1. Heimat – ein belastetes Wort
Heimat ist ein belastetes Wort geworden. Während Jüngere wieder selbstverständlich über Heimat reden, wissen die Älteren um die verhängnisvolle Geschichte dieses Wortes. Befrachtet durch nationalsozialistische Propaganda, beladen mit Ideologien, die Heimat mit Nationalismus, dem richtigen Stammbaum, Grund und Boden und einer abstrusen Idee von Volk-Sein verbinden, steht das Wort Heimat nicht mehr unschuldig da.
Das gilt heute umso mehr, als rechte Kreise mit ihren geschichtsvergessenen Agitator/-innen wieder anfangen, das Wort Heimat zu missbrauchen. Pegida- und AfD-Leute, Rechtspopulisten und Rechtsradikale wollen erneut und nicht weniger krass und dumm als damals verfügen, wer Heimat haben darf und wer nicht, wer dazugehört und wer nicht. Wer Heimat aber auf irgendwelche von außen definierten Kriterien wie Nation, Religion, Hautfarbe, Geschlecht, Staatsbürger/ -innenschaft reduziert, der hat schon verloren; denn Heimat ist mehr und meint Existentielleres. Heimat und Zuhausesein sind etwas grundlegend Menschliches. Wer also Menschen die Heimat abspricht, der nimmt ihnen etwas von ihrem Menschsein. Auch deshalb muss dem alten und neuen rechtsradikalen Denken umso schärfer widersprochen werden. Heimat hat mit dem einzelnen Menschen, seiner Geschichte, seinem Empfinden, seinen Hoffnungen und seinen Bildern vom Glück zu tun.
Das Buch spannt vor diesem Hintergrund den Bogen und lotet aus, was Heimat bedeutet und warum sie in unserer von Migration, Mobilität und Globalisierung geprägten Welt ein so sehr ersehntes Gut geworden ist. Dazu wird in einem ersten Teil die Sehnsucht nach Heimat in ihren vielfältigen Bildern in den Blick genommen, die wir alle zumindest irgendwie kennen, auch wenn Heimat eher zum unbehausten Ort geworden ist.
Im zweiten Teil werden diese aufgedeckten Facetten von Heimat mit biblischen Figuren und Erfahrungen verbunden. Auch an ihnen wird einerseits deutlich, wie sehr das Ausschauhalten nach Heimat die Menschen seit Urzeiten begleitet. Andererseits machen sie erlebbar, wie Gott uns gerade in diesem Suchen nach Ankommen und einem Daheim selbst zur Heimat werden will, die nicht auf einen bestimmten Ort, eine ausgewählte Zeit oder Sprache begrenzt bleibt, sondern uns überall und ohne jede Vorleistung geschenkt ist.
Die franziskanische Spiritualität wird am Ende als Modell einer Spiritualität entfaltet, die hilft, die eigene Unbehaustheit anzuerkennen, mit der Sehnsucht nach einem Zuhause behutsam und bedacht umzugehen und zugleich das eigene Engagement zu schärfen, auch anderen Heimat zu geben.
2. Unbehauste Heimat – eine andere Anthropologie
Wir Menschen sind Wesen in Raum und Zeit. Uns gibt es nicht abstrakt, im Irgendwo und Irgendwann, sondern nur konkret und geschichtlich, als Frau oder Mann, als diese oder jener. Von daher ist es nicht beliebig, an welchen Orten wir uns aufhalten, in welcher Kultur wir aufgewachsen sind, mit wem wir zusammenleben, welche Alltäglichkeiten wir pflegen und welche Feste wir feiern – kurz: wo wir zu Hause sind. Auch wenn wir nicht in der Vermessung unserer Lebensbedingungen und Lebensmöglichkeiten aufgehen, lässt ein genaueres Zusehen, was Heimat bedeutet, doch eine Ahnung darüber entstehen, wer wir Menschen sind, was uns antreibt und woraufhin wir angelegt sind. Über Heimat zu schreiben heißt also auf gewisse Weise, Anthropologie zu betreiben.
