern eher gekommen. Aber es ging nicht. Ich musste noch ein Kind begleiten. Ein Mädchen, noch keine zehn Jahre. Ich konnte es nicht allein lassen auf seinem Weg.
Marie, du brauchst keine Angst zu haben, für mich ist gesorgt. Ich habe ein Dach aus Blättern und Zweigen und Vorräte für mehrere Tage. In meinem Koffer sind Büchsen mit Kondensmilch und Wachsbohnen. Sogar Dosenfleisch habe ich. Und Brot.
Ich habe es aus L. mitgebracht. Die ganze Stadt wurde gestern versorgt. Es heißt, die Zuteilungszeiträume seien zusammengelegt worden. Dabei weiß jeder, dass es Sonderzuteilungen waren, wie wir sie nach jedem Luftangriff kriegen. Aber ich habe mich nicht mit in die Schlange gestellt. Ich hatte mir meinen Teil schon zwei Tage vorher geholt. In der Nacht, in der die Bomber gekommen sind.
Ich hatte mich gerade hingelegt, als der Alarm durch die Ruine geheult ist. Es war bereits der vierte an diesem Tag, und ich war es leid, durch die riesigen Flure zu rennen und Schutz im Keller zu suchen.
Du kannst es nicht wissen, Marie, aber der Keller ist leer. Die eilfertigen Diener des Untergangs haben sämtliche Akten aus den Schränken geholt und auch sonst nichts zurückgelassen. Als müssten sie Platz machen für unseren Schutz. Dabei waren wir nur noch zu zweit, das Mädchen und ich.
Ich bin liegen geblieben und habe an die Decke gestarrt. Ich war mir sicher, sie würden uns nicht attackieren. Es gab nichts mehr zu holen, rundherum war doch schon alles verbrannt. Aber dann ist die Kleine aufgewacht und hat angefangen zu wimmern. Sie hat ganz flach geatmet, und ich habe sie aus dem Bett genommen und fest an mich gedrückt. Aber ich konnte sie nicht beruhigen. Also habe ich den Leuchtkasten über meinem Tisch angemacht und ihr die Bilder gezeigt, doch auch das hat nichts gebracht. In meiner Not habe ich die Pappen aus den Fenstern entfernt, und wir haben raus in den Nachthimmel geschaut. Auf die Flieger, die von Osten hereinzogen, und die Stadt, die wenig später zu brennen begann.
Ich weiß nicht, warum, aber das hat sie ruhig gestimmt. Ich habe es erst gemerkt, als sie schon wieder eingeschlafen war. Ich hatte nur Augen für die brennende Stadt.
Marie, mir ist kalt, und alles ist nass. Die Sachen kleben an meiner Haut wie mein Stift auf dem Papier. Alles andere hat sich gelöst. Ist kaputtgegangen. Zerfallen.
Wie ich da stand und durch die glaslosen Fenster geblickt habe. Auf den Nachthimmel und die vielen Maschinen … Sie hatten sich zu einem langen Rechteck geformt, als versuchten sie, einen Sarg in den Himmel zu zeichnen.
Sie sind von Osten gekommen und übers Stadtzentrum gezogen. Dann sind sie nach Nordwest abgedreht und haben angefangen, ihre Leuchtbomben zu werfen.
Es gab keine Gegenwehr. Die Flak hat nur spärlich geschossen und auch erst dann, als die Bomben schon fielen. Offenbar hat sie der Angriff überrascht. Vielleicht ist ihnen die Verteidigung einer Stadt, die bereits zerbombt worden ist, aber auch sinnlos geworden. Ich kann es nicht sagen. Ich weiß nur, dass das Abwehrfeuer aus der Nähe kam. Wahrscheinlich die Flakstellung in der Torgauer Straße.
Die Kaserne trägt den Namen des Stadtteils, in dem sie steht. „Heiterblick“. Was für eine lächerliche Ironie.
Sie haben nur noch für ihr Gewissen geschossen. Der Glaube an den Sieg liegt längst unter ihren Stiefeln begraben. Die Flak hat gegen die Flieger nichts ausrichten können. Selbst wenn sie einen getroffen haben, war seine Ladung schon unterwegs. Die Bomben hingen an kleinen Fallschirmen und kamen ganz langsam herabgeschwebt. Als wollten sie den Menschen eine letzte Chance geben, in die Keller zu eilen.
