Heilige Orte
Wurzeln spiritueller Sehnsucht und ihre Ausdrucksformen in der Gegenwart
Was suchen und finden Menschen an heiligen Orten? Die Frage nach dem Wesen spiritueller Räume und Orte führt zurück in längst vergangene Epochen der Religionsgeschichte. Das mythische Erbe von Orten besonderer Heiligkeit und die Ruinen uralter Heiligtümer erzählen etwas von den innersten Quellen religiöser Intuition, die auch für die Deutung und Gestaltung spiritueller Orte in der Gegenwart von bleibender Bedeutung ist. Peter Schüz
WO DIE GÖTTER WOHNEN: ZUR TOPOGRAPHIE HEILIGER ORTE
Orte von herausragender spiritueller Dichte kannten die Menschen schon vor Jahrtausenden. Im reichen Erbe religiöser Texte und Traditionen ist die Erinnerung bewahrt, dass Offenbarungsereignisse und Begegnungen mit überweltlichen Mächten seit jeher mit heiligen Stätten verbunden worden sind. Zu den bekanntesten jener heiligen Orte, von denen die Religionen erzählen, gehören Berge. Schon Homer wusste, dass die Götter auf einem Berg wohnen und lag damit offensichtlich nicht ganz falsch: Auf der ganzen Welt werden Berge als heilige Orte verehrt und haben ihren Weg in unzählige Legenden gefunden.
Auch die Bibel erzählt von solchen Bergen: Mose und das Volk Israel begegnen Gott auf Horeb und Sinai, immer wieder finden im Alten Testament große Ereignisse, Theophanien und kultische Handlungen im Gebirge statt. Im Neuen Testament steigt Jesus nicht nur für seine bekannteste Predigt, sondern auch bei seiner Versuchung durch den Teufel und seiner geheimnisvollen Verklärung auf einen Berg. Die letzte Nacht vor seinem Tod wacht und betet er auf dem Ölberg, am Tag darauf wird er auf Golgatha gekreuzigt. Schließlich erwarten die Christen seine Wiederkunft am jüngsten Tag auf einem Berg uralter religiöser Sehnsucht: dem Zion.
Doch freilich fanden die religiösen Traditionen der Welt die Nähe des Heiligen nicht nur auf Bergen. Auch Wüsten und Einöden oder die dunklen Untiefen von Meeren und Gewässern tauchen in heiligen Texten als spirituelle Orte der Reinigung, Buße und Gottesbegegnung auf. Götter und Dämonen, Engelwesen und Geister, geheimnisvolle Urkräfte einer ehrfurchterregenden Aura werden mit Orten verbunden, die auf religiöse Menschen in besonderer Weise anziehend wirken oder als ehrfurchterregendes Tabu erlebt werden. In der europäischen Kulturgeschichte sind es vor allem Wälder, Höhlen und Grotten, in deren Dunkelheit und Stille die unheimliche Präsenz des Übernatürlichen lebendig ist.
geb. 1983 in Mainz, Dr. theol., seit 2016 Akademischer Rat am Lehrstuhl für Dogmatik, Religionsphilosophie und Ökumene an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München und Redakteur der Zeitschrift „Kunst und Kirche“.
Was hat es mit solchen „heiligen“ Orten auf sich und was ist der Grund ihrer Verehrung? Traut man den heiligen Texten und Stiftungslegenden, sind es zumeist göttliche Weisungen oder prophetische Handlungen, die aus gewöhnlichen Naturphänomenen wie Bergen, Wüsten und Wäldern heilige Orte machen. Doch dringt man tiefer in die Quellen ein und folgt man der modernen religionsgeschichtlichen Forschung, legt sich eine andere Entstehungsgeschichte nahe. Vieles deutet darauf hin, dass die Verehrung heiliger Stätten oft weitaus älter ist als die dazugehörigen Überlieferungen.
Demnach handelt es sich bei schillernden Erzählungen wie jener von der Gottesbegegnung des Mose am brennenden Dornbusch auf dem Gottesberg (Exodus 3) um die nachträgliche Weihe und legendarische Ausdeutung eines besonderen Ortes, der schon vor Urzeiten als heilig verehrt wurde. Nicht dadurch, dass er mit Schlüsselszenen der Geschichte Israels und mit dem Geschick eines großen Propheten verbunden wurde, machte demnach den Mose-Berg heilig, sondern weil der Berg schon immer ein heiliger Ort war, wurde die Berufung des Mose und die Übermittlung der Gesetzestafeln im Buch Exodus dorthin verlegt.
