Schule, Krieg und eine Alternative
Andrea Kleeberg-Niepage
Imperativ Digitalisierung: Bedrohung oder Chance? Zu den Widersprüchen des Diskurses um die Digitalisierung von Schule
Einleitung
Die gesellschaftliche Diskussion des Themas »Digitalisierung« bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen Optimismus (Lebenserleichterungen) und Pessimismus (Arbeitsplatzverlust) und ist von grundlegenden Ambivalenzen und Widersprüchen geprägt. Jene lassen sich auch beim Thema »Digitalisierung von Schule« ausmachen, das im Mittelpunkt dieses Beitrags steht.
So soll in der Schule »digitales Lernen« via Tablet, Whiteboard, Apps und Co. vieles verbessern und den Schüler*innen möglichst früh Medienkompetenz beibringen, um sie für die Zukunft fit zu machen. Zugleich zeigen verschiedene Studien wiederholt, dass Kinder und Jugendliche ohnehin viel Zeit an digitalen Endgeräten verbringen, die mit ihrer Zeit für (analoge) soziale Kontakte, das Lesen von Büchern oder das Engagement in Vereinen konkurriert. Untersuchungen von Krankenkassen und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bezeichnen zudem Hunderttausende Jugendliche in Deutschland als internetabhängig oder zumindest gefährdet. Einerseits soll Schule also weitgehend digital werden, anderseits nutzten Kinder und Jugendliche digitale Geräte in einem Ausmaß, das offenbar bereits die psychische Gesundheit und sozial verträgliches Aufwachsen gefährdet.
Um solchen Widersprüchen nachzugehen und zu klären, wie digitale Schule aussehen und digitales Lernen funktionieren soll, werde ich den bildungspolitischen Diskurs über die Digitalisierung von Schule analysieren und seine Merkmale herausstellen (siehe folgendes Kapitel). Danach betrachte ich den gesundheitspolitischen Diskurs, in einer übermäßigen Nutzung digitaler Medien in der Freizeit großes Gefahrenpotential sieht, und gehe anhand eines laufenden Forschungsprojektes auf Sichtweisen von Jugendlichen zum Thema »Digitalisierung« ein, um abschließend die drei Untersuchungsstränge zusammenzuführen.
Der bildungspolitische Digitalisierungsdiskurs: Fortschrittgläubigkeit, Subjektlosigkeit, Kontrollphantasien
Angesichts der zahlreichen Herausforderungen im deutschen Bildungssystem, wie einem signifikanten Lehrkräftemangel, maroden Schulgebäuden und einer steigenden Zahl von Schüler*innen mit besonderem Förderbedarf erscheint die starke Betonung einer Digitalisierung von Schule durch die Bildungspolitik bemerkenswert, wenngleich verständlich: Das digitale Klassenzimmer entwerfen zu können, ist sicher interessanter, als sich mit übelriechenden Schultoiletten, der Attraktivität des Lehrerberufs oder einer für alle Beteiligten gewinnbringenden Inklusion beschäftigen zu müssen.
Doch welches sind die Ziele und Konzepte für eine digitale Schule? Wie kann digitales Lernen gelingen? Und was genau ist eigentlich digitale Bildung? Dazu habe ich einen signifikanten Teil des bildungspolitischen Diskurses zum Thema »Digitalisierung« analysiert, konkret
- den Digitalpakt Schule der Bundesregierung (BMBF, 2019)
- den Monitor Digitale Bildung der Bertelsmann Stiftung (Schmid et al. 2017)
- das Deutsche Schulportal, das von der Robert-Bosch-Stiftung, der Deutschen Schulakademie und der Heidehof Stiftung in Kooperation mit der ZEIT Verlagsgruppe getragen wird
In allen genannten Beiträgen lassen sich bemerkenswerte Unschärfen hinsichtlich der oben angeführten Fragen feststellen. Der Digitalpakt Schule der Bundesregierung (BMBF, 2019) formuliert beispielsweise als Ziel der Digitalisierung die »Sicherung der Zukunfts- und Innovationsfähigkeit Deutschlands im internationalen Wettbewerb«. Eine solche Formulierung in einem Digitalpakt, das die Schule und nicht die Wirtschaft zum Thema hat, macht die der Schule zugewiesene Funktion in der Gesellschaft deutlich: nämlich die Produktion von Humankapital für das ökonomische System. Das ist nicht neu. Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert wurden bei der gesetzlichen Einschränkung der Kinderarbeit und der Durchsetzung der Schulpflicht ebenfalls nationale Interessen und nicht etwa das Kindeswohl betont (vgl. Kleeberg-Niepage 2007). Jedoch muss dieses überraschend ehrlich formulierte Ziel offenbar doch sozial »eingekleidet« werden: »Digitale Medien können das Lernen im Unterricht und außerhalb der Schule besser vernetzen und dazu beitragen, Bildungsbenachteiligung auszugleichen.«
Obliegt der Ausgleich von Bildungsbenachteiligung nicht etwa einer veränderten Sozial- und Wirtschaftspolitik, sondern den digitalen Medien in der Schule? Man kann sich zumindest fragen, inwiefern es sich hierbei um Fortschrittsgläubigkeit handelt oder um eine bewusste Verschleierung des Umstandes, dass Digitalisierung von Schule zunächst einmal ein Milliardengeschäft für große Tech-Konzerne ist (vgl. Lankau 2017). Doch selbst ernst gemeint bleibt offen, wie digitale Medien nun dabei helfen könnten, Bildungsbenachteiligung auszugleichen. An diesem Beispiel wird ersichtlich, was den untersuchten bildungspolitischen Diskurs zur Digitalisierung von Schule charakterisiert: ein Verharren in unkonkreten Absichtserklärungen, die zudem sinnfreie Schlagworte und unbelegte Behauptungen aneinanderreihen. Dementsprechend geht es auch im Digitalpakt weiter: »Digitale Medien können den Unterricht in vielen Fächern anschaulicher, praxisorientierter und aktivierender gestalten.«
Das heißt zum einen, dass der Unterricht in vielen Fächern nicht anschaulich, praxisorientiert und aktivierend genug sei, und zum anderen, dass digitale Medien hier Abhilfe schaffen können. Populäres »Schulbashing« wird mit unbelegten Behauptungen verknüpft, zudem legt der Begriff »praxisorientiert« nahe, dass »know how« wichtiger ist als »know why«. Bei diesem wie auch im vorstehenden Zitat gilt es, das Verb »können« zu beachten – ob und wie das in Aussicht Gestellte dann tatsächlich gelingt, bleibt offen.