Aber ich bin nicht gegangen. Ich habe am Fenster gestanden und zugesehen, wie die Bomben lange, leuchtende Schlieren in den Nachthimmel gemalt haben und das Feuer in die Stadt zu tropfen begann. Ein glühender Sternregen. Und in meinen Armen das Mädchen, das zu wimmern aufgehört hatte.
Ich weiß nicht, wie lange ich da gestanden habe. Ich weiß nur, dass ich keine Angst hatte. Die Flugzeuge waren weit weg, sie hatten sich ein anderes Ziel ausgesucht. Für sie existierte der Ort, an dem ich stand, gar nicht mehr. Sie hatten ihn schon erledigt. Für sie war es nur noch eine Trümmerwüste. Ein Ruinenfeld. Eine Sache, die abgehakt war. Sie konnten nicht wissen, dass das Kind und ich überlebt hatten.
Die Kleine war in meinen Armen eingeschlafen, und für einen Augenblick habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, wenn ihr Gesicht im Schein des brennenden Phosphors zu leuchten begänne.
Drüben, die Fenster des Pfarrhauses sind dunkel. Nur die Holzstoff-Fabrik schüttet ihr Licht vor mir aus. Sie kippt es direkt in den Fluss.
Was kann ich tun, außer hier hocken und warten. Mir mit dem Stift die Kälte aus dem Körper rausschreiben? Als ob das was brächte! Ich bin nass, von oben bis unten. Ich kann den Bleistift kaum halten. Ich schreibe nur, um meine Hände zu spüren.
Als ich am Fenster stand, habe ich mir für einen Moment gewünscht, dass einer der Flieger aus der Formation ausbricht und Kurs auf mich nimmt. Er kann es nicht ertragen, dass ihn jemand beobachtet bei dem, was er tut. Es ekelt ihn an, dass inmitten des Krieges ein Mensch in aller Ruhe da steht, hinter einem zerborstenen Fenster, mit einem schlafenden Mädchen im Arm.
Aber das ist nicht passiert. Als die Flieger ihre Leuchtbomben abgeworfen hatten, sind sie nach Süden gedreht, und dann ist auch schon die zweite Welle gekommen. Wie Tiere sind sie über die Stadt hergefallen. Sie hatten den Auftrag, die Sache zu Ende zu bringen. Und das haben sie auch getan.
Es fiel ihnen nicht schwer. Die erste Welle hatte ganze Arbeit geleistet und das Ziel mit den Leuchtbomben markiert. Sogar aus der Ferne war zu erkennen, was sie sich ausgesucht hatten. Es war der Verladebahnhof im Nordwesten der Stadt.
Es war nicht ihr erstes Ziel an dem Tag. Ein paar Stunden zuvor hatten sie schon den Rangierbahnhof im Osten attackiert. Nach dem Angriff hing eine große, blaue Rauchwolke über der Stadt. Sie sah aus wie ein himmlisches Kainsmal.
Als die Bomber dann in der Nacht wiedergekommen sind, war die Wolke verschwunden, und die Flieger haben angefangen, mit ihren Bomben leuchtende Schlieren in den kristallschwarzen Himmel zu zeichnen. Und ich? Ich stand am Fenster und habe ihnen dabei zugeschaut. Mit einem schlafenden Kind im Arm und einem Haufen dicker Pappen zu meinen Füßen. Und neben mir, über dem Tisch, der Leuchtkasten, der stumm vor sich hin brannte.
Marie, es fällt mir schwer, meinen Worten zu glauben. Es ist, als berichtete ich von einer anderen Zeit, von einer anderen Welt, von einem anderen Menschen. Aber das bin ich, Marie. Ich, der auf dieser Insel hier sitzt und wartet. Auf dich und die Kinder!
Es gibt nichts zu bereuen, Marie. Was ich getan habe, war richtig, und ich würde es wieder so tun. Ich wäre nur gern ein paar Stunden eher gekommen. Dann lägen wir jetzt zusammen im Bett, und nebenan schliefen die Kinder, und der Krieg würde uns nicht mal im Traume erscheinen.
Carl und Irmchen und Paul … Ich wünschte, ich hätte ein Bild von ihnen bei mir. Ein Bild von euch allen. Eines, das ich aus der Ferne vor die dunklen Fenster des Pfarrhauses halten kann. Aber da ist nur die Holzstoff-Fabrik, die mich mit ihren stinkenden Augen anfunkelt.
