Lebendige Seelsorge 6/2019
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Lebendige Seelsorge 6/2019

Vom Zauber des ErzÀhlens

  1. 84 Seiten
  2. German
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Lebendige Seelsorge 6/2019

Vom Zauber des ErzÀhlens

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Über dieses Buch

Das ErzĂ€hlen boomt. Storytelling ist ein Renner unter den Managementkursen. Eine ganze Kleinkunstszene reaktiviert den Zauber des ErzĂ€hlens. Werbeleute, Fotografinnen und Köche, die etwas auf sich halten, lassen ihre Produkte, Bilder und Gerichte Geschichten erzĂ€hlen. Und der Begriff der Narrative hat lĂ€ngst den Intellektuellenjargon verlassen und ist in die politische Alltagsprache gewandert: Europa, so heißt es zum Beispiel, brauche dringend ein neuesNarrativ.Diese Konjunktur des ErzĂ€hlens lĂ€sst in neuer Weise nach dem alten "Funkelstein" (A. Stock) der Narrativen Theologie fragen, den Harald Weinrich 1973 vorgelegt und um den Johann B. Metz dann einen "magisch-apologetischen Kreis" gezogen hat: "Und da liegt das glitzernde Oxymoron nun seit Jahr und Tag und verfĂŒhrt die Theologen, die praktischen vor allem, zu allerlei AktivitĂ€ten" (A. Stock). Es lohnt sich, dieses Konzept in die Gegenwart zu stellen und Kirche als eine entsprechende "ErzĂ€hlgemeinschaft" (J. B. Metz) zu konzipieren: "Es ist notwendig, dorthin zu gelangen, wo die neuen Geschichten und Paradigmen entstehen" (Papst Franziskus).Dieses Heft (ver)fĂŒhrt an faszinierende Orte der "ErzĂ€hlbarkeit des Lebens" (A. Nassehi) in den kleinen Geschichten und "großen ErzĂ€hlungen" (J.-F. Lyotard) unserer Zeit - bis hin zu Game of Thrones. Story.one beschreibt, worum es geht: "Wir bringen das Lagerfeuer zurĂŒck in die Mitte der Gesellschaft." Die Chemnitzer Seite aufstand-der-geschichten.de zeigt, wie politisch das in einer von "instrumentellen ErzĂ€hlern" (B. Pörksen) polarisierten Zeit sein kann, deren Framing sich um keine Fakten mehr schert: "Das Ziel ist Wirkung, nicht Wahrheit" (B. Pörksen).Nichts schafft offenere IdentitĂ€tskonstruktionen, als bei einem Kaffee oder einem Bier die eigene Geschichte zu erzĂ€hlen. Und nichts ist spannender, als dann auch die Geschichte des Anderen zu hören. Solchermaßen gewĂŒrdigtes Leben ist ein Schatz: "Menschen sind die Worte, mit denen Gott seine Geschichten erzĂ€hlt" - dieser Satz von Edward Schillebeeckx hat es fĂŒr meine Frau und mich sogar zum Trauspruch gebracht. Aber das ist eine andere Geschichte


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Information

Verlag
Echter
Jahr
2019
ISBN
9783429064266
THEMA
Braucht die Pastoral eine „Große ErzĂ€hlung“?
Wenn von einem Ende der „Großen ErzĂ€hlungen“ derzeit politisch keine Rede sein kann, muss die Pastoraltheologie dann nicht ĂŒber diese Frage nachdenken – trotz berechtigter postmoderner Kritik an Meta-Narrativen? Regina Polak
In seiner Geschichte Europas nach 1950 („Achterbahn“) schildert Ian Kershaw, wie nach dem Scheitern des Nationalsozialismus zunĂ€chst Kapitalismus und Kommunismus einander bekĂ€mpfen, um nach 1989 von der Ideologie des Neoliberalismus abgelöst zu werden (vgl. Kershaw, 373ff.). In seinem Grundlagenwerk „Der Weg in die Knechtschaft“ (1944) habe Friedrich Hayek die „ökonomische Theorie in eine voll ausgebildete soziale und politische Ideologie“ (Kershaw, 389) umgewandelt, mit dem Ziel der Ersetzung des Staates durch den Markt, weil nur dies die demokratische Freiheit sichere. Bernhard Walpen wiederum belegt, wie die 1947 gegrĂŒndete Mont-PĂšlerin Gesellschaft dieses wirtschaftspolitische Globalisierungs-Programm weltweit strategisch durchgesetzt hat. Ökonomisierungsdynamiken transformieren heute sĂ€mtliche Lebensbereiche und Menschen ordnen sich mit bemerkenswert wenig Widerstand dieser Logik unter. Ein Ende der „Großen ErzĂ€hlungen“ kann ich dabei nicht erkennen.