Warum es (bislang) nicht gelungen ist, wissen das Deutsche Schulportal (2018) und die Bertelsmann Stiftung (Schmid et al., 2017). Letztere formuliert im Monitor Digitale Bildung: »Schule verkennt pädagogische Potentiale der Digitalisierung.« (Monitor Digitale Bildung, S. 6).
Mit »Schule« sind, wie dem weiteren Text zu entnehmen ist, vor allem »Lehrer und Schulleiter« (ebd. S. 6) gemeint, die Digitalisierung vor allem als zusätzliche Herausforderung wahrnähmen. Überdies fände die Digitalisierung ohne Strategie und Konzept statt, Schulen seien mangelhaft ausgestattet und die Lehrkräfte schlecht qualifiziert (ebd., S. 6–7). Dies erinnert frappierend an das Thema Inklusion, deren schleppende Umsetzung in vielen Schulen mit fast identischen Worten gebrandmarkt wird, oft begleitet vom Verweis auf die »richtige Einstellung« der Lehrkräfte als notwendige Voraussetzung für das Gelingen von Inklusion (vgl. Kleeberg-Niepage et al. 2020).
Der Soziologe Klaus Hurrelmann schreibt für das Deutsche Schulportal (2018):
»Lehrkräfte müssen in der Schule mit den modernsten Techniken umgehen können, sonst verlieren sie ihre pädagogische Autorität« (Hurrelmann 2018).
Dies lässt sich so verstehen, dass den Lehrer*innen, die nicht auf dem neuesten Stand der digitalen Technik sind, auch Fachwissen, Leidenschaft, Empathiefähigkeit und Fairness nicht mehr helfen können und als bislang hoch gehandelte Kriterien pädagogischer Autorität (vgl. Reichenbach 2011) nachrangig werden. Dieser bemerkenswerten Einschätzung fügt Hurrelmann hinzu: »In einer digitalisierten Gesellschaft darf die Schule nicht analog bleiben.«
Er impliziert, die Gesellschaft sei digitalisiert – und nicht etwa bestimmte Formen der Informationsverarbeitung (vgl. Lankau 2017, S. 13) –, und konstruiert somit einen interessanten Gegensatz zwischen Gesellschaft und Schule.
Der bildungspolitische Diskurs über die Digitalisierung von Schule ließe sich vorerst so zusammenfassen: Eine mit schnellem Internet und digitalen Geräten ausgestattete Schule, in der IT-kundige Lehrkräfte tätig sind, denen die Schüler*innen nicht im digitalen Knowhow voraus sind, macht nicht nur den Unterricht besser und das Lernen leichter, sondern reduziert zugleich soziale Ungerechtigkeit und sichert die Zukunft des Landes und dessen vordere Position im internationalen Wettbewerb.
Wer möchte schon dagegen sein? Und in der Tat sind kritische Stimmen zur »digitalen« Schule kaum zu vernehmen, setzen sie sich doch – da sie bereits aus Altersgründen oft nicht mehr zu den sogenannten »Digital Natives« gehören – dem Generalverdacht aus, ewiggestrig in der analogen Welt zu verharren, die Zeichen der neuen, digitalen Zeit nicht zu erkennen und den Kindern und Jugendlichen die Chancen der digitalen Welt vorzuenthalten. Doch auch wenn man sich der Polemik von »Digitaler Demenz« oder »Smartphone-Epidemie« (Spitzer 2012, 2018) nicht anschließen mag, darf eine wichtige Feststellung nicht untergehen: Der Nutzen digitaler Medien für das Lernen oder gar deren Überlegenheit gegenüber anderen Medien i...