Marie, ich hatte nicht vor, mich auf den Weg raus zum Verladebahnhof zu machen. Schon gar nicht in dieser Situation. Aber als die Kleine eingeschlafen war, ist etwas passiert, und ich musste plötzlich daran denken, was vor anderthalb Jahren mit den Kindern in der Baracke nebenan geschehen ist, dass sie in ihren Betten verbrannt sind und dass ich diesmal vielleicht jemanden retten konnte. Wenn schon nicht hier, dann auf dem Verladebahnhof. Dort lagen die Menschen auch in Baracken, und vielleicht hatten es ein paar von ihnen geschafft.
Es war, als hätte ich eine zweite Chance bekommen. Als hingen die Bomben noch immer am Fallschirm, als fielen sie diesmal so langsam vom Himmel, dass ich eingreifen konnte.
Ich hätte es besser wissen müssen.
Ich habe fast zwei Stunden bis raus zum Bahnhof gebraucht. Als ich ankam, hatten sie die Verletzten bereits abtransportiert und nur die Leichen liegen gelassen, und alles, was mir blieb, waren die zerstörten Bahnhofsgebäude und der Zug, der neben den Gleisen lag wie eine Spielzeugeisenbahn, die jemand aus Wut umgekippt hatte. Die Lok war völlig zerstört, und die Waggons waren der Länge nach aufgerissen. Es sah aus, als hätte jemand mit einem riesigen Beil reingeschlagen.
Einige Waggons brannten noch stumm vor sich hin, andere waren in einen großen Bombenkrater gerutscht und hatten die nachfolgenden mit sich gerissen und andere aus den Gleisen gehoben, und je mehr ich mich umschaute, umso unheimlicher wurde es mir. Eine Druckwelle hatte zwei der Waggons in das Stellwerk katapultiert und es zum Einsturz gebracht. Auch die Baracke mit den Fremdarbeitern hatte Feuer gefangen, und nicht alle waren dem Inferno entkommen.
Es war, als wollte mich das Schicksal dafür bestrafen, dass ich mich auf den Weg gemacht hatte, als müsste es mir noch einmal vor Augen führen, was damals mit den Kindern passiert war und wie hilflos ich immer noch war.
Die Arbeiter, die es aus der brennenden Baracke raus geschafft hatten, hockten zwischen den aufgeschlitzten Waggons, und erst da erkannte ich, dass es ein Versorgungszug war. Die Männer hatten die Hände voll Fleisch und fraßen sich satt. Und neben ihnen lagen die Leichen.
Es sah aus, als hätte der Krieg sein eigenes Gemälde erschaffen. Einer der Toten hing auf dem Ende einer aus dem Boden gerissenen Schiene, und unter ihm türmten sich die Konserven.
Es gab keine Wachen am Bahnhof, und auch keine Soldaten. Jeder konnte sich nehmen, was immer er wollte. Es war genug da von allem. Die Waggons waren bis unters Dach mit Lebensmitteln gefüllt, und alles quoll heraus, Kartoffeln, Brot, Eier, Speck, zentnerweise Konserven … Als hätte jemand das Schlaraffenland in die Luft gejagt.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wollte nichts davon nehmen, aber ich konnte auch nicht mit leeren Händen zurückkehren. Es hätte sich wie ein weiterer Verlust angefühlt. Also habe ich mir ein paar Konserven genommen, dazu noch einige Dosen Kondensmilch und ein Brot, das mir einer der Fremdarbeiter in die Hände gedrückt hat.
Ich habe mich schäbig gefühlt. Ich wollte das Brot nicht haben und noch weniger, dass er es mir gibt. Er roch nach Fleisch und Blut, und aus seinen Mundwinkeln lief Milch. Sein ganzes Gesicht bestand nur noch aus Knochen. Und doch gab er mir, einem Deutschen, einen Laib Brot. Er hat ihn zu mir emporgereckt, als ich an ihm vorbeilief. Als wollte er mir zeigen, dass er keinen Anspruch darauf erhebt. Dass ich das Brot haben kann. Und ich habe es genommen.
Ob er gespürt hat, dass ich keiner von den Kriegstreibern bin? Dass ich mich auf den Weg gemacht hatte, um zu helfen?
Aber wie sollte er? Er wusste doch nichts über mich, und ich habe auch kein Wort gesagt. Ich habe einfach nur das Brot genommen und bin gegangen. Und jetzt liegt es hier auf der Insel. Zwischen Weidenbüschen, im Nebel.