Auch der Geschichtsnarrativ Samuel P. Huntingtons vom „Zusammenprall der Kulturen“ („The Clash of Civilizations“) findet seit 9/11 europaweit Akzeptanz, nicht zuletzt forciert durch dessen Übernahme durch rechtspopulistische Parteien. Mangels alternativer Narrative, die die mittlerweile unĂŒbersehbar gewordenen Transformationen der Migrationsgesellschaften Europas deuten, finden Vorstellungen von angeblich unvereinbaren „Kulturen“, die miteinander in Konflikt und Kampf stĂŒnden, auch in der sog. „Mitte der Gesellschaft“ breite Zustimmung. Interpretatorische Begriffe wie „Islamisierung“, „Bevölkerungsaustausch“, „Umvolkung“ bilden hier die demokratiepolitisch und menschenrechtlich bedrohliche Spitze des Eisberges einer Gesellschaft auf der Suche nach Meta-Narrativen. Zeigt sich aber darin nicht auch ein berechtigtes BedĂŒrfnis der Menschen, zeitgenössische Entwicklungen in grĂ¶ĂŸere SinnzusammenhĂ€nge stellen zu können?
Regina Polak
geb. 1967, Dr. theol., Associate Professor am Institut fĂŒr Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen FakultĂ€t der UniversitĂ€t Wien und derzeit InstitutsvorstĂ€ndin; Forschungsschwerpunkte: Religion und Migration, Werteforschung, sozioreligiöse Transformationsprozesse in Europa sowie interreligiöser Dialog in der Migrationsgesellschaft.
RÜCKFRAGEN AN DIE POSTMODERNE
Die Postmoderne hat zweifellos mit ihrer Kritik an „Großen ErzĂ€hlungen“ unhintergehbare Erkenntnisse und Normen entwickelt. Ich verstehe mich also keinesfalls als deren Gegnerin und bin auch keine Expertin. Ihre Rezeption in breiten Teilen der Bevölkerung allerdings sehe ich mit großer Sorge. Diese hat das Entstehen eines massiven Vertrauensverlustes in Fragen nach Wahrheit und Sinn, wenn nicht ausgelöst oder forciert, so doch zumindest individualisiert und privatisiert. Die damit verbundene nihilistische Grundstimmung – dass der Einzelne seinen Sinn, seine Werte nunmehr in bestĂ€ndiger Anstrengung selbst setzen muss – ist fĂŒr viele Menschen ĂŒberfordernd und begĂŒnstigt das Entstehen von politischen und religiösen Fundamentalismen. Was bleibt, ist eine pluralistische, agonale Wirklichkeit, die gefĂ€hrliche neue „Große ErzĂ€hlungen“ gebiert, die um Hegemonie kĂ€mpfen. Was hat die Theologie dazu zu sagen?
SelbstverstĂ€ndlich sind die Postmoderne und ihre populĂ€re Rezeption verschiedene PhĂ€nomene. Auch ich halte jede Form von „Großer ErzĂ€hlung“, die vom Einzelnen Unterordnung verlangt oder gar mit politischen Macht- und Gewaltmitteln durchgesetzt werden soll, fĂŒr historisch desavouiert. ErzĂ€hlungen ĂŒber den Sinn von Geschichte sind konstitutiv plural und stehen im Konflikt zueinander. Gleichwohl muss sich diese Denkrichtung mit Blick auf ihre Auswirkungen fragen lassen, ob sie mit ihrer fundamentalen Skepsis gegenĂŒber „Großen ErzĂ€hlungen“ und ihrer Pflicht zur permanenten Dekonstruktion nicht auch maßgeblich dazu beigetragen hat, dass sich neoliberale, kulturalistische und nationalistische Ideologien ausbreiten können.
Im Folgenden möchte ich einige Argumente anfĂŒhren, warum man in der Theologie zumindest ĂŒber die Frage nachdenken muss, ob und warum es nicht vielleicht doch „Große ErzĂ€hlungen“ braucht und welchen Kriterien diese entsprechen mĂŒssten, um der postmodernen Kritik zu genĂŒgen. Dies geschieht aus einer pastoraltheologischen Perspektive mit einer Option fĂŒr jene, die postmodernem Denken zum Trotz neue „Große ErzĂ€hlungen“ kreieren. Ich möchte dieses BedĂŒrfnis verstehen und pastoraltheologisch verantwortet darauf reagieren. Ich legitimiere damit weder politische oder religiöse Fundamentalismen noch stimme ich damit in das kirchliche Relativismus-Bashing ein.
