STATEMENTS
Wie ein Papst die Bibel liest
Beobachtungen eines Neutestamentlers zu Amoris laetitia
Papst Franziskus liest das Neue Testament auf Griechisch. So jedenfalls die Passage aus dem Hohen Lied der Liebe 1 Kor 13,4-7, die er in §§ 90-119 seiner Enzyklika auf ihren Ursprungssinn und -klang buchstäblich abhorcht. Und: Er mutet den Leser*innen seiner Enzyklika zu, dass auch sie die griechischen Wörter in ihrem Klang und ihrem semantischen Bedeutungsfeld zur Kenntnis nehmen. Martin Ebner
Wort für Wort geht der Papst den Text durch. Zuerst fragt er nach den Assoziationen, die das jeweilige Wort im griechischen Sprachraum freisetzt. Spezifizierend spürt er bestimmten Nuancen nach, die sich aus der Verwendung des Wortes im griechischen Alten Testament oder im Gebrauch des Wortes bei Paulus ergeben. Dabei berücksichtigt er sehr genau die Struktur des Textes – und kann auf diese Weise Differenzierungen zwischen ähnlich klingenden Wendungen herausarbeiten. So erfahren wir nach den Einlassungen zu makrothymeĩ („die Liebe ist langmütig“) in 1 Kor 13,4: „Es folgt das Wort chrēsteúetai, das in der gesamten Bibel einmalig ist; es ist abgeleitet von chrēstós (gütiger Mensch, der seine Güte in Taten zeigt). Doch wegen der Stelle, an der es steht, nämlich in strenger Parallele zum vorhergehenden Wort, ist es dessen Ergänzung. So will Paulus klären, dass die ‚Langmut‘, die an erster Stelle genannt wird, keine völlig passive Haltung ist, sondern dass sie mit einer Aktivität einhergeht, mit einer dynamischen und kreativen Reaktion gegenüber den anderen“ (§ 93).
Oder: „Die Aufzählung wird vollendet mit vier Worten, die von einer Gesamtheit sprechen: ‚alles‘. ‚Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand‘ (1 Kor 13,7). […] An erster Stelle heißt es, dass sie ‚alles erträgt und entschuldigt‘ (pánta stégei). Das unterscheidet sich von ‚trägt Böses nicht nach‘, denn dieser Ausdruck bezieht sich auch auf den Gebrauch der Sprache. Er kann bedeuteten ‚schweigen zu bewahren‘ über das Schlechte, das der andere Mensch an sich haben mag. Es schließt ein, das Urteilen einzuschränken […]“ (§ 111f.).
Kurz: Da schreibt ein Papst, der sich auf die Suche nach dem Sinn der Wörter macht, die ihm in der Heiligen Schrift vorgegeben sind. Das ist wahre Traditionstreue: dem Ursprung der Tradition nachhorchen – mit allen Mitteln der exegetischen Kunst.
Ich vermute: Da schreibt ein Papst, der sich selbst hat belehren lassen; der Expertenwissen abgefragt hat – und dieses Expertenwissen für so wichtig hält, dass er ihm weiten Raum in seiner Enzyklika gibt. Denn es geht ja um das „Wort Gottes“ im Menschenwort. Und da muss man wirklich genau sein – und darf nicht zu schnell die Zeiten überspringen. Wenn Gott durch den Mund des Paulus den Korinthern etwas Bestimmtes sagen wollte, dann konnte er das nur mit dem Klang der Worte der damaligen Zeit tun. Also müssen wir fragen, in welchem Horizont die Menschen damals diese Botschaft verstehen konnten.
geb. 1956, Dr. theol.; Priester der Diözese Würzburg; Studium der Theologie in Würzburg, Tübingen und an der École Biblique in Jerusalem; Promotion (1991) und Habilitation (1997) in Würzburg; 1998-2011 Professor für Exegese des Neuen Testaments in Münster, seit 2011 in Bonn.
