Ralf Miggelbrink | Essen
geb. 1959, Dr. theol., Professor für Systematische Theologie an der Universität Duisburg-Essen
Freiheit und Wahrheit im geistlichen Leben
Zur aktuellen Kontroverse über den Freiheitsbegriff
Der Freiheitsbegriff hat in der katholischen Theologie derzeit eine langanhaltende Konjunktur.1 Das ist begrüßenswert, weil der real existierende Katholizismus ein traditionell angespanntes Verhältnis zu dem gesellschaftlichen und anthropologischen Freiheitsideal der Aufklärung hat. Die katholische Moraltheologie des 20. Jahrhunderts musste sich mühselig zu einer Wertschätzung des autonomen ethischen Urteils freier Subjekte durchringen. Die Neuscholastik des 19. Jahrhunderts hatte ihren kausalmechanischen Schöpfungsgedanken so robust mit der Idee einer naturrechtlichen Schöpfungsordnung verknüpft, dass für eine Autonomie, die mehr wäre als die Entscheidungsfreiheit zwischen dem Bösen und dem durch die Schöpfungsordnung bekannten Guten, kein Raum blieb. Die natürliche Ordnung wies dem/der Einzelnen den Weg. Wo die Erkenntnis der natürlichen Ordnung dem/der Einzelnen schwerfällt, hilft das kirchliche Lehramt, die wahre Ordnung der Natur zu erkennen. Natur, Schöpfung und Empirie wurden problemlos identifiziert.
Freiheitstheologie im Kontext der Gegenwart
Die auf dieser Grundlage begründete Ethik stieß im 20. Jahrhundert mit den Lebensentwürfen der Zeitgenoss(inn)en hart zusammen: Das Verbot künstlicher Kontrazeption durch Papst Paul VI. wurde zur Bruchstelle des Volkskatholizismus: Nur eine Minderheit der Katholik(inn)en in den Industriegesellschaften folgte der päpstlichen Lehre. Die daraus resultierende Autoritätskrise der Kirche wuchs sich zur Kirchenkrise aus.
Ist alleine vor diesem Hintergrund ein geistlich-theologisches Plädoyer für die Autonomie des/der Einzelnen nicht mehr als geboten? Was meine persönliche Lebensgestaltung betrifft, darüber befinde ich alleine! Ich tue das im Kontext meines Wissens, meiner ethischen Überzeugungen und im Glauben an Gott. Gott begegnet mir dabei nicht als der ferne, durch die Natur zu mir sprechende Gesetzgeber, der mit dem Lauf der Gestirne auch den weiblichen Zyklus geordnet hat und der mir mit dieser Ordnung schicksalhaft mein Empfangen und Gebären auferlegt, ebenso wie die Bewährung in allen Lebenssituationen. Nein, Gott begegnet mir in Jesus Christus als Gottes ewiges, liebendes Ja zu meinem endlichen und unvollkommenen Leben, an dem Gott nicht seine Rechtheit und Geordnetheit liebt, sondern an dem der Ewige liebt, dass es mein Leben ist, ein anderes Leben als das göttliche Leben selbst, ein Leben, das ich selbst gestalte und das so als frei gestaltetes und autonom gelebtes Leben von Gott liebend angenommen und bejaht wird. In Jesus Christus erlöst Gott die Menschen, indem er sie annimmt (acceptatio) als die wahrhaft anderen, die er als solche will. Die Menschen sollen nicht die unterworfenen, gehorsamspflichtigen Untertanen Gottes sein, sondern Gott will sie als freie Partner: Deus vult habere aliquos condiligentes.2
In diesem Schlüsselvers des Johannes Duns Skotus finden die Freiheitstheologen der Gegenwart die mittelalterliche Theologenautorität, die gegen den über die Jahrhunderte so viel einflussreicheren Thomas von Aquin ins Feld geführt werden kann. Ganz nebenbei öffnet sich eine wunderbar breite Gesprächsbrücke für die Aussöhnung mit dem Protestantismus. Gott ist Liebe, will Liebe, liebt jeden Menschen in vergebender Nähe und bejaht in dieser Liebe dessen Gestaltungsfreiheit über sein eigenes Leben in der Endlichkeit seines geschöpflichen Daseins. Es geht nicht darum, dass der Mensch Gott ähnlich werde, dass gar eine deificatio stattfände, eine théosis oder theîosis, wie sie in der griechischen Tradition als Ziel des göttlichen Erlösungshandelns gilt.3 Gott will gerade den endlichen Menschen in seiner Natürlichkeit und seinem Anderssein gegenüber Gott.