ARGUMENTE
Es sind zunĂ€chst meine Forschungen im Kontext von Migration und Urbanisierung, die in mir diese Frage entstehen ließen. So ist z. B. der Ludwig-Wittgenstein-PreistrĂ€ger Walter Pohl der Ansicht, dass die zeitgenössischen Migrationen ĂŒbergeordnete Sinn-Narrative benötigen. In seinen Forschungen zu den „Great Migrations“ (sog. „Völkerwanderungen“) zeigt er die friedens- und ordnungspolitisch positiven Auswirkungen der christlichen ErzĂ€hlung von der Einheit der Völker auf. Ohne dass dies heute in dieser Weise zu wiederholen wĂ€re – mittelfristig hatte auch dieser Narrativ hochproblematische Auswirkungen – ist er dennoch der Ansicht, dass aus historischer Sicht jeder soziale Transformationsprozess Deutungen benötigt, die die EinzelphĂ€nomene in einem Sinnzusammenhang verstehen lassen.
Migrationen und die mit ihnen verbundene notwendige Neugestaltung des sozialen Raumes bedĂŒrfen daher auch aktuell differenzierter Wissens- und hochentwickelter Deutungssysteme: „Ohne eine solche Abstraktionsebene, die es erlaubt, ein gesellschaftliches PhĂ€nomen als Ganzes zu verstehen, ist nachhaltige Problemlösung nicht möglich“ (Pohl, 43). Ohne Meta-Deutungen mutiert die Migrationsthematik zu einer Frage politischen Managements, das (angeblich) ideologiefrei ist – oder zeugt, wie oben beschrieben, politisch gefĂ€hrliche Narrative.
In seinen Überlegungen zu einer Soziologie der modernen StĂ€dte legt auch Zygmunt Bauman einen „Meta-Narrativ“ vor, indem er „die Stadt“ als Ort der „Begegnung von Fremden“ in der „flĂŒssigen Moderne“ charakterisiert. Seine Überlegungen rahmt er zugleich selbstkritisch und ironisch mit zahlreichen Erinnerungen an die „potenziell gefĂ€hrliche Angewohnheit [
], ĂŒber den Zustand der Welt und ihre Entwicklungen vorschnell SchlĂŒsse zu ziehen“ (Bauman, 6) – also postmodern und pluralitĂ€tssensibel. An seinen normativen Überlegungen wird deutlich, wie unverzichtbar eine solche „Gesamtdeutung“ ist, da nur diese deren weltanschaulichen Hintergrund transparent macht und die empiristischen FehlschlĂŒsse verhindert, die man in der Soziologie nicht selten findet, wenn diese ethische oder politische RatschlĂ€ge erteilen.
RÜCKFRAGEN AN DIE THEOLOGIE
Aus historisch und sachlich notwendigen GrĂŒnden ist vor allem in der deutschsprachigen Theologie nach 1945 der Rekurs auf die universale Heilsgeschichte Gottes verstummt, ungeachtet der Wiederentdeckung dieser „Großen ErzĂ€hlung“ durch das Zweite Vatikanum. Zu sehr waren die „Großen ErzĂ€hlungen“ der Kirche geistesgeschichtlich an der Verfolgung, am Ausschluss und an der Ermordung von Millionen Menschen, nicht zuletzt der 6 Mill. Juden, beteiligt. Rudolf Englert stellt deshalb ernĂŒchtert fest: „Die Hoffnung auf einen Gott, der die Geschichte als ganze und die Geschichte jedes Einzelnen zum Guten zu wenden vermag, ist stark erschĂŒttert, teilweise ganz ausgeglĂŒht“ (Englert, 43). Auch wenn dies zutreffen sollte, ist jegliche Restauration heilsgeschichtlicher Theologien, denen man die ZivilisationsbrĂŒche des 20. Jahrhunderts nicht anmerkt, theologisch und ethisch unverantwortbar. Zugleich finden europaweit missionarische Initiativen wie z. B. „Awakening Europe“, die die Geschichte nicht nur ausblenden, sondern Europa fĂŒr das Christentum sogar „rĂŒckerobern“ wollen, kirchlich weiten Zuspruch.