Natürlich ist dieser Gedanke eine Hypothese, die von Fall zu Fall zu diskutieren wäre. Im vorliegenden Zusammenhang soll es allein um das dahinterstehende Prinzip und die damit verbundene These gehen: Religiöse Menschen beugen nicht deshalb an besonderen Orten das Knie, verhüllen voll Ehrfurcht ihr Haupt und ziehen ihre Schuhe aus, weil ihnen dies ein Priester vorschreibt oder eine heilige Schrift nahelegt, sondern weil es die besondere Aura des Ortes selbst von ihnen verlangt. Die heilige Stätte wird – so die These – intuitiv als heilig erlebt und erkannt, bevor religiöse Texte von jener Heiligkeit erzählen.
Die heilige Stätte wird intuitiv als heilig erlebt und erkannt, bevor religiöse Texte von jener Heiligkeit erzählen.
Der Ort an sich scheint von besonderer Heiligkeit zu sein, die von religiösen Menschen gespürt und dann erst nachträglich benannt, mit Legenden umhüllt und in die Religionsgeschichte eingesogen wird.
Worin besteht jene Heiligkeit eines Ortes? Schon die uralten Quellen und Überlieferungen über heilige Orte stellen besonders die Gefühle von Menschen in den Vordergrund und lassen dabei durchaus ein wiederkehrendes Muster erkennen. Man fürchtet sich und erschaudert, man versucht zu fliehen, hält die eigentümliche, heilige Präsenz des Ortes nicht aus und vermag das Erahnte nicht zu fassen. „Wie heilig ist diese Stätte!“, ruft Jakob nach seinem geheimnisvollen Traum von der Himmelleiter furchterfüllt aus, und gründet am Ort seines Erschauderns das Heiligtum Bet-El (Gen 28).
Menschen spüren an heiligen Stätten eine abdrängende Tabuzone, erleben ihre eigene Fremdheit, häufig sogar Unwürdigkeit und Unreinheit, die nur durch eine besondere rituelle Reinigung oder Weihe aufgehoben werden kann.
Nun könnten die beschriebenen Gefühle der Furcht und des Erschauderns natürlich lediglich Reaktionen auf die ganz natürlichen Gegebenheiten heiliger Orte sein: Berge, Wüsten, Wälder, Höhlen und Meere sind – besonders für Menschen der Antike – lebensfeindliche Orte der Bedrohung, umspielt von rätselhaften Wetterphänomenen und verborgenen Gefahren. Was der Theologe Rudolf Otto in seinem berühmten, vor 100 Jahren erstmals erschienen Buch „Das Heilige“ als „mysterium tremendum“, als schauervolles Geheimnis des „Ganz Anderen“ im religiösen Erleben bezeichnete, ist demgegenüber nochmal etwas Anderes.
Mit der natürlichen Unwirtlichkeit und Fremdheit besonderer Naturorte geht demnach eine Intuition des eigenen Unwertes und eigener Nichtigkeit einher, die tiefer liegt als bloße Höhenangst und Wetterfühligkeit. Otto nannte jene religiöse Urintuition „Kreaturgefühl“ – das Gefühl, restlos und schlechterdings verschieden zu sein von dem Fremden und Verborgenen, das man hier erahnt – das Gefühl Staub und Asche zu sein im Gegenüber zum göttlichen Geheimnis. Wenn diese Spur stimmt, ist es nicht der Naturort selbst, mit seinen natürlichen Gegebenheiten, der zu jenem frommen Erschaudern führt; noch viel weniger sind es magische oder übernatürliche Kräfte und Geister, die hier wirken.
Denn es ist etwas Innerliches, was hier das eigentlich Heilige ausmacht: Die Intuition für die Unterscheidung des eigenen Wesens und der Natürlichkeit des Ortes vom demgegenüber schlechthin Anderen, Überweltlichen, göttlichen Geheimnis. Man könnte dies ein religiöses Unterscheidungserlebnis nennen. Es sind die Gefühle eigener Endlichkeit im Gegenüber zu einer unendlichen, göttlichen Macht, aus denen heilige Orte, aber auch Zaubermächte, Dämonen und Geister geboren werden.
Das Erschaudern heftet sich an Felsen und Schluchten, nistet sich in dunkle Grotten und Wälder ein und wird schließlich von der menschlichen Phantasie umgarnt, mit Legenden umrankt und gräbt sich in das kulturelle bzw. religionsgeschichtliche Gedächtnis auch jener Menschen ein, die den besagten Ort nie betreten haben.
Die religiöse Intuition ist demnach die Quelle des Heiligen und findet in besonderen Orten Gleichnisse, wird dort angeregt oder wiedererkannt, verstärkt oder kultiviert. Ein faszinierender Gedanke, der – wenn er stimmt – auch Folgen für den Umgang mit heiligen Räumen und religiös bedeutsamen Orten in der Gegenwart hat.