Marie, ich habe alles, was ich an Essen habe, vor mir auf den Koffer gelegt. Das Brot, vier Dosen mit Fleisch, drei mit Wachsbohnen und dazu noch drei mit Kondensmilch. Es sieht aus, als würde ich ein Picknick veranstalten.
Du kannst jetzt kommen, Marie. Der Tisch ist gedeckt. Du und die Kinder, ihr könnt euch neben mich setzen.
Nur einen Dosenöffner habe ich nicht. Er liegt in der Küche, drüben im Pfarrhaus.
Im Pfarrhaus. Wo auch ich liegen sollte. Und du, Marie. Und Carl und Irmchen und Paul. Ihr solltet alle da sein. Aber ihr wart nicht da, als ich kam.
Marie, was ist passiert? Wo bist du? Und wo sind die Kinder?
Ich kann nicht glauben, dass ihr weg seid. Aber ich muss es tun. Und ich sehe es ja auch. Kein Licht im Pfarrhaus und kein Rauch oben im Schornstein. Überhaupt kein Zeichen von Leben.
Ihr seid weg. Und ich bin hier auf der Insel. Allein mit meiner Henkersmahlzeit … Erinnerst du dich an die Windmühle neben dem Verladebahnhof, Marie? Es war, als würde sie mir nachschauen, als ich mich mit dem Brot in der Hand zurück auf den Weg zu dem Mädchen gemacht habe. Als wüsste sie noch, wie wir damals unter ihren Flügeln im Gras lagen … Wir hatten uns gerade erst kennengelernt. Ich war unsicher und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, und habe mich an den Grasbüscheln festzuklammern versucht. Ich wollte nichts Falsches sagen und dich auch nicht mit mir selbst überfallen. Aber Schweigen konnte ich auch nicht. Also habe ich angefangen, dir von General Blücher zu erzählen und wie er seine Soldaten an der Mühle versammelt hat, um sie in die Schlacht gegen Napoleon zu schicken, während er selbst hoch in den Mühlturm gestiegen ist, um sich ein Bild von der Lage zu machen und die Bewegungen seiner Truppen zu koordinieren.
Ich wäre beim Sprechen am liebsten im Boden versunken, so sinnlos und dumm fand ich das, was ich dir da erzählt habe. Zu meinem Glück hast du mich irgendwann unterbrochen und mir gesagt, dass dich diese alten Kamellen nicht interessieren und dass ich dir lieber eines meiner Gedichte vorlesen soll.
Du wusstest, dass ich ein paar von ihnen eingesteckt hatte, und du hattest nicht vor, mich damit entkommen zu lassen. Also habe ich sie aus der Tasche gezogen und angefangen zu lesen, und du hast mir zugehört, hast an meinen Lippen gehangen, und ich habe immer weitergelesen, so lange, bis ich keine Gedichte mehr hatte, bis all meine Heimlichkeit aufgebraucht war, und da war es plötzlich, als hätte sich eine Welt vor mir aufgetan.
Das ist fast fünfzehn Jahre her. Ich hätte damals nicht gedacht, dass es eines Tages Krieg geben wird, ich konnte nicht ahnen, dass wir nie wieder an die Mühle zurückkehren werden. Aber selbst wenn, hätte ich nichts anderes tun wollen, als mit dir im Gras zu liegen und Gedichte zu lesen. Die Mühle hat ihren Platz in meiner Erinnerung, und der Krieg kann sie nicht trüben.
Den Gedichten geht es genauso, auch wenn ich schon lange keine mehr schreibe.
Im Koffer liegt ein großer Stapel Papier. Es sind die Akten, auf deren Rückseite ich diese Zeilen notiere. In meinem Kopf aber liege ich mit dir unterhalb der Mühle im Gras und spüre, w...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Impressum
  3. Titel
  4. Inhalt
  5. Samstag, 14. April 1945
  6. Sonntag, 15. April 1945
  7. Montag, 16. April 1945
  8. Dienstag, 17. April 1945
  9. Mittwoch, 18. April 1945
  10. Donnerstag, 19. April 1945
  11. Freitag, 20. April 1945
  12. Samstag, 21. April 1945
  13. Sonntag, 22. April 1945
  14. Montag, 23. April 1945
  15. Dienstag, 24. April 1945
  16. Mittwoch, 25. April 1945
  17. Donnerstag, 26. April 1945