Wenn im Folgenden Heimat in ihren vielfältigen Bildern aufgeschlüsselt und an unseren, nicht selten eingeschränkten Lebensrealitäten gespiegelt wird, dann ist dies auch ein Weg, dem Menschen, seinen Vorstellungen vom Glück und sich selbst mehr auf die Spur zu kommen.
Heimat ist da, wo die Menschen sind, die ich liebe – Von der Sehnsucht nach Verlässlichkeit in zeiten zerbrechlicher Beziehungen
Heimat ist untrennbar mit Menschen verbunden. Für viele gilt, dass sie dort zu Hause sind, wo Menschen auf sie warten, die ihnen wichtig sind. Das ist im Vergangenheitsmodus genauso richtig wie für die Gegenwart. Selbst wenn schon viele Jahre seit dem Auszug aus dem Elternhaus vergangen sind, ist dort immer noch ein Stück Heimat, wo die Eltern leben und die abgelegte Kindheit obendrein in den Wänden hängt. Bei heutigen Beziehungen verhält es sich nicht anders. Gesucht, ersehnt, für das Leben als unersetzbar wichtig erachtet, ist zugleich wohl nichts so unter Druck geraten wie gute und verlässliche Beziehungen.
Mit „ungebügelter Bluse“ willkommen sein
Fragt man Menschen, was für sie Glück bedeutet, dann rangieren an oberster Stelle die Nennungen : Familie, Freund/-innen, Partnerschaft. Das ist bei Kindern und Jugendlichen nicht anders als bei Erwachsenen.1 Noch vor so wichtigen Werten wie Autonomie und Freiheit gelten verlässliche Beziehungen als Inbegriffvon Glück. Das mag in Zeiten, in denen nur die etwas herzumachen scheinen, die jung sind, erfolgreich und über eine Menge Geld verfügen, beruhigen. Zugleich verwundert es, denn nichts ist heute so zerbrechlich geworden wie Beziehungen, Familie und Partnerschaft. Vielleicht liegen die Dinge aber doch näher beieinander.
Immer wieder ist zu sehen, wie sehr gerade der Druck von außen nach einem Ausgleich im Privaten suchen lässt. Zu funktionieren, die To-do-Listen schnell und akribisch genau abzuarbeiten, in Meetings und Briefings mit aller Aufmerksamkeit und Freundlichkeit präsent zu sein kostet Kraft – auch wenn der Job eigentlich Spaß macht. Da braucht es Menschen, bei denen es nicht darauf ankommt, dass jedes Wort gewogen und gefeilt ist, und Freund/-innen, die jede/-n Einzelne/-n auch mit „ungebügelter Bluse“ in ihrer Mitte willkommen heißen.
Wie wichtig es ist, ungefragt, einfach so, sich einfinden zu dürfen, und zwar als eine, die man kennt, beschreibt Reiner Kunze schlicht, aber überaus treffend in einem seiner Gedichte:
„Heimat ist für mich überall dort, / wo ein Mensch ist, / zu dem ich kommen kann, / ohne gefragt zu werden, / weshalb ich da bin. / Der mir einen Tee anbietet, / weil er weiß, daß ich Tee trinke, / und wo ich bei dieser Tasse Tee schweigen darf.“2
Dieses Gedicht ist nicht nur eine Einladung, keine Show abziehen zu müssen, um gern gesehen zu sein, und auch nicht nur ein Hinweis, dass wir da zu Hause sind, wo man weiß, was dem anderen wohl und wehe tut. Die ältere Version dieses Gedichts in „Jasmintee“3 galt in DDR-Zeiten als Erkennungszeichen für Leute, die sich dem Regime gegenüber kritisch verhielten. An die Eingangstür geheftet, wusste jeder sofort Bescheid, ob er drinnen reden und schweigen durfte, wie ihm zumute war, oder ob es sich um Stasi-Terrain handelte. Sich bei Menschen einzufinden, bei denen man sein kann, wie man ist, hatte hier nochmals eine andere Brisanz gewonnen. Es entschied, ob man weiterhin mehr oder weniger unbehelligt leben konnte oder doch irgendwann abgeführt, weggesperrt, eingeschüchtert oder sogar ausgeschaltet wurde.