Freiheitstheologie und Missbrauchsskandal
Noch ein weiterer Kontext bringt die alte Kontroverse zwischen Skotisten und Thomisten in unseren Tagen erneut zum Glühen: Besteht nicht deutlich erkennbar ein innerer Zusammenhang zwischen kirchlichen Machtansprüchen und sexueller Nötigung, wie er in diesen Tagen als das verborgene skándalon des Katholizismus allenthalben offenbar wird? Ja, wenn die Kirche Gottes Vertreterin ist und Gott der wegweisende Gesetzgeber des/der Einzelnen, liegt es dann nicht nahe, dass Katholiken dazu neigen, insbesondere als Amtsträger übergriffige Ansprüche gegen ihre Mitmenschen zu richten? Die bürgerliche Gesellschaft hat in den letzten 250 Jahren für den Umgang mit dem autonomen einzelnen Kultur und Normen der Distanz entwickelt. Wenn der Eine zum Anderen Distanz hält, dann respektiert er, dass er kein Recht hat, sich in die Lebensplanung des Anderen, sein Empfinden und Entscheiden einzumischen. Im faktischen Katholizismus, wie ihn viele Zeitgenoss(inn)en erlebt haben, sind diese Maximen der Autonomiewahrung unbekannt bis unverständlich: Hier geht es doch gerade oft darum, Kinder, Jugendliche, Laien in ihrem Empfinden, Urteilen und Handeln zu beeinflussen. Anders als das kultivierte protestantische Bürgertum hat der Katholizismus oft keinen prinzipiellen Respekt vor der individuellen Gestaltungsfreiheit des/der Einzelnen entwickelt. Sozialethisch spiegelt sich diese Differenz der Konfessionen in der Verwendung der Begriffe „Gesellschaft“ und „Gemeinschaft“.4 Der Protestantismus konzediert mit Begriff und Ideal der Gesellschaft die distanzierte Freiheit des/der Einzelnen. In katholischen Kreisen wird mit dem Begriff der Gemeinschaft allenthalben die Ein- und Unterordnung des/der Einzelnen in dem hierarchischen Gesamtzusammenhang eingefordert. Selbst in eindeutig gesellschaftlichen Kontexten rutschen Katholik(inn)en gewohnheitsmäßig in gemeinschaftsmetaphorisches Denken und Sprechen.
Ist es da nicht höchste Zeit, die metaphysischen Grundlagen zu überprüfen und nach Alternativen zu suchen? Ist nicht die innerkatholische Wende hin zur franziskanischen Theologie der Liebe und der Wertschätzung des Individuums die theologische Anschlussstelle für eine endliche Ankunft des Katholizismus in Aufklärung und Moderne? Ist angesichts der Missbrauchsgeschichte im 20. Jahrhundert, die im Kern wohl vorbereitet wurde durch die Überbeanspruchung kirchlicher Autorität5, die Wende weg von einer intellektualistischen Aufwertung der den Menschen bindenden Erkenntnis hin zu einer voluntaristischen Aufwertung der von Gott gewollten Freiheit des/der Einzelnen ein absolutes Gebot der Stunde?