RAUM GEWORDENE ORTE DES HEILIGEN: VOM HEILIGTUM ZUM RELIGIÖSEN RAUM
So alt wie die Religion selbst ist auch die Sehnsucht, das dunkle Geheimnis heiliger Orte für sich zu gewinnen, es zu bannen, sich ihm anzunähern. Kaum anders ist die bemerkenswerte Vielfalt an Formen und Traditionen zu erklären, die man über Jahrtausende an heilige Orte herangetragen hat. Raue Wildnis wird zur Kultstätte, zu der man pilgert, an der man betet, opfert, meditiert. Es entstehen „Häuser“ für das Heilige, vom archaischen Heiligtum bis zum kunstvoll ausgestalteten Tempel. Was ursprünglich eine kaum in Worte zu fassende Intuition für das Unfassliche an geheimnisvollen, ungesuchten Anregungsorten war, wird zur Erinnerungsstätte und zum identitätsstiftenden Mittelpunkt einer religiösen Gemeinschaft und ihrer Geschichte.
Dabei versuchen Heiligtümer oft das ursprüngliche Erleben des Ortes nachzubilden und zu bewahren. Tempel und Kultstätten spielen architektonisch mit dem Dunklen und Geheimnisvoll-Undarstellbaren. Ob die gewählten und kultivierten Darstellungsformen dem intuitiv erlebten Heiligen dann tatsächlich angemessen sind, muss die Zeit erweisen. Denn es kann durchaus passieren, dass Heiligtümer und religiöse Räume das namenlose Erschaudern an heiligen Orten zu sehr verzeichnen oder gar verharmlosen. Allzu leicht wird das Heilige banal und gewöhnlich, wenn es in Steine gebannt und in Holz geschnitzt wird.
Der heilige Raum hilft, die im Innern der Menschen erahnte, dämonisch-archaische Kraft des Heiligen auszuhalten.
Das ursprünglich Befremdende, Geheimnisvolle wird vertraut, fast heimelig, rückt an die Menschen und ihre Alltagswelt heran – und kann dabei seinen rohen, archaischen, zuweilen unkontrollierbaren Charakter verlieren.
Die Heiligtümer wandern von den Bergen und Wäldern in die Siedlungen und Städte. Die Kirche in der Mitte des Dorfes wird zum Inbegriff von vertrauter Heimat, sie richtet sich nach den Bedürfnissen der Menschen in ihrer Nachbarschaft. Baustil und künstlerische Ausgestaltung folgen dem Zeitgeschmack, schnell geht es in Debatten zur Kirchenraumgestaltung auch mal um Barrierefreiheit und Toilettenanlagen. Der heilige Raum geht Kompromisse ein. Er hilft, die im Innern der Menschenerahnte, dämonisch-archaische Kraft des Heiligen auszuhalten. Wovor man sein Haupt verhüllte und die Schuhe auszog, wird, wenn man so will, erträglicher, wird von Geistlichen alltagsgerecht verwahrt.
Freilich gab es zu allen Zeiten der Religionsgeschichte Menschen, für deren Geschmack sich diese schonende Vermittlungsvariante heiliger Orte zu weit vom Ursprung entfernt hat. Sie bildeten kräftige Gegenbewegungen: Eremiten und schließlich ganze Klöster suchten immer wieder den Weg zurück zu den rauen religiösen Urstätten in Wüsten und Gebirgen: arm, keusch, fastend, oft auch ungebildet, einsam am Rande der Wildnis.
Eine nicht ganz so radikale Ausdrucksform dieser Sehnsucht ist das Pilgerwesen, das bis heute einen ungebrochenen Reiz gerade auch auf jene religiösen Sinnsucher ausübt, die sich mit dem risikoarmen Kirchenchristentum schwertun. Zumindest für eine gewisse Zeit bricht man hier aus den sicheren Mauern des Bürgerlebens und der Ortsgemeinde aus und sucht, allerlei Beschwerlichkeiten und Ungewissheiten in Kauf nehmend, die Ursprünglichkeit heiliger Orte.
Bereits nach diesen wenigen Überlegungen steht vor Augen, dass die besondere Herausforderung bei der Gestaltung religiöser Räume in einer eigentümlichen Spannung liegt. Sie sind einerseits Räume von und für Menschen, denen sie sprichwörtlich Raum geben. Sie bieten Schutz, stiften Gemeinschaft und werden zu Ermöglichungsorten religiöser Besinnung und Andacht in Gebet und Gottesdienst. Andererseits aber sind sie auch Erben jener geheimnisvollen Orte, an denen sich seit jeher das ehrfurch...