1. Reizwort Gender: ein Problemaufriss
Einerseits: der kirchliche Vorwurf der Gender-Ideologie
Innerhalb der katholischen Kirche gibt es eine Reihe von Stimmen, die vor der Gender-Ideologie warnen. Kritik kommt nicht nur von einzelnen Bischöfen, sondern von ganzen Bischofskonferenzen, so von den polnischen, slowakischen, ungarischen, kroatischen und norditalienischen Bischöfen. Benedikt XVI. hatte sich 2012 dezidiert von der Gender-Ideologie abgegrenzt,1 desgleichen tat dies 2014 die römische Bischofssynode.2 Ein Jahr zuvor forderte das Forum deutscher Katholiken die Teilnehmenden des Kongresses „Freude am Glauben“ sowie die deutschen katholischen Bischöfe auf, gegen die für die deutsche Gesellschaft verheerende Gender-Ideologie zu protestieren, und wandten sich in einer eigenen Resolution gegen Gender-Vorgaben in Bildungsplänen.3 Zu den prominentesten Stimmen des Forums zählte die katholische Publizistin Gabriele Kuby mit ihren Schriften.4 „Kirche in Not“, ein katholisches Hilfswerk päpstlichen Rechts, vertreibt nach wie vor die Broschüre „Gender-Ideologie“,5 um vor den Gefahren von Gender zu warnen. Im Herbst 2016 titelten sowohl die Süddeutsche als auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung in Bezug auf Papst Franziskus: „Papst verurteilt Gendertheorie“6. Der Anlass war in gewisser Weise kurios: Der Papst zitierte einen französischen Familienvater, dessen Sohn auf die Frage, was er später werden wolle, geantwortet habe: ein Mädchen! Franziskus führte dies darauf zurück, dass in den Schulbüchern die Gendertheorie gelehrt werde.
Andererseits: Selbstverständlichkeit von Gendertheorien in Kirche und Theologie
Auf der anderen Seite macht Papst Franziskus in „Amoris laetitia“ auf eine Unterscheidung aufmerksam, die für den Genderansatz konstitutiv ist (vgl. Kap. 2): „Man darf nicht ignorieren, dass das biologische Geschlecht (sex) und die soziokulturelle Rolle des Geschlechts (gender) unterschieden, aber nicht getrennt werden (können).“7 Später konkretisiert er: „Ebenso wenig darf man übersehen, dass in der Ausgestaltung der eigenen weiblichen oder männlichen Seinsweise nicht nur biologische oder genetische Faktoren zusammenfließen, sondern vielfältige Elemente, die mit dem Temperament, der Familiengeschichte, der Kultur, den durchlebten Erfahrungen, der empfangenen Bildung, den Einflüssen von Freunden, Angehörigen und verehrten Personen sowie mit anderen konkreten Umständen zu tun haben, welche die Mühe der Anpassung erfordern.“8 Der Papst selbst setzte als Apostolische Visitatorin für die Franziskanerinnen der Immakulata in Rom Marinella Perroni ein, Neutestamentlerin an der Benediktinerhochschule Sant’Anselmo in Rom und ausgewiesene Gendertheologin.
Die Rede von Gender und die Beachtung von Gendertheorien haben mittlerweile ihren festen Ort in der Kirche sowie in der theologischen Forschung und Lehre. Die Arbeitsstelle für Frauenseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz und die Kirchliche Arbeitsstelle für Männerseelsorge und Männerarbeit in den deutschen Diözesen gaben 2016 gemeinsam einen Flyer mit dem Titel „Geschlechtersensibel: Gender katholisch gelesen“9 heraus, der einen Beitrag zu mehr Sachlichkeit in der Diskussion leisten und zugleich mehr Chancengerechtigkeit zwischen Frauen und Männern will. Gendermaßnahmen werden im Zuge von Gleichstellung in kirchlichen Verbänden, insbesondere in Frauen- und Jugendverbänden, sowie in den Ordinariaten etabliert, mit Wissen, Zustimmung, Aufforderung oder zumindest Duldung derjeweiligen Bischöfe. Genderfragen und -themen sind an den Universitäten kein schmales Spezialforschungsgebiet, sondern in die verschiedenen Disziplinen und in den allgemeinen theologischen Wissensbestand eingegangen. Genderstudien und theologische Geschlechterforschung sind Gegenstand universitärer Curricula und Prüfungsordnungen. Eigene Arbeitsstellen für „Theologische Genderforschung“ wurden an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Bonn sowie für „Feministische Theologie und Genderforschung“ an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Münster eingerichtet.