MĂŒssen daher nicht auch wir Theolog*innen uns fragen lassen, ob wir mit der Art unserer theologischen Selbstkritik nicht die Hoffnungslosigkeit der Menschen verdoppelt haben und Antworten auf die Frage nach dem Sinn von Leben und Geschichte schuldig geblieben sind? Missachten wir da nicht ein anthropologisches GrundbedĂŒrfnis? Darf man das biblische Zeugnis, dass Gott der Herr der Geschichte ist, einfach weglassen, weil es gefĂ€hrliche Auslegungen mit sich bringen kann? Wie kann man dieser Spannung zwischen postmodern gelĂ€uterter Theologie, biblischem Zeugnis und menschlichen Fragen pastoral gerecht werden?
DIE BIBLISCHEN NARRATIVE ALS „GROSSE ERZÄHLUNG“?
Der umstrittene Theologe Ton Veerkamp setzt bei der Sehnsucht der Menschen nach einer „Großen ErzĂ€hlung“ an und deutet sie als „Sehnsucht nach einer völlig anderen Welt“ (Veerkamp, 421). „Ich nenne Große ErzĂ€hlung eine von der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder erkannte und anerkannte GrunderzĂ€hlung, in der sie ihre einzelnen LebenserzĂ€hlungen mit erzĂ€hlt wissen, durch die sie einen Platz in der Gesellschaft zugewiesen bekommen und so die gesellschaftliche Grundstruktur mit ihren LoyalitĂ€ten und AbhĂ€ngigkeiten verinnerlichen“ (Veerkamp, 14). Eine solche „Große ErzĂ€hlung“ mache die Welt ĂŒberhaupt erst bewohnbar und sei notwendig, um die Welt tatsĂ€chlich zu verĂ€ndern.
Menschen brauchen ErzÀhlungen, die sie zueinander und mit der Welt in Beziehung setzen.
Veerkamp betrachtet die Sehnsucht demnach nicht als fehlgeleitetes BedĂŒrfnis von postmodern Ungebildeten oder PluralitĂ€ts-UnfĂ€higen, sondern als anthropologische und theologische Gegebenheit. Ich teile weder Veerkamps marxistische Deutung noch seinen funktionalen Gottesbegriff, aber seine Sicht auf den Menschen ist pastoraltheologisch anschlussfĂ€hig. Denn Menschen brauchen ErzĂ€hlungen, die sie zueinander und mit der Welt in Beziehung setzen. Sie sind konstitutiv miteinander verbunden und auf eine gemeinsame Welt verwiesen. Wenn diese Sehnsucht nicht auch von Intellektuellen ernstgenommen wird, werden Menschen eben „Große ErzĂ€hlungen“ erfinden, die Sinn und Orientierung, Zugehörigkeit und Einheit ermöglichen – sei es mit Gewalt gegen andere und auf dem Weg der Unterwerfung unter diese „Idee“ sogar gegen sich selbst. Inspiriert von Veerkamps Auslegungen sehe auch ich die Möglichkeit, sich mit den biblischen ErzĂ€hlungen der Frage nach einer „Großen ErzĂ€hlung“ zu nĂ€hern. Ich lese die Texte dabei praktisch-theologisch, d. h. ich sehe sie als Ausdruck des Ringens von Menschen, in den geschichtlichen Ereignissen, in denen sie sich vorfinden, Sinn und Bedeutung zu finden. Ohne die damit verbundene Lerngeschichte hier im Detail darstellen zu können (ausfĂŒhrlich Polak 2017), lassen sich daraus Kriterien fĂŒr „Große ErzĂ€hlungen“ entwickeln, die postmoderner Kritik ebenso gerecht werden wie der menschlichen Sehnsucht. Exemplarisch seien einige benannt (ausfĂŒhrlich Polak 2018).
Die „Große ErzĂ€hlung“ der Bibel wird konkret in pluralen, konkreten und widersprĂŒchlichen Geschichten von Menschen und Ereignissen.
Die „Große ErzĂ€hlung“ der Bibel wird konkret in pluralen, konkreten und widersprĂŒchlichen Geschichten von Menschen und Ereignissen. Diese sind widersprĂŒchlich, zerfleddert, zerrissen, lassen BrĂŒche erkennen und Fragen offen. Sie lassen sich nicht zu einer linearen Geschichte verallgemeinern. Erfahrungen von Sinnlosigkeit, Leid und Ohnmacht, Scheitern und DiskontinuitĂ€t gehören dazu. Die Einzelgeschichten sind auch kein „Fall“ der einen „Großen ErzĂ€hlung“, sondern das „Ganze“ ist im Teil zur GĂ€nze prĂ€sent. Dieses „Ganze“ wird auch nicht von Herrschern oder Experten von „oben“ verordnet, sondern von „unten“, insbes. von Minderheiten, Marginalisierten, ehemaligen Sklaven und Fremden selbst geschaffen.
Die pluralen Einzelgeschichten, wie sie der christliche wie der hebrĂ€ische Bibelkanon versammeln, haben daher Vorrang und bilden eine Art paradoxen Schutz vor dem Versuch, eine ĂŒbergeordnete „Große ErzĂ€hlung“ explizit zu formulieren. Daher muss sich dieser „Großen ErzĂ€hlung“ auch niemand unterordnen. Die Menschen sind selbst Akteure, indem sie auf dem Weg interpretatorischer Erinnerung Sinn und Bedeutung ihres erzĂ€hlerischen Erbes in einer neuartigen geschichtlichen Situation entfalten. Sie sind gerade nicht Protagonist*innen in einem sich notwendig vollziehenden religiösen und politischen „Parteiprogramm“, dem sie dienen mĂŒssen. Freiheit wird ihnen zugetraut und zugemutet. Das „Reich Gottes“, das die AtmosphĂ€re dieser Geschichte bildet, ist kein „Zustand“, sondern kann, darf und soll von Menschen entscheidend mitgestaltet werden durch und in der Verantwortung fĂŒr die QualitĂ€t sozialer, politischer und religiöser Beziehungen, steht aber nicht in deren VerfĂŒgungsgewalt.
In all dieser Vielfalt aber gibt es durch die Texte hindurch ein „Gravitationszentrum“, auf das sich die Texte auf plurale Weise beziehen: die Beziehung zu Gott und untrennbar damit verbunden der Entwurf einer gerechten Gesellschaftsordnung, an der alle und jeder einzelne Mensch in WĂŒrde, Gleichheit und Freiheit teilhaben sollen. Beides – weder Gott noch sein Gesellschaftsethos – liegen als „Lehre“ oder „Theorie“ vor. Gott ist gerade keine höchste Idee, kein universales Denkprinzip oder lehrhafte Vorstellung, sondern wird als JHWH (ein Verb!) erfahren, als sich stets verĂ€ndernde PrĂ€senz, die den Menschen treu und nahe ist und sich zugleich dem Zugriff entzieht.
Die vielgestaltige und durchaus konfliktive Beziehung zu diesem Gott ist der einigende „rote“ Faden, die „Große ErzĂ€hlung“. Auch der Gesellschaftsentwurf liegt nicht als Ideologie vor, sondern als der jeweils vorgefundenen Wirklichkeit immer wieder auf der Basis der Erinnerung des bereits Erfahrenen und Gelernten neu – in Normen, Gesetzen, Recht – abzuringende, eschatologische RealitĂ€t.
So wird die biblische „Große ErzĂ€hlung“ gemeinsam geschrieben, kommunikativ erstritten, im Leben errungen. Ohne die damit verbundene Praxis der Gemeinden, die sie durchleben, durchleiden und durchstreiten, „gibt“ es sie gar nicht. Sie vollzieht sich als oftmals schmerzhafter „Dialog“ zwischen den Menschen und mit Gott. Sie wird nicht besessen, sondern erhofft, ersehnt, vermisst, erwartet. Sie muss den Erfahrungen von Übel, Leid, dem Bösen immer wieder abgerungen werden. Insofern ist die „Große ErzĂ€hlung“ auch keine „Lehre“ ĂŒber Gottes Wesen oder „die“ Heilsgeschichte, sondern enthĂŒllt die Strukturen der Beziehungsprozesse, in denen Gottes Wirken – als „Liebe“, „Gerechtigkeit“, „Heilung“, „Befreiung“ – erkennbar werden kann.
Die Beziehung zu Gott ist der einigende "rote" Faden.
Die Berufung von Judentum und Kirche besteht darin, diese „Große ErzĂ€hlung“ vor Ort immer wieder praktisch und theoretisch freizulegen, mitzugestalten und voranzutreiben (und dabei mit dem eigenen Scheitern zu rechnen). In der FragmentaritĂ€t dieser Darstellung muss ich hier enden. Die praktisch...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Inhalt
  3. THEMA
  4. PROJEKT
  5. INTERVIEW
  6. PRAXIS
  7. FORUM
  8. NACHLESE
  9. POPKULTURBEUTEL