RING 1
MINDSET
Fünfzehn Männer und Frauen saßen in einem Halbkreis und schwiegen. Einigen waren die Anstrengungen der vergangenen Tage ins Gesicht geschrieben. Andere saßen entspannt und ausgeruht auf ihren Stühlen.
Viele lächelten freundlich, Anstrengung hin oder her. Nun warteten alle auf das finale Feedback dieses Sicherheitstrainings.
Ich trat in den Halbkreis und sagte: »Das Training mit der Gruppe in der letzten Woche war wesentlich leichter. Die wussten nämlich schon alles.« Einen Moment war Stille, dann brachen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Gelächter aus. Denn tatsächlich war es genau andersherum gewesen. Das wussten auch die Frauen und Männer, die jetzt vor mir saßen. Da jedes Training auch von den Erfahrungen und Erlebnisberichten anderer Teilnehmer lebt, hatte ich hier und dort von anderen Trainings berichtet. Das Training der Vorwoche hatte ich dieses Mal des Öfteren zur Sprache gebracht, einfach aus dem Grund, weil ich nie zuvor zwei derart gegensätzliche Gruppen trainiert hatte.
Die erste Gruppe bestand ausschließlich aus Personen Mitte zwanzig, von denen mehr als zwei Drittel Frauen waren. Alle hatten ein Studium mit sehr guten Noten abgeschlossen und gerade ihren ersten Job angetreten. Sie waren intelligent, schnell im Kopf, interessiert, streitbar und stark in Diskussionen. Die meisten hingen zudem irgendeinem »-ismus« an, also einer der Ideologien, die sie dazu motivierte, in die Welt hinauszugehen, um diese zu einem besseren Ort zu machen. Das Wort »ich« fiel sehr häufig. Was den Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieser Gruppe hingegen fehlte, waren Erfahrungen, von einigen kurzen Praktika im Ausland abgesehen. Jetzt standen sie kurz davor, von ihrem Unternehmen das erste Mal längerfristig ins Ausland entsandt zu werden, überwiegend in Krisenländer. Das war die Gruppe der Neulinge.
Die zweite Gruppe, die gerade lachend im Halbkreis vor mir saß, war in vielen Punkten das Gegenteil von Gruppe eins. Das Alter der Männer und Frauen lag im Durchschnitt jenseits der Fünfzig; der älteste Teilnehmer war Anfang siebzig. Intelligent und schnell im Kopf waren sie auch in diesem Kurs. Sie waren neugierig und Neuem gegenüber sehr aufgeschlossen. Viele hatten irgendwann einmal studiert, aber längst nicht alle. Diese Männer und Frauen hatten lange Jahre Erfahrungen im Ausland gesammelt, teils unter äußerst widrigen Bedingungen. Einige waren bereits in ernster Gefahr gewesen, hatten die Situationen jedoch unbeschadet überstanden. Jetzt standen sie vor der nächsten Entsendung. Das war die Gruppe der Interessierten.
Einige der Unterschiede zwischen den beiden Gruppen waren offensichtlich. Dazu gehörten zum Beispiel das Alter und die Erfahrung. Die einen waren jung und hatten kaum Erfahrung, die anderen waren im Durchschnitt mehrere Jahrzehnte älter und verfügten über sehr viel Erfahrung. Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Gruppen trat jedoch erst im Verlauf der Trainings zutage: Neulinge und Interessierte hatten ein vollkommen anderes Mindset.
Die Männer und Frauen beider Gruppen waren gut auf die Ausreise vorbereitet. Alle kannten ihren lokalen Kontext und die Verhältnisse vor Ort, zumindest theoretisch. Alle würden in sehr herausfordernden Verhältnissen arbeiten: in der Zentralafrikanischen Republik, in Nigeria und im Kongo, im Irak, in Pakistan sowie in Kolumbien und Mexiko. Alle waren sich bewusst, dass in ihrem jeweiligen Zielland Gefahren existierten, die ihnen ersthaften Schaden zuzufügen könnten, bis hin zum Tod.
Doch die Wahrnehmung der Teilnehmer beider Gruppen unterschied sich fundamental. Denn während die Gruppe der Interessierten überwiegend Fragen stellte, hatten die Neulinge vor allem Antworten. Sie wussten zwar mangels Erfahrung nicht, wie die Dinge vor Ort waren. Dafür hatten sie aber sehr klare Ansichten, wie die Verhältnisse sein sollten. Die einen waren neugierig, die anderen teils borniert. Die Interessierten sahen, was war; die Neulinge sahen, was sie sehen wollten.
Besonders deutlich wurde der Unterschied, wenn es um die Frage der Verantwortung ging. Wer ist für die persönliche Sicherheit verantwortlich? Die Neulinge sahen die Verantwortung vor allem bei den staatlichen Behörden, allen voran der Polizei. Dabei standen sie der Institution Polizei zugleich sehr kritisch gegenüber. (Was in vielen Ländern der Welt eine sehr gesunde Haltung ist.) Die Interessierten gaben demgegenüber praktisch einhellig dieselbe Antwort: Für die eigene Sicherheit ist jeder selbst verantwortlich. Und sie waren bereit, diese Verantwortung zu übernehmen.
Damit waren die Interessierten gut aufgestellt, weil sie ein Mindset hatten, das sie schützte oder das sie zu ihrem Schutz nutzen konnten. Den Neulingen hingegen fehlte ein solches Mindset. Noch. Einige der jungen Männer und Frauen hatten sogar ein Mindset, das geeignet war, sie in ihrem Ausreiseland in ernste Schwierigkeiten zu bringen.
Was wir anstreben, ist ein Mindset, das die eigene Sicherheit effektiv erhöht – ein Mindset der Stärke. Ein solches Mindset ist der erste Ring der Sicherheit.
DIE PSYCHOLOGIE DER STÄRKE
Sicherheit beginnt im Kopf. Unser wichtigstes Werkzeug befindet sich zwischen unseren Ohren. Ein sauber kalibriertes Mindset ist die Grundlage für die persönliche Sicherheit, das Fundament, auf dem alles aufbaut. Und die Voraussetzung für die Anwendung der in den folgenden vier Kapiteln beschriebenen Werkzeuge.
Der Begriff »Mindset« bezeichnet hierbei die eigene Geisteshaltung, unsere Einstellungen und Überzeugungen. Ich verwende den englischen Begriff, weil dieser gleich mehrere Bedeutungsebenen enthält, für die wir im Deutschen verschiedene Wörter benötigen würden.
Unsere Haltung hat einen direkten Einfluss auf unsere Sicherheit. Ein Mindset der Stärke trägt dazu bei, die eigene Sicherheit effektiv zu erhöhen, ob zu Hause oder im Krisengebiet. Ein solches Mindset funktioniert in etwa wie eine Antivirussoftware. Eine gute Software hilft dabei, Angreifer frühzeitig zu identifizieren und unschädlich zu machen. Mit einer schlechten Software hingegen fühlen wir uns sicher, sind aber nach wie vor verwundbar. Angreifer bleiben unentdeckt, die Fragilität des Systems steigt, ein Absturz wird wahrscheinlich. Es sollte unser Ziel sein, immer aus einer Position der Stärke heraus zu agieren.
Mit einem guten Mindset verändert sich unsere Ausstrahlung. Im Kern geht es darum, kein Opfer sein zu wollen. Wer Stärke ausstrahlt, selbstbewusst auftritt und so wirkt, als wisse er oder sie sich zu helfen, wird weitaus seltener als potenzielles Angriffsziel wahrgenommen als jene, die Unsicherheit ausstrahlen und kein Auge für die eigene Umgebung haben. Ein Mindset der Stärke macht Sie zu einem härteren Ziel für potenzielle Angreifer, wie zum Beispiel für Kriminelle, Terroristen, Stalker oder Sexualstraftäter. Härter deshalb, weil Angreifer meist gezielt nach Opfern suchen, nicht nach Gegnern. Selbstbewusst auftretende Menschen mit dem richtigen Mindset wirken jedoch wie Gegner. Also suchen sich Angreifer lieber ein leichteres Ziel, ein weiches Ziel: Menschen mit der Ausstrahlung eines Opfers.
Ein weiteres Merkmal eines Mindsets der Stärke ist, dass wir proaktiv und präventiv handeln. Wer agiert, führt. Wer reagiert, folgt. Proaktiv zu sein bedeutet, dass wir das Spiel zwischen Opfer und Täter so weit wie möglich bestimmen wollen. Stark ist, wer Optionen hat. Wir wollen potenzielle Angriffe nach Möglichkeit verhindern, indem wir auf dem Radar von Tätern gar nicht erst als Ziel auftauchen. Wo das nicht gelingt, sollte es unser Bestreben sein, mögliche Angriffe bereits frühzeitig zu erkennen und diesen durch die richtigen Handlungen oder Unterlassungen unbeschadet zu entgehen. Dabei helfen uns die in den folgenden Kapiteln beschriebenen Werkzeuge.
Das angestrebte Mindset der Stärke setzt sich aus drei Komponenten zusammen:
• Wissen: Wir kennen die Bedrohungen im jeweiligen Kontext.
• Verantwortung: Wir übernehmen die Verantwortung für unser Handeln.
• Wahrnehmung: Wir schauen den Tatsachen ins Auge und sensibilisieren unsere Wahrnehmung.
Wissen, Verantwortung und Wahrnehmung: Jeder Einzelne dieser Pfeiler hilft, das eigene Mindset neu zu justieren. Seine volle Kraft entfaltet dieses Mindset, wenn alle drei Komponenten zusammenwirken.
WISSEN: DIE BEDROHUNGSLAGE KENNEN
Der erste Pfeiler eines Mindsets der Stärke ist Wissen. Wissen bedeutet hier erstens, um die Existenz von Bedrohungen zu wissen und die Existenz dieser Bedrohungen zu akzeptieren. Alle Bedrohungen zusammen ergeben die spezifische Bedrohungslandschaft eines Ortes. Üblicherweise ist die Bedrohungslandschaft an den meisten Orten dieser Welt multidimensional, es existieren also meist mehrere Bedrohungen parallel und sie verändern sich dynamisch.
Wissen bedeutet zweitens, die Quellen dieser Bedrohungen zu kennen, also die potenziellen Täter benennen zu können. Das sind die sogenannten Bedrohungsakteure. Je nach Kontext können das Kriminelle, Terroristen, Spione, Stalker oder Sexualstraftäter sein. Dabei ist es nicht nur wichtig zu wissen, wer die Täter sind. Noch wichtiger ist es zu verstehen, wie die Angreifer in der Praxis konkret handeln: Wie gehen Kriminelle in Saõ Paulo vor? Welche Ziele greifen Dschihadisten in der Sahelzone bevorzugt an und wie gehen sie dabei konkret vor? Wie sieht der Modus Operandi von Linksextremisten in Berlin aus, und unter welchen Umständen bin ich ein mögliches Ziel?
Zwei Modelle haben sich in der Praxis als nützlich erwiesen, um das Vorgehen von Tätern aller Art und die Beziehung zwischen Täter und Opfer zu verstehen und das eigene Verhalten darauf einstellen zu können: erstens der feindliche Angriffszyklus und zweitens das Dreieck der Kriminalität.
Der feindliche Angriffszyklus ist ein Modell, das die zur Planung und Durchführung eines Angriffs notwendigen Phasen und Schritte in logischer Abfolge darstellt. Wann immer Kriminelle, Terroristen, Spione oder sonstige Täter einen Überfall, eine Entführung, einen Anschlag oder eine Operation planen, durchlaufen sie dabei diesen Zyklus. Ich habe diesen Prozess bereits in meinem Buch »Terrorismus – wie wir uns schützen können« beschrieben, dort in seiner terroristischen Variante.
DER FEINDLICHE ANGRIFFSZYKLUS
Der feindliche Angriffszyklus besteht aus fünf Schritten, die zusammen eine Tat ausmachen:
1. Auswahl des Ziels
2. Planung und Vorbereitung
3. Durchführung
4. Flucht
5. Profit
Nicht alle feindlichen Angriffe folgen dieser Lehrbuchversion des Angriffszyklus in allen Details. Einzelne Phasen können stark verkürzt oder sogar ausgelassen werden, entweder weil die Tatvorbereitung einen bestimmten Schritt nicht erfordert oder weil Täter diese mangels Kompetenz oder Vorsicht schlicht auslassen. Die jeder feindlichen Tat zugrunde liegende Logik der Vorbereitung und Durchführung bleibt jedoch immer bestehen.
Der feindliche Angriffszyklus folgt dem Gedanken, dass Täter in der Regel logisch agierende Individuen sind, die während der Planung und Durchführung einer Tat bestimmten Denk- und Verhaltensmustern folgen. Eine Ausnahme stellen Täter dar, die massiv unter Drogen stehen oder psychisch beeinträchtigt sind. Zu einer auf Logik basierenden Tatvorbereitung gehört auch eine fortlaufende Risikoabwägung im Sinne einer Kosten-Nutzen-Rechnung: Bei welcher Tat und unter welchen Umständen und bis zu welcher Schwelle ist das Risiko für den Täter noch akzeptabel und ab welcher Schwelle nicht mehr? Solche Überlegungen bestimmen letztendlich Art und Umfang der Tat. Die Täterperspektive einzunehmen ist ein erprobte Technik, um den feindlichen Angriffszyklus und auf diese Weise das Denken und Handeln von Tätern zu verstehen. Der Zyklus zeigt, dass die Planung und Durchführung feindlicher Angriffe nicht auf mysteriösem Geheimwissen beruht, sondern einem einfachen Muster folgt.
Der feindliche Angriffszyklus
Die fünf Phasen des Angriffszyklus sind weitgehend selbsterklärend. In Phase 1 geht es um die Auswahl eines geeigneten Ziels. Terroristen prüfen infrage kommende Anschlagsziele; Spione suchen Zielpersonen, die für eine Anwerbung als menschliche Quelle geeignet erscheinen; Taschendiebe suchen zum Beispiel nach unaufmerksamen Menschen mit Rucksäcken. Es ist wichtig zu verstehen, dass Täter in dieser Phase in der Regel immer mehrere Ziele prüfen, um dann das geeignetste Ziel auszuwählen. Dieser Schritt umfasst daher erste Aufklärungs- und Beobachtungsmaßnahmen.
Die Auswahl eines konkreten Ziels hängt von mehreren Aspekten ab: den Fähigkeiten, also den Ressourcen und der Motivation des Täters oder der Täter, dem angestrebten Ergebnis und dem Kosten-Nutzen-Verhältnis. Der Täter oder die Täterin fragt sich also, wie er oder sie den größtmöglichen Erfolg bei einem gleichzeitig möglichst geringen Risiko haben kann. Je günstiger dieses Verhältnis dem Täter oder der Täterin erscheint, desto gefährdeter das Ziel.
Ziel und Modus Operandi bedingen sich dabei gegenseitig. Täter mit eingeschränkten Fähigkeiten haben vielleicht nur eine Masche, die sie beherrschen. Das gilt vor allem bei Kleinkriminellen, Taschendieben etwa. Hier bestimmt die festgelegte Vorgehensweise die Auswahl des Ziels. Täter mit einem breite...