Vielleicht hat der Papst die geheime Hoffnung: Die vielen Pfarrer (und Bischöfe), die seine Enzyklika lesen, könnten das ja genauso machen wie er: bevor sie zu predigen anfangen, auf das Wort Gottes lauschen – in seinem ursprünglichen Traditionszusammenhang. Anders gesagt: das griechische Neue Testament vor sich, vielleicht in einer Interlinearübersetzung, eine Konkordanz daneben – und einen Kommentar. Sich erst in das von Menschen geschriebene „Wort Gottes“ vertiefen, indem man in die Welt dieser Erstzeugen eintaucht – bevor man anfängt, das Wort Gottes zu aktualisieren und am Ende doch nur die eigenen Optionen predigt. Der Papst macht es vor: zuerst den sozialen Raum der alten Wörter in ihrem ursprünglichen Lebenszusammenhang ausleuchten – und schon stellen sich, scheinbar von ganz alleine, Analogien für heute ein.
Denn das ist bei Papst Franziskus der nächste Schritt. Die Analogien werden bei ihm im Hall des ursprünglichen Traditionsraumes gezogen – und nicht einfach die scheinbar ewigen Wahrheiten bestimmter späterer Traditionslinien eingebracht. Und: Es sind seine eigenen Erfahrungen, die Franziskus – mit 1 Kor 13 im Kopf – in seinem pastoralen Umfeld gemacht hat und immer neu macht, auf die er rekurriert und dabei Formulierungen prägt, die klassisch werden könnten: „Die wahre Liebe (sc. im Gegensatz zum Neid) […] versucht also, den eigenen Weg zu entdecken, und lässt die anderen den ihren finden“ (§ 95). Oder zu physioütai: „Man hält sich für größer als man ist, weil man meint, ‚spiritueller‘ oder ‚weiser‘ zu sein“ (§ 97). Erst nach diesen Übersetzungen ins Heute werden aus anderen biblischen Büchern Beispiele angeführt, die das beschriebene soziale Phänomen mit dem gleichen Stichwort beleuchten; zu physioũtai etwa werden zwei weitere Stellen aus dem ersten Korintherbrief angeführt und wiederum aktualisierend kommentiert: „Paulus gebraucht dieses Verb noch andere Male, zum Beispiel, um zu sagen: ‚Die Erkenntnis macht aufgeblasen, die Liebe dagegen baut auf‘ (1 Kor 8,1b). Das heißt, einige halten sich für groß, weil sie mehr wissen als die anderen, und sie befassen sich damit, sie zu fordern und zu kontrollieren, während doch in Wirklichkeit das, was uns groß macht, die Liebe ist, die den Schwachen versteht, umsorgt und hält. In einem anderen Vers gebraucht der Apostel das Wort, um die zu kritisieren, die sich ‚wichtig gemacht‘ haben (1 Kor 4,18), in Wirklichkeit aber mehr Geschwafel als wahre ‚Kraft‘ des Geistes haben (vgl. 1 Kor 4,19)“ (§ 97).
Es werden also nicht biblische Texte durch andere biblische Texte interpretiert, durch sogenannte kanonische Einspielungen, sondern: Franziskus spürt den Bedeutungen der Wörter in ihrem ursprünglichen Umfeld nach und fügt weitere biblische Texte sozusagen als Verstärkung seiner eigenen aktualisierenden Übertragungen an. Man kann sie auch als Belege dafür nehmen, dass sich die päpstlichen Aktualisierungen ganz im biblischen Traditionsstrom bewegen. Auch die biblischen Autoren haben das schon vor ihm so gedacht und geschrieben. Auffällig ist: Bei seinen Aktualisierungen hat Franziskus, wie man es angesichts der Wiederverheirateten-Geschiedenen-Problematik der Familiensynode eigentlich erwarten möchte, durchaus nicht ständig die Beziehung zwischen Eheleuten im Blick (wie § 104; 109; 113). Er zieht die Linien in die (Groß)Familien hinein (vgl. § 98) und redet meistens sogar einfach von der Beziehung „zum anderen“, lässt den Text also in einen größeren sozialen Raum hinein sprechen, der – wie es in den zitierten Beispielen der Fall ist – leicht als kirchlicher Binnenraum erkennbar wird.
Sehr genau werden individuelle Beziehungen von sozialethischen Belangen unterschieden. In Liebe den Neid zu bezähmen führt nach Franziskus individuell „zu einer aufrichtigen Würdigung jedes Menschen, indem wir sein Recht auf Glück anerkennen.“ Aber es gilt gleichzeitig: „Dieselbe Wurzel der Liebe ist es jedenfalls, die mich die Ungerechtigkeit ablehnen lässt, dass einige im Überfluss leben und andere nichts besitzen, oder die mich danach trachten lässt, dass auch die Ausgesonderten der Gesellschaft ein bisschen Freude erleben können. Das aber ist nicht Neid, sondern Verlangen nach Gerechtigkeit“ (§ 96; vgl. auch § 103 im Blick auf paroxýnetai/innere Empörung). Und pointiert stellt Franziskus immer wieder als ideale Haltung in den Vordergrund: den anderen anders sein lassen (§ 92); sich selbst nicht aufplustern, weil man meint, mehr zu wissen als der andere oder in den eigenen Überzeugungen besser gefestigt zu sein (§ 97); die anderen nicht von oben herab arrogant behandeln (§ 98), sondern mit einem liebenswürdigen Blick auf den anderen schauen (§ 100).
Man könnte sagen: Das ist wieder typisch Papst Franziskus. Aber als Exeget möchte ich behaupten: Das ist in diesem Fall typisch Paulus. Der Papst hat mit seinen exegetischen Erkundungen (und seinem offensichtlich intuitiv erstaunlich sicheren Gespür für die Intention biblischer Texte) diese paulinische Ader präzise getroffen. Denn Paulus hat mit den Idealen des Hohen Liedes die Charismatiker in der Gemeinde von Korinth im Visier, die sich als besonders Gott-begnadete für die eigentlichen Elite-Gläubigen halten – und sich doch nur selbst in den Vordergrund spielen wollen. So jedenfalls sieht es Paulus, wie jeder im anschließenden Kapitel 14 des ersten Korintherbriefes nachlesen kann. Auch Paulus bringt das Hohe Lied im Blick auf eine Gemeinschaft ein und hält damit denen, die sich für superreligiös halten, den Spiegel der Liebe vor.
Bevor ich ins Schwärmen gerate: Dass ich ein notorischer Leser von päpstlichen Rundschreiben bin, kann ich wirklich nicht behaupten. Aber in diesem Fall war es anders. Schon der Titel ließ mich aufhorchen: „Amoris laetitia“. Das könnte auch von Ovid stammen, eine Fortsetzung seiner „Ars amatoria“ oder „Remedia amoris“. Papst Franziskus stellt eben nicht die entsprechend geprägten spirituellen Begriffe an den Anfang: „caritas“ als vollendete Form der verinnerlichten, reifen Liebe (das kommt dann in § 120) oder „gaudium“ als verhaltene, vergeistigte Freude. Nein: Plakativ spricht der Papst von „amoris laetitia“. Das sagt eigentlich schon alles. Es geht um ein Christentum, das durch und durch in der Welt lebt, liebt und leidet, ganz körperlich verstanden.
