Exemplarische Leerstellen Ist „Gott“1 ein „A…“?
Zur „Lücke“ ungeschönter alltagsprachlicher Gotteskritik2
Ottmar Fuchs, Tübingen/Lichtenfels
1.Im Kontext des Themas „Lücke“
Die schärfste und vitalste Lücke, der alle Menschen einmal ausgesetzt sind, ist die Lücke, die der Tod eines geliebten Menschen hinterlässt. Dies gilt umso mehr, wenn Menschen viel zu früh aus dem Leben gerissen werden. Die Rücksichtslosigkeit solcher Erfahrung bringt Wut und Schmerz und hinterlässt eine unverzeihliche Lücke. Religiöse Menschen finden hier, grob gesprochen (es gibt immer auch gegenseitige, oft periodische Übergänge) zwei Möglichkeiten: einmal aus solchen und anderen Noterfahrungen heraus vor Gott zu klagen und ihn anzuklagen und zu beschuldigen angesichts dieses so unmotivierten und selbstherrlichen Handelns bzw. Zulassens; zum anderen die im Vertrauen eingeübte Spiritualität, Gott, das Ureigenste der eigenen Religion, unangetastet und unbefleckt zu halten und alles, obwohl es nicht der eigene Wille war, doch ergeben als unerklärbaren Willen Gottes anzunehmen.
Es gibt viele Gläubige, die in ihrem Gottvertrauen so weit sind, sich über alles hinweg oder durch alles hindurch unmittelbar in Gottes Willlen zu fügen: Ergebung ohne Widerstand. Aber es gibt auch viele Menschen, die ihre Wut in die Gottesbeziehung hineinbringen (wollen) und erst durch heftigen Widerstand hindurch einmal zur Ergebung kommen. Diese haben es in den meisten Religionen nicht leicht, weil die offiziellen Frömmigkeitssysteme solche Rebellionen nicht gut aushalten. Viele biblische Texte gibt es, die für diese Menschen Partei ergreifen, in den Anklagen und Beschuldigungen Gottes der Psalmen und vor allem auch bei Hiob.
Ich möchte es im Folgenden diesen biblischen Anteilen gleich tun, unbeschadet meines Respekts jenen gegenüber, denen die Gnade geschenkt ist, sich widerstandslos der Ergebung und der Doxologie zu überantworten.
Je älter ich werde, desto mehr fehlen mir die Menschen, die vorzeitig gestorben sind, desto mehr macht es mich zornig, wenn Menschen leiden müssen. Angesichts dieser Rücksichtslosigkeit gibt es für viele Menschen so etwas wie eine Schonungslosigkeitslücke im Umgang mit Gott, die der Schonungslosigkeit, mit der sie Schlimmes erfahren müssen, entspricht.3 Für sie wird es immer unheimlicher, Gott unbeschadet und unbeschmutzt aus dieser Erfahrung herauskommen zu lassen, als wenn ihm nichts fehlte, wenn uns ein Mensch fehlt. In solchen Augenblicken erweist sich Gott nicht nur als „White Box“ der Religion (wie ein „weißer Riese“ ohne Makel), sondern tatsächlich als „Black Box“, als unerfindlich dunkle Macht im Leben.
Hans-Joachim Sander hat im Horizont der Unmöglichkeit des Menschen und der Menschheit und des ganzen Kosmos, sich selbst zu erlösen, vom Abgesang auf Utopie gesprochen.4 Gott ist auf Lücken gebaut, die prinzipiell nicht zu füllen sind. Dies gilt auch für die Lücken schmerzlichen Verlustes. Analog zu Sander plädiere ich für den Abgesang auf den reinen und unschuldigen Gott. Dieser Abgesang fehlt bislang!
Von vielen Menschen wird diese Lücke als Kälte, als mangelnde Empathiefähigkeit und als mangelnde Solidarität Gottes erfahren. So ist es mir wichtig, um nochmals eine Formulierung Sanders aufzunehmen, dem Glauben und darin Gott etwas anzutun, weil den Menschen so vieles angetan wird und weil sie sich gegenseitig so viel Schlimmes antun. Die Bestätigungsdiskurse bezüglich Gott und des Glaubens werden den entsprechenden Rissen ausgesetzt. Die vielfältig apostrophierten Ruinen im Bereich der Wirklichkeit spiegeln sich dann in einem Gott, der selbst zumindest auch ruinösen Charakter hat. Der klassische Theodizeediskurs, der auf Verteidigung und Bestätigung aus ist, weicht dann einer schonungslos beschuldigenden Auseinandersetzung mit Gott. Auf diese Schonungslosigkeitslücke will ich im Folgenden zugehen, mit der Anleihe an eine besonders deftige Sprachform im Alltag gegen Menschen, die als schonungslos erfahren werden.
Man müsste in Zukunft genauer darüber nachdenken, wie weit die Inkarnation und insbesondere das Kreuzesgeschehen ein Ausdruck und ein Ort ist, wo Gott selbst diese angesprochene Schonungslosigkeit erfährt und sich selbst etwas antut und antun lässt, nicht nur etwas, sondern das Äußerste, und so seine Verletzbarkeit und Verwundbarkeit offenbart.5
Auch dem widerständigen Menschen bleibt am Ende nichts anderes, als die Doxologie, die Gott immer größer und weiter sein lässt als sich selbst, als das eigene Wohlergehen und die eigene Not, als die eigene Klage und Anklage, als die Erde, als den ganzen Kosmos: dies alles nochmals abzugeben an diesen unendlichen unerschöpflichen Gott, und damit zu „rechnen“, dass er uns einmal in einer Weise begegnen wird, die alles umfängt, ohne irgendetwas dabei verloren gehen zu lassen. Doch ohne Widerstandslizenz könnte eine solche Doxologie schnell in der faschistischen Selbstunterwerfung landen, dabei ist sie das genaue Gegenteil davon, nämlich durch die Verschärfung hindurch Gott und seine Unmöglichkeiten und Möglichkeiten weiter sein zu lassen als uns, selbst als unsere schonungslosen Erfahrungen. Es ist die nackte Hingabe an eine Wirklichkeit, der wir uns verdanken und auf deren endgültiges Gutsein wir hoffen.6
Letztlich geht es darum, mit der vulgären Metapher, über die ich im Folgenden spreche, „die Traurigkeit der Gegenwart zu mildern“7. Die vulgäre Sprache ist auch ein „ästhetisches Bollwerk gegen die Dummheit“, wenn sie zum Ausdruck der Selbstachtung derer wird, die Katastrophales an Leid und Ungerechtigkeit erleben müssen.8 Die lästerliche Sprache rettet Authentizität, auch in der Gottesbeziehung. In diesem Kontext will die Blasphemie nicht etwa Gott verkleinern, sondern sie nimmt ihn darin paradoxerweise ernst und beim Wort, „eigentlich“ ein guter Gott zu sein. Diese Art lästerlicher Sprache verspottet nicht die Gottheit Gottes und degradiert sie, sondern erkennt sie an und bringt sie drastisch mit der verweigerten Selbsterniedrigung und der ersehnten Selbstachtung in Konflikt.9 Die Analyse fällt durchaus nicht leicht, weil es sich dabei weitgehend um eine orale Kultur handelt, die allerdings auch in unzähligen literarischen Werken ihren Niederschlag findet. Letzteren Bereich aus dieser Perspektive zu untersuchen wäre ein eigenes immenses Forschungsprojekt.
2.Die Analyse
Schon 2012 wurde ich in einer Verlagsanzeige auf dieses Buch des Philosophen Aaron James10 mit dem Titel „Assholes – A Theory“ (New York 2012) aufmerksam. Ich bin aber wieder wegen anderer Verpflichtungen und Vorhaben davon abgekommen, habe nun die deutsche Übersetzung gelesen und konnte mich an leider nicht wenigen Stellen willkürlicher und unwillkürlicher Assoziationen mit einem bestimmten Gottesbild der Religionen nicht erwehren. James lädt selber zu dieser Art von Reaktion ein: „Die hier vorgestellte Theorie soll so einleuchtend sein, dass Ihnen dabei sofort jemand einfällt […]“11. Mir fielen dabei eben nicht nur Menschen, sondern auch „Gottesgeschichten“ ein, nicht zuletzt auf dem Hintergrund der Frage nach der Verantwortung Gottes nicht nur für das Leid, sondern auch für das Böse.12
Ich denke etwa an Dtn 7,22, wo dem gläubigen Israel eingeschärft wird, keine Gemeinschaft mit den Heiden zu haben, sondern diese lieber zu vernichten bzw. der Vernichtung Gottes zu überlassen, bis hin zu dem Vers: „Er, der Herr, dein Gott wird diese Leute ausrotten, vor dir, einzeln nacheinander. Du kannst sie nicht auf einmal vertilgen, weil sonst die wilden Tiere überhandnehmen und dir schaden.“ Das heißt so viel wie: Gott lässt die Heiden sukzessive am Leben, aber nur aus dem Grund, damit sie nicht als Beute und Nahrung für die wilden Tiere wegfallen, denn dann würden sich Letztere gegen Israel selber richten.
James selbst kommt in seiner Untersuchung nirgendwo darauf zu sprechen, dass auch Gott einen A…charakter haben könnte13, ganz einfach deswegen, weil dieses Wort für diesen Bereich bisher noch nicht benutzt wurde und deshalb auch in seiner empirischen Phänomenologie nicht vorkommen kann. Aber wenn man seine Untersuchung mit ähnlichen Kriterien einmal auf die Gottesgeschichten der Religionen ausgeweitet hat, kann man damit gar nicht mehr aufhören. Und was soll dann daran hindern, nun umgekehrt von der Realität zum Wort gehend (während James vom Wortgebrauch zur Realitätsbeschreibung kommt), dafür den besagten Begriff zu beanspruchen und derart die Phänomenologie zu komplettieren? Etwa für die alte „klassische“ Begründung „Quod licet Jovi non licet bovi!“ (Was Jupiter erlaubt ist, ist noch lange nicht einem Rindvieh erlaubt!)? Schließlich ereignet sich jede Gottesbeziehung im menschlichen Bereich: eine supranaturale gibt es nicht.
Wenn man so will, handelt es sich im Folgenden um einen nachträglichen Sprachgewinn für eine bestimmte kommunikative Realität in den Religionen, die es als solche tatsächlich noch vor dieser vulgären Benennung gibt und schon immer gegeben hat, die aber aufgrund vielfältiger Tabuisierungen und Verheiligungen nicht jene Benennbarkeit erhalten durfte, die ansonsten alltagssprachlich mit solchen Erfahrungen verbunden wird. Diese Lücke in der Erfahrung schmerzlich unbeseitigbarer Lücken gilt es zu „füllen“, nicht antworthaft, sondern indem sie offengehalten werden. Die Leerstellen bleiben unbesetzt. Aber ich möchte sie qualitativer, in diesem Fall vitaler als bisher aufreißen. Eben dadurch, dass sie erlebnisbasierter und deftiger zum Ausdruck gebracht werden können.
Warum religiöse Menschen Gott bzw. Gottesrepräsentanzen ...