Work-Life-Balance anders buchstabiert
Gerade diese Erfahrungen vermögen die Aufmerksamkeit für die gegenseitige Abhängigkeit von privatem Daheimsein und öffentlichem Leben zu schärfen.Je mehr das Private zum Ort des Lebens und damit zum Inbegriff von Daheimsein und Heimat wird oder – wie in Kunzes DDR- Zeiten – werden muss, je weniger es auch im Außen der Öffentlichkeit möglich ist, bei mir selbst zu sein und in Verbindung mit den eigenen Lebensquellen, desto größer ist die Gefahr, das Private zu überfrachten und letztlich zu überfordern. Sosehr uns die Beziehungen zu den Menschen, die wir lieben und die uns lieben, zu denen machen, die wir sind, so wichtig ist es für gesunde Beziehungen, den Radius zu erweitern bzw. zu vertiefen. Wer zwei Drittel vom Leben – und mindestens so viel nimmt die Erwerbsarbeit an Zeit und Gedanken ein – ausblenden muss, um dann endlich anzukommen und heimzukommen, stresst das restliche Drittel Zeit und die Menschen, die darin vorkommen.
Aktuelle Trends, wie z. B. deutlicher auf die Work-Life-Balance zu achten, resultieren aus diesen oder ähnlichen Entdeckungen. Was aber können die tun, deren Job es nicht zulässt, weniger zu arbeiten? Work-Life-Balance könnte auch bedeuten, die Zeit, die wir alltäglich verbringen – sei es mit den Arbeitskolleg/-innen, am Schreibtisch, mit Dritten –, aufmerksamer daraufhin abzutasten, wo die Geborgenheit von zu Hause in den Alltagsabläufen zu finden ist, die wir öffentlich, also außerhalb von zu Hause, zubringen. Alltägliches zu unterbrechen, innezuhalten, auch mal humorvoll auf das zu schauen, was gerade läuft, ist eine wichtige Chance, mit sich selbst und den eigenen Lebensquellen in Kontakt zu sein. Nicht umsonst ist Unterbrechung die wohl kürzeste Definition von Religion (Johann Baptist Metz). Zu unterbrechen ermöglicht, die Dinge auf ihren tieferen Grund hin abzutasten, das Innen und Außen, das Private und die vielen Lebenswelten, in denen wir uns aufhalten, darauf abzusuchen, was wirklich wichtig ist, und Ausschau zu halten nach dem, der alles umfängt. Das beruhigt und lässt gelassener werden, auch weil Gott nicht nur dort ist, wo alles gut läuft und sich sicher anfühlt, sondern sich mitten im Leben und das heißt eben auch dort finden lässt, wo das Leben nicht glatt aufgeht.
Heimat ist da, wo man meine Sprache spricht – Von der Sehnsucht, verstanden zu werden
Zu sprechen und verstanden zu werden macht in vielerlei Hinsicht Heimat aus. Nicht nur weil dort, wo man drauflosreden kann und jeder mich versteht, die Welt einfacher ist, sondern auch weil Sprache Ich-Sein und Du-Sein und Wir-Sein und Mensch-Sein ermöglicht.