Es ist nicht das fromme Etikett, das einen Text christlich oder einen Menschen zum Christen macht, sondern: sein Stand in der Welt, im Alltag der Menschen; sein ehrlicher Blick auf sich selbst; sein Ringen und Bemühen genauso wie sein Scheitern und seine Unzufriedenheit; seine körperlich spürbare Freude an der Schönheit der Welt und des andern. Spirituell wird dieser „weltliche“ Mensch, wenn er sich und die anderen im Licht der Schrift zu beleuchten versucht – und das als ein „Horchender“ auf das Wort. ■
Eine neue Pastoralkultur
Manche halten das Dokument für häretisch (Robert Spaemann), andere für eine homiletische Privatmeinung von Jorge Mario Bergolio (Raymond Burke). Deren Absicht ist leicht durchschaubar. Sie lehnen das Schreiben ab oder spielen es zur Bedeutungslosigkeit herab. Kurzum: Es irritiert sie. Zugleich geben sie ihre wahre Einschätzung kund: Sie halten es nämlich für revolutionär. Die Apostolische Exhortatio fügt sich nahtlos in die vorausgehenden Äußerungen von Papst Franziskus ein. Ein US-amerikanisches Cartoon about Pope Francis zeigt den Papst als Hirten inmitten einer riesigen Herde. Dazu die erleichterte Aussage: „I’m liking the new tone.“ Paul M. Zulehner
VOM GESETZ ZUM GESICHT
Dieser neue Ton zeigt sich in vielfältigen Akzentverschiebungen. Ob der Papst konservativ oder progressiv sei, wurde Antonio Spadaro SJ von Andreas Battlog SJ gefragt. Seine Antwort: Er ist kein Ideologe, sondern ein Hirte. Der Akzent verschiebt sich auch im Dokument eindeutig vom „Gesetz“ zum „Gesicht“. Es wird nicht mehr ein allgemeinsames Gesetz auf den einzelnen Menschen angewendet. Im Mittelpunkt steht die einzelne Person mit Verantwortung und Gewissen. Der Einzelfall eben, den es gut zu unterscheiden gelte. Diese Wende zur Person, ihrer einmaligen Lebensgeschichte, oder in Bezug auf das Paar: ihre unverwechselbare Liebesgeschichte, die auch eine von Gott getragene Geschichte ist, zeichnet Amoris laetitia aus. Daher gilt das „discernimento“, die einfühlsame Unterscheidung der Einzelfälle.
PERSONAL, NICHT PATERNAL
Die pastorale Tradition der Ostkirchen kennt dieses pastorale Prinzip der Oikonomia, das in kreativer Spannung zur Akribia steht. Das Ideal wird auch in Amoris laetitia akribisch eingeklagt, das Evangelium wird nicht geschmälert, schreibt der Papst, verantwortlich für die Oikonomia ist der Hausvater im „Oikos“, im Kirchenhaus. So sehr aber die katholische Kirche, wie Kardinal Franz König schon 1963 auf dem Konzil geraten hatte, von den Ostkirchen gelernt hat: die Position von Papst Franziskus ist weitaus zeitgerechter. Denn in den Ostkirchen arbeitet der Bischof „paternal“, wenn nicht paternalistisch. Die vom Papst eröffnete Praxis der Oikonomia ist aber personal. Der einzelne betroffene Mensch muss letztlich seine Lage gewissenhaft vor Gott klären. Die Seelsorge wird ihn dabei kompetent begleiten. Sie kann das Gewissen bilden, aber nicht ersetzen, so der Papst in aller Deutlichkeit.
Bei der Begleitung sind bestimmte Aspekte der Scheidungsgeschichte durchzuarbeiten. Dabei ist die Kernfrage, ob jemand den Weg des Evangeliums gehen will. Von da aus stellen sich Fragen nach der Versöhnung, abgestimmter Elternschaft, religiöse Formung der Kinder, Be teiligung am kirchlichen Leben – alles Kriterien, welche der Priesterrat in Wien und Helmut Krätzl schon 1979 zusammengestellt hatte. Dieser Weg der Aufarbeitung läuft unter der „Aufsicht“ des Bischofs, wobei „Aufsicht“ heißt: Der Bischof schaut auf die Mitglieder der Kirche, sorgt sich um den Weg, stellt erfahrene Seelsorgende bereit. Das Ziel ist „integratione“, also Einbindung ins volle kirchliche Leben. Nicht zuletzt ist es der Bischof, der diese schriftlich bescheinigt, sobald die betroffene Person mit dem erfahrenen Seelsorger, der erfahrenen Seelsorgerin, den Weg weit genug gegange...