Die assoziative Bindung der Paare von Freiheit und Voluntarismus einerseits sowie Autoritarismus und Intellektualismus andererseits basiert jedoch wohl nur auf einer lange eingeübten katholischen Verwechselung: Nur weil für bestimmte Überzeugungen von kirchlichen Autoritäten zu Unrecht Wahrheit reklamiert wurde, ist das Konzept von Wahrheit deshalb nicht autoritär! Worüber denn könnte jeder vernünftige Mensch kraft seiner Vernunft mitsprechen, wenn nicht darüber, ob etwas vernünftigerweise für wahr zu gelten hat? Umgekehrt ist das voluntaristische Konzept von Freiheit nicht per se freiheitlich: Wo frei entschieden wird, was als richtig zu gelten hat, werden Menschen mit abweichender Auffassung der Entscheidung unterworfen. Die Verwechslung von Voluntarismus mit Freiheit und Demokratie bildet den Hintergrund der derzeit geführten Debatten über das Verhältnis von Wahrheit und Freiheit, von Erkennen und Entscheiden. Sie werden beherrscht von dem Lager der Pröpper-Schüler einerseits, die selbstbewusst für eine Theologie der Freiheit eintreten. Zum Wortführer der Opposition gegen dieses Konzept hat sich jetzt Karl-Heinz Menke aufgeschwungen.6 Beide Seiten betonen die politische und kirchenpolitische Dimension ihrer jeweiligen Positionierung: Insbesondere M. Striet setzt seine Interpretation eines neu belebten skotistischen Voluntarismus als Rebellion gegen überzogene Geltungsansprüche kirchlicher Autorität um. Anders als etwa Karl Rahner weist er deren Wahrheitsansprüche nicht argumentativ zurück, sondern betont deren dezisionistischen Charakter. Überwunden werden sie nur durch andere Entscheidungen, deren Herbeiführung fraglos eine Frage der Macht und nicht der Erkenntnis ist. Macht aber wird in Neuzeit und Moderne demokratisch legitimiert. So wird Striet zu einem Vorkämpfer innerkirchlicher Demokratie.
Hier setzt die Kritik von K.-H. Menke an. Menke zieht sich auf eine klassischintellektualistische Position zurück. Pikanterweise interpretiert er diese dann als Begründung für die individuelle Unterwerfung unter lehramtliche Entscheidungen, so dass seine Darstellung des Intellektualismus Gefahr läuft, sich der Kritik seiner Gegner anzugleichen.7 Dem liegt jedoch ein Missverständnis zugrunde: Wer für die Wahrheit als Grund menschlichen Handelns Partei ergreift, plädiert ja gerade eben nicht für Autorität und Entscheidung, sondern für Erkenntnis, Forschung, Argument, Dialog und Debatte. Es ist ja gerade das fundamentale Missverständnis der Neuscholastik gewesen, zu denken, die Wahrheit ließe sich durch Autorität finden und dekretieren statt durch Anschauen, Denken und Argumentieren. An dieser Stelle hat sich der thomistische Intellektualismus des 19. Jahrhunderts unter der Hand in seinen ärgsten Gegner, den dezisionistischen Voluntarismus, verwandelt, wie das bei intimen Feinden nicht selten so geschieht. Dieses Missverständnis Menkes setzt sich bei Striet mit umgekehrten Vorzeichen fort: Wer sich gegen überzogene Geltungsansprüche katholischer Hierarchen mit dem Votum für Demokratie wehrt, bestätigt aber doch die Grundannahme, dass die Frage nach dem Guten und Richtigen durch Entscheidung beantwortet wird und so letztlich eine Frage der Macht wäre.
Freiheitstheologische Argumentation für die Autonomie des Einzelnen
Thomas Pröpper und nach ihm seine Schüler betonen, die Transzendentaltheologie Karl Rahners erreiche nicht das neuzeitliche Freiheitsbewusstsein, welches Pröpper im Anschluss an Hermann Krings und im Rückgriff auf Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) bestimmt als das menschliche Bewusstsein prinzipiell unbegrenzte...