Wo ich verstanden werde, kann ich mich niederlassen
Es ist eine Szene aus dem Film Almanya.4 Hüseyin hat sich endlich das Geld zusammengespart, um seine Familie nach Deutschland zu holen. Fatma und die Kinder sind mehr als skeptisch, denn anders als in Anatolien ist es doch in Deutschland so kalt. Außerdem sollen die Deutschen dreckig sein, Schweinefleisch und sogar Menschen essen, wie Muhameds Schulfreund behauptet. Als Fatma dann zum ersten Mal in dem Laden an der Ecke einkaufen geht, hört sie nur Wirrwarr auf sich einprasseln. Niemand spricht ihre Sprache und der Verkäufer reagiert unerfindlich komisch, obwohl sie doch – für die Zuschauer/-innen klar verständlich, weil auf Deutsch transkribiert – nur Milch und Brot verlangt. Unweigerlich zum Lachen reizend und doch höchst tiefsinnig spielt dieser inzwischen zum Kult gewordene Film mit dem, was in den jeweiligen Kulturen selbstverständlich ist, für jeden anderen aber befremdend wirkt. Der Sprache kommt dabei eine große Bedeutung zu. Wahrscheinlich schafft nichts so sehr Heimat wie der Klang der nicht umsonst so bezeichneten Muttersprache.
Menschen, die längere Zeit im Ausland gelebt haben, erzählen oft davon, wie sie sich plötzlich von einem Tischnachbarn ins Gespräch verwickeln lassen, obwohl sie sich nie zuvor begegnet sind und auch sonst wohl nicht viel gemeinsam haben, nur weil der andere Deutsch spricht und nach längerer Zeit im ausländischen Sprachgewirr die Melodie vertraut klingt. Kein Wunder, dass sich Geflüchtete, die gerade erst ankommen und sich kaum in alltäglichen Dingen verständlich machen können, geschweige denn das mitzuteilen vermögen, was sie wirklich umtreibt, allein wegen der Sprache ausgeschlossen und fremd fühlen.
Sprache ist Brücke zum anderen und damit in die Welt. Wo die Worte und Gesten nicht einfach im Leeren und Unverständlichen verklingen, wo sie richtig gedeutet und verstanden werden, da passiert mehr als eine Übermittlung von Informationen. Da wird Begegnung möglich und da findet Ich-Sein und Du-Sein und Wir-Sein und Mensch-Sein statt. Sprechen können und verstanden werden ist wie kaum etwas anderes Ausdruck von Menschsein. Cordelia Edvardson, die Tochter der Schriftstellerin Elisabeth Langgässer, die vierzehnjährig nach Theresienstadt und Auschwitz verschleppt wurde, bringt dies angesichts der Grausamkeiten in den Konzentrationslagern unmissverständlich zum Ausdruck. Sie schreibt in ihrem Roman „Gebranntes Kind sucht das Feuer“5 davon, dass dort, wo die Sprache erstirbt, das Menschsein verlorengeht. In den Konzentrationslagern wurde es immer stiller, beobachtet sie. Die Worte, selbst die kleinen, geschweige denn die großen wie „Danke“ oder „Bitte“, wurden den Gefangenen vorenthalten. Und später, als alles vorbei war und sie überlebt hatte, war diese Zeit in den Konzentrationslagern lange ein „Land, das nicht ist“, weil es „das Land der ungreifbaren, unerlösten Angst ohne Sprache und ohne Worte“ geblieben war. Wo aber gesprochen wird, wo Menschen miteinander reden, wo jemandem zugestanden wird, das Wort zu ergreifen, und andere ihm zuhören, da entsteht Heimat. Wenn wir in Deutschland gerade dabei sind, Integrationspakete zu schnüren, und Geflüchteten ermöglichen, Deutsch zu lernen, dann geschieht hier mehr als der Erwerb von Verständigungskompetenz. Wer sprechen kann, der kann sich eine Stimme verschaffen, und wo miteinander zu reden möglich ist, da können Menschen auch leben, sich niederlassen und Heimat finden.
Verstehen braucht Vertrauen
Reden können und verstanden werden bedeutet aber noch mehr, als das gleiche Idiom zu sprechen. Von Blaise Pascal wird folgender Satz überliefert, mit dem er einen Brief an die „ehrwürdigen Väter“ einleitet, wie er die Jesuiten bezeichnet: „Ich habe diesen Brief nur deshalb länger gemacht, weil ich nicht Muße hatte, ihn kürzer zu machen.“6 Pascal bringt damit nicht nur auf den Punkt, dass es oft viel schwieriger ist, sich kurz zu fassen, ein umfassendes Problem prä...