Ein Widerspruch? Ausdruck eines tiefen Grabens zwischen konservativen und progressiven Strömungen innerhalb der Kirche? Ein Zeichen dafür, dass die „Genderitis“ auch die Kirchenleitungen erfasst hat? Und nun auch noch Klara von Assisi? – Oder aber ein Signal dafür, dass kirchliche Vertreter und Institutionen sensibel geworden sind für die Bedeutung von Geschlecht? Dass auch kirchen- und ordensgeschichtliche Betrachtung und Forschung aufmerksam sind für die damit verbundenen Differenzierungen? Vor allem aber ist zu fragen: Ist die Beachtung von Gender notwendigerweise Ideologie? Oder kann Gender, wie jede Weltanschauung, potentiell zwar zur Ideologie werden, ist dies aber keineswegs per se und immer? Ist umgekehrt womöglich die harsche Kritik an der Gendertheorie selbst Ausdruck von Ideologie? Und welches sind die wesentlichen theologischen Gründe für ihre Ablehnung?
Gründe und Argumente der gegenwärtigen Genderkritik
Es ist ein ganzes Bündel von Argumenten, das die Genderkritiker ins Feld führt. Ihr Kern ist die angeblich falsche anthropologische Grundentscheidung, die sich mit Gender verbinde und zu einer anthropologischen Revolution führe. Ihre tiefe Unwahrheit bestehe darin, dass damit bestritten werde, dass der Mensch eine von seiner Leibhaftigkeit vorgegebene Natur hat. Diese Natur werde geleugnet, ebenso, dass sie ihm nicht vorgegeben ist, sondern dass er selber sie macht. Mit der postulierten Leugnung der durch die eigene Leiblichkeit „vorgegebenen Natur“ gerät die Kategorie Gender unter das Verdikt des „Widernatürlichen“. Wasser auf die Mühlen war beim Grand Prix d’Eurovision 2014 der Auftritt des homosexuellen Transvestiten Thom Neuwirth als Conchita Wurst mit Frauenkleidern und Vollbart. Wo das Geschlecht beliebig wählbar und letztlich „wurst“ erscheint, entsteht der Eindruck, dass der christlichen Anthropologie der Abschied erteilt werde. Die Folge sei die Leugnung des Schöpfungsglaubens, des Schöpfergottes und der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Denn wo die Freiheit des Machens zur Freiheit des Sich-selbst-Machens wird, wird der Schöpfer selbst geleugnet und damit zugleich auch der Mensch als göttliche Schöpfung und Ebenbild Gottes. Im zwischenmenschlichen Bereich – auf der Ebene der Horizontale – führe die Gender-Ideologie zur Leugnung der Unterschiede zwischen Mann und Frau sowie zur Verunglimpfung und Zerrüttung von Ehe und Familie, zu der konstitutiv Vater, Mutter und Kind(er) gehörten, damit der Begriff der Familie erfüllt werde. Bereits 2004 hatte die Kongregation für die Glaubenslehre jede Nivellierung der „natürlichen“ Unterschiede zwischen den Geschlechtern verurteilt und dem „Genius der Frau“ Fürsorge und Mütterlichkeit zugeschrieben.10 Es fällt auf, dass besonders Bischöfe und Bischofskonferenzen aus Ländern, die einen langen Kampf gegen Sozialismus und Kommunismus geführt haben, die Gender-Ideologie als deren festen Bestandteil sehen und ihr einen Angriff aufdie gesamte Gesellschaftsordnung bis hin zum Eintritt für Euthanasie und Eugenik unterstellen. Gender – die Quelle allen Übels? Trifft die skizzierte Kritik den Ansatz und die Intention des Begriffs Gender und auch der Genderstudien? Oder wird hier ein Zerrbild gezeichnet, von dem sie sich abgrenzt, gar ein Phantom aufgebaut, das bei genauem Hinsehen in sich zusammenfällt?
Gender als Analyseinstrument: notwendige Klärungen
Die Unterscheidung von biologischem und sozialem Geschlecht
Das englische Wort gender lässt sich im Deutschen wiedergeben mit „Geschlecht“. Im Unterschied zum biologischen Geschlecht, das im Englischen mit sex bezeichnet wird, steht das englische Wort gender für das soziale Geschlecht bzw. für Geschlecht als eine sozial und kulturell vermittelte Kategorie. Denn Geschlecht beinhaltet auch die jeweiligen Geschlechtsrollen, die ein Mensch einnimmt, geschlechtsspezifische Attribute, mit denen er bzw. sie sich umgibt, und auch geschlechtertypische Klischees. So kann eine Frau, von ihrem biologischen Geschlecht her weiblich, verschiedenste Geschlechtsrollen einnehmen: als Mutter, als Alleinstehende, als Ordensfrau, als Berufstätige oder als Nicht-Berufstätige; sie kann als Frau diskriminiert werden oder emanzipiert auftreten; sie kann als Frau in ihren Möglichkeiten eingeschränkt sein oder kann alle Möglichkeit haben, sich selbst zu verwirklichen und frei zu entscheiden; sie kann unterdrückt sein oder selbst über andere Macht ausüben und sie unterdrücken. Ist sex als biologisches Geschlecht mit der Geburt gegeben, wird gender durch Sozialisationsprozesse, Rollenzuschreibungen und kulturelle Normen erworben. Sex ist darum von gender zu unterscheiden, jedoch nicht völlig zu trennen, wie der Papst richtig konstatiert. Auch neuere biologische Ergebnisse machen die Notwendigkeit dieser Unterscheidung geltend. Da das Deutsche und auch andere Sprachen die sprachliche Unterscheidung, die das Englische trifft, nicht kennen, hat sich die englische Begrifflichkeit zur Differenzierung eingebürgert. Weil Gender mittlerweile im Deutschen zu einem gängigen Substantiv geworden ist, wird es üblicherweise – und so auch im nachfolgenden Text – großgeschrieben. Dies gilt analog auch für das Wort Sex zur Bezeichnung des biologischen Geschlechts.
Wegbereiterin für die genannte Unterscheidung war die französische Schriftstellerin und Philosophin Simone de Beauvoir mit ihrem 1949 erschienenen Buch „Le Deuxième Sexe“ – „Das andere Geschlecht“ – und der als durchaus anstößig empfundenen These „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es“. Damit lenkte sie, ohne von Gender zu sprechen, den Fokus auf die psychoanalytischen, historischen, sozialen und soziokulturellen Umstände, die das weibliche Geschlechtsverständnis prägen; ein wie auch immer geartetes „Wesen“ der Frau lehnte sie ab. Die explizite begriffliche Unterscheidung von Sex und Gender bzw. gender role begegnet erstmals 1968 bei dem amerikanischen Psychoanalytiker Robert Stoller im Zusammenhang mit seinen Forschungen zur Entstehung von Geschlechtsidentität. Er verstand unter Gender die Geschlechtsrolle, die man spielt, bzw. das äußerliche Verhalten, das man in der Gesellschaft zeigt. Stollers wesentliche Erkenntnis war die Einsicht, dass die Geschlechtsidentität im Wesentlichen ein Produkt gesellschaftlicher Geschlechtszuschreibung ist, das auf sozialen und kulturellen Lernprozessen basiert. Es sollte freilich noch etliche Jahre dauern, bis der Begriff gender größere Verbreitung erlangte. Weltweit wurde er erstmals 1985 auf der Weltfrauenkonferenz in Peking im Zusammenhang mit entwicklungspolitischen Zielsetzungen diskutiert.
In der Vergangenheit war über viele Epochen hinweg die soziale Konstruktion von Geschlecht gar nicht im Bewusstsein und wurde darum auch so gut wie nicht reflektiert. Vielmehr bestimmte weitgehend die Kategorie Sex über die jeweiligen Möglichkeiten, Bildungschancen und den Lebensentwurf von Menschen, wenn etwa die „natürliche Bestimmung“ von Mädchen und Frauen als Ehefrauen, Hausfrauen und Mütter geltend gemacht wurde. Andererseits gab es auch in früheren Epochen in der säkularen Gesellschaft ebenso wie im Raum der Kirche Gegenbewegungen und -strömungen, die sich für die Berücksichtigung von Gender starkmachten, freilich ohne diesen Begriff seinerzeit zu kennen oder zu verwenden, wenn beispielsweise Frauenklöster ausdrücklich als Orte der Frauenbildung und Emanzipation geführt wurden.
Kein „natürliches Wesen“ der Frau
Die Rede von Gender impliziert, dass Geschlecht keine